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Das Urteil wird jetzt vollstreckt…

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Der Vorsitzende: „Wie heißen Sie?”

Der Gefesselte nennt seinen Namen.

Der Vorsitzende: „Sie wurden wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt. — Eine Begnadigung ist nicht erfolgt. — Das Urteil wird jetzt vollstreckt.”

Mit dieser Frage und den anschließenden drei Sätzen war die knappe Formalität bei jeder Hinrichtung erledigt. Hinter einem Tische stehend, hatte der Volksgerichtshof den zum Tode Verurteilten in einem einfachen Zimmer erwartet. Nicht ließ erkennen, daß es bereits das Vorzimmer des Todes war. Durch eine kleine, schwarze Eisentüre war der Verurteilte, von zwei Wachebeamten flankiert, eingetreten. Der Blickfang war für ihn der Präsident. So konnte er nicht sehen, daß sechs schwarzgekleidete Männer hinter einem Vorhang hervorgetreten waren und sich hinter ihn gestellt hatten. Aber nun war da Sfichwort gefallen:

„DAS URTEIL WIRD JETZT VOLLSTRECKT I’ Ueber die Augen des Opfers legte sich von rückwärt eine Hand, links und rechts packten kräftige Hände zu, im Laufschritt ging es, nach schneller Beiseiteschiebung eines Vorhanges, durch eine offene Türe in einen waschküchenähnlichen Nebenraum, und schon hallte durch das Gerichtszimmer und weithin durch den Korridor des Armensündertraktes der dumpfe Aufschlag des niedersausenden Fallbeils. „Man hört sie direkt sterben”, murmelte einmal ein bereits Gefesselter an meiner Seite, als er, schon auf der Schwelle seiner Zelle stehend, darauf warten mußte, bis sein Vordermann die Todes maschine wieder freigegeben hatte.

Als das Stichwort: „Das Urteil wird jetzt voll- treckt” an einem einzigen Abend zum vierzigsten Male gefallen war, war der Titel der vorliegenden Aufsatzreihe — Teil eines größeren Manuskripts, das einmal als Buch erscheinen soll — gefunden.

Vierzigmal war die Zeit eines menschlichen Lebens in den Schoß der Ewigkeit gesunken. Die wievielten waren diese Vierzig? Wie viele werden es noch bis Ende des Krieges sein? Wie viele werden es nach dem Ende des Krieges noch sein? Aber, sind nicht wir alle eigentlich zum Tode verurteilt? Werden nicht wir alle und alle unsere Freunde, mit unserer Lust und unserem Schmerz, mit unserer Leidenschaft, mit unserem Glück und mit unserer Trauer, einmal ganz stille sein im Schweigen des Todes?

Im Schweigen des Todes? Neini Auch das Schweigen des Todes ist gebrochen zum Zeichen dafür, daß überhaupt seine ganze Macht gebrochen ist, seitdem ein menschliches Gericht auch über den Angeklagten mit der Dornenkrone das Urteil sprach: „Er ist des Todes schuldig!” Wenn es in diesen Aufsätzen, fernab von jeder Politik, fernab vom Unterschied der Konfessionen, fernab von jeglicher Tendenz und Propaganda, nur um das eine geht: um die letzte Auseinandersetzung des Menschen mit Gott, dann rufen meine Worte den Lesern zu: „Kommt, und brecht mit mir im Namen des Auferstandenen das eisige Schweigen des Todes! Vervielfältigt Seine Niederlage, die Er auf Golgotha empfangen hat!”

Meine Berufung durch den Hühnerdieb

„Morgen früh findet die Enthauptung eines evangelischen Verdunkelungseinbrechers statt. Wir bitten dringend, für heute abend, 18 Uhr, um das Erscheinen eines Seelsorgers, da um diese Zeit dem Verurteilten die bevorstehende Vollstreckung bekanntgegeben wird. Der betreffende Herr hat sich dann dem Delinquenten, über feinen, llfälligen Wunsch, bis zum Vollzug der Hinrichtung zur. Verfügung zu stellen.”

Das war der Inhalt der an mich ergangenen telephonischen Meldung der Strafvollzugsbehörde am 16. März 1942. Der letzte Stadtmissionär, der den Dienst in den Wiener landesgerichtlichen Gefängnissen versah, war Ernst Geißler gewesen. Anfang 1942 hatte er gekündigt, und die Stadtmission sah sich nun genötigt, dem Ministerium einen neuen Mann zu nennen. Ich stand damals seit 22 Jahren als Pfarrer der evangelischen Gemeinde Wien-Favoriten im kirchlichen Dienst. Als dem stellvertretenden Obmann der Stadtmission — der Obmann Pfarrer Volkmar Rogier stand im Felde — fiel mir nun die Aufgabe zu, einen neuen Seelsorger für das Landesgericht zu bestellen. Anfragen bei verschiedenen Amtsbrüdern hatten bisher nicht zum Ziel geführt. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich selbst zur Verfügung zu stellen.

Georg N i e t s c h, Maler- und Anstreichergehilfe, geboren am 1. Jänner 1909 in Berlin, 33 Jahre alt, ledig, hatte, unter Ausnützung der Verdunkelung, während eines Fliegerangriffes einen Hühnerstall erbrochen und etliche Hühner gestohlen.

Die lange Kette, die seine linke Hand mit seinem rechten Fuß verband, klirrte heftig, als ihm in der Armensünderzelle der Staatsanwalt den für nächsten Morgen angesetzten Termin der Hinrichtung bekanntgab. Die Frage, ob er einen geistlichen Beistand wünsche, wurde von dem Verurteilten, unter heftigem Kopfnicken, mit einem mühsam hervorgestoßenen „Ja!” beantwortet. Zunächst hatten die Aufsichtsbeamten mit ihm zu tun. Als ich bald nachher die Zelle wieder betrat, hatte er sich soweit beruhigt, daß man mit ihm sprechen konnte. Er hatte hinter einem Tische auf einer Bank Platz genommen. Ich setzte mich an seine linke Seite. Er begrüßte mich mit der Frage:

„Was sagen Sie zu diesem Urteil, Herr Pfarrer? In der Bibel heißt es doch: Wer Menschenblut vergießt, dessen Ölut soll auch durch Menschen vergossen werden. Ich habe doch kein Menschenblut vergossen. Aber meine Richter tun es.”

„Ich wundere mich, Herr Nietsch, daß Sie mich gleich mit einem Bibelspruch empfangen. Kennen Sie denn die Bibel so gut?”

„Ja”, entgegnete er, „ich bin in Berlin erzogen worden, und im Konfirmandenunterricht hatten wir einen Pfarrer, der ließ uns viele Bibelsprüche auswendig lernen.”

„Konfirmiert wurden Sie auch?” gab ich zurück. „Da wissen Sie vielleicht noch Ihren Konfirmationsspruch? “

Er konnte ihn wörtlich sagen: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben” (Offb. 2, 10).

„Herr Nietsch, kennen Sie auch den Spruch des Apostels Paulus: Leben wir, so leben wir dem Herrn …”

Ohne mich aussprechen zu lassen, fuhr er fort: „… sterben wir, so sterben wir dem Herrn, darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn” (Röm. 14, 8).

„Aber, Herr Pfarrer”, ergriff nun der Todeskandidat das Wort, „jetzt werde ich Sie etwas fragen, und nur, wenn Sie mir eine befriedigende Antwort geben können, werde ich Sie bitten, bei mir zu bleiben, sonst können Sie gleich wieder nach Hause gehen.”

„Ja, was wollen Sie denn wissen?” fragte ich gespannt.

„Sie predigen doch, daß Gott allwissend ist. Stimmt das?”

„Ja.

„Sie predigen auch, daß Gott die vollkommene Liebe ist. Stimmt das auch?”

„Gewiß!”

„Dann mußte doch Gott schon bei meiner Geburt wissen, daß ich ein Verbrecher werde, Er mußte wissen, daß mein Leben den Menschen nur zum Schaden gereichen wird, Er mußte wissen, daß ich morgen hier ein blutiges Ende nehmen werde”, und mit wachsender Erregung fuhr er fort: „Er mußte wissen, daß mein ganzes Leben sinnlos und zwecklos sein wird, daß ich ganz umsonst auf der Welt sein werde. Wie konnte Er dieses Wissen mit Seiner vollkommenen Liebe vereinbaren und mich trotzdem erschaffen?”

Ich weiß nicht, wie ich dem Leser den Blick schildern soll, der jetzt auf mich gerichtet war. Ich kann ihn jedenfalls nie mehr vergessen. Es lag alles in ihm ausgesprochen: die Todesangst, die Anklage gegen Gott, die spöttische Gebärde, die zu sagen schien: „Nun habe ich den Pfarrer mundtot gemacht.” Und wiederum eine heimliche, flehentliche Bitte um eine glückliche und annehmbare Antwort. Ich wußte unter dem Blick, der erwartungsvoll auf mich geheftet blieb, zunächst nur das e i n e : Das ist nicht die Frage diese Mannes allein, das ist die Frage aller Gebundenen, aller Mühseligen und Beladenen, aller Gepeinigten, aller Zerbrochenen, das ist die Frage der Dornenkronenträger aller Zeiten und aller Zonen. Dornenkronenträger? — Plötzlich sah ich IHN. Sein Vater mußte doch wissen, daß der Sohn den Heiden überantwortet werden wird, daß sie Ihn verspotten und beschimpfen und bespeien werden, daß sie Ihn geißeln und töten werden. Wie konnte Er dieses Wissen mit Seiner vollkommenen Liebe vereinbaren und trotzdem die Heilige Nacht von Bethlehem kommen lassen? Trotzdem? Ja, trotzdem! Was wäre denn die Welt ohne sie? Was wäre die Welt ohne Christus? Und was ist sie ohne Christus?!

„Herr Nietsch”, konnte ich jetzt mit fester Stimme sagen, „Sie haben soeben das Wort des Apostels gesprochen: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn! Nun, den ersten Teil dieses Worte haben Sie ja nicht getroffen. Dem Herrn haben Sie ja nicht gelebt, das geben Sie ja ganz ehrlich zu. Aber das zweite steht Ihnen nochi’bevor. Wie wäre es, wenn Sie morgen früh ernstmachen wollten mit dem Entschluß: Sterben wir, so sterben wir dem Herrn!? Wissen Sie, was das in Ihrer Lage heißt? Benützen Sie doch die Gelegenheit, die Ihnen Gott jetzt schenkt und lassen Sie sich mit Ihm versöhnen! Sie können in keine andere Hand fallen als nur in dieselbe, aus der Sie gekommen sind. Wenn Sie das treffen, Herr Nietsch, dann haben Sie mir zumindest gerade soviel gegeben als ich Ihnen geben kann. Sehen Sie, Herr Nietsch, das Leben eines Pfarrers ist sehr schwer, viel schwerer, al Fernstehende ahnen. Er wird arg angefochten. Er hat mit vielen äußeren und inneren Schwierigkeiten zu kämpfen. Wenn einmal ein Mensch in der Stunde der Anfechtung auf den Gedanken kommen könnte, daß seine Lebensarbeit und damit wohl auch sein Leben selbst sinnlos sei, so könnte das ein Pfarrer sein. Und wissen Sie, warum? Wir predigen den Menschen jahraus, jahrein, sie sollen das Gute tun, und sie tun jahraus, jahrein das Schlechte. Kaum haben sie am Sonntag die Kirche verlassen, schon an der nächsten Straßenecke sündigen sie in Gedanken, Worten und Werken, gar nicht zu reden von den Taten, die nicht nur vor Gott, sondern auch vor dem irdischen Richter strafbar sind. O glauben Sie, lieber Freund, auch der Pfarrer hat Stunden der Anfechtung, wo er in seinem chein bar ganz aussichtslosen Kampf gegen da Böse in der Welt und auch in seinem eigenen Herzen, gegen diese Sturmflut von Lüge, Betrug, Neid, Haß und Verbrechen, müde wird, oft sogar sehr müde. Und diese Müdigkeit legt sich dann lähmend auf die Freude an einem Dienst, den ich mir als junger Mensch einstens sp herrlich und schön und gewiß auch viel zu leicht gedacht habe. Aber wenn ich heute Nacht bei Ihnen die Erfahrung machen kann, daß ich Ihnen den Trost der Religion wirklich spenden durfte, daß Sie durch meinen Dienst Gottes Gnade und Barmherzigkeit erlebten, daß Sie am Tische des Heilandes Kraft und Zuversicht und Frieden gefunden haben, Herr Nietsch — schon am nächsten Sonntag wird die Gemeinde es bei meiner Predigt spüren, auch wenn ich gar nichts von Ihnen erzähle. Ich werde vielleicht noch oft verzagte Herzen aufzurichten und traurige Menschen zu trösten haben, noch oft an Kranken- und Sterbebetten stehen, ja vielleicht auch hier noch vielen Menschen den gleichen Dienst wie Ihnen tun und sie auf ihrem letzten Weg begleiten müssen: immer wird der Herr Nietsch mit mir gehen. Auf diese Weise können von den letzten Stunden Ihres Lebens Segensströme ausgehen, die das ganze Unrecht Ihres bisherigen Lebens aufwiegen nach dem Worte der Schrift: Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade viel mächtiger geworden. Können Sie dann wirklich noch behaupten, daß Ihr Leben ganz sinnlos und umsonst gewesen sei? Herr Nietsch, Sie werden in der Ewigkeit erkennen, daß Gott Seine Allwissenheit und Seine Liebe doch miteinander in Einklang bringen konnte, als Er Sie erschuf!”

Die Kette klirrte leise, als der Gefangene sanft mein Handgelenk ergriff: ,,Herr Pfarrer, Sie bleiben die ganze Nacht bei mir!” Meine Bitte an den Wachebeamten, dem Häftling die Kette abzunehmen, konnte erst eine Stunde vor seinem Tode erfüllt werden. So verlangte es die Vorschrift.

Und nun kam ich mit meinem Beichtkind ins Gespräch, mitunter sogar in ein heiteres Gespräch. Er erzählte mir die Geschichte seines Lebens, eine stellenweise traurige Geschichte, die aufs neue erkennen ließ, daß der letzte Täter eigentlich nie ganz allein auf die Anklagebank gehört, daß da noch viele andere sitzen müßten, die irdische Richter allerdings nicht erreichen. Bilder einer Kindheit zogen an mir vorüber, die ein Elternhaus erstehen ließen, wo eine Welgeplagte Mutter die Strenge eines wortkargen Vaters durch eine manchmal zu weit gehende Nachsicht auszugleichen suchte Mancher Bubenstreich wurde mit seinen Erzählungen aus dem Elternhaus zum besten gegeben. Man hatte bei der Geläufigkeit seiner Zunge den Eindruck, als wollte er sich selbst ablenken und die Nähe des Todes wenigstens für Minuten vergessen. Stockte plötzlich sein Redefluß und traten kurze Pausen ein, dann sackte er sichtlich zusammen, und schon glitten wieder die Glieder der an seinem linken Handgelenk befestigten Kette durch die nervös zuckenden Finger der rechten Hand, eine Bewegung, die in stundenlanger Unermüdlichkeit offenbar ganz unbewußt geschah. Teils vielleicht aus persönlichem Interesse, teils auch aus Gründen der Flucht in die Ablenkung, erkundigte er sich auch nach meiner Vergangenheit. Mir kam dieses Interesse an meinem Schicksal sehr erwünscht. Denn nun war mir bei der Erörterung meiner Berufswahl die Gelegenheit geboten, unserem Gespräch zwanglos die seelsorgerliche Wendung zu geben. Ich konnte nun manches Zeugnis von erfahrener Gotteshilfe und Gottesführung ablegen. Er hörte sehr aufmerksam zu. Als ich zu Ende war, bat er mich, ich möchte ihm doch aus der Bibel die Leidensgeschichte Jesu vorlesen. Die Nacht war bereits beträchtlich vorgerückt.

„Gern will ich Ihren Wunsch erfüllen, Herr Nietsch, aber wie Sie wissen, pflegen wir vor dem Bibellesen kurz zu beten oder auch ein Lied zu singen. Und da Sie im Konfirmandenunterricht so viele Bibelsprüche auswendig lernen mußten, kennen Sie bestimmt auch einige unserer schönen Kirchenlieder. Bitte, schlagen Sie selbst eines vor, das wir lesen oder vielleicht sogar singen wollen.”

Prompt erwiderte Nietsch: „In der Karwoche kommt nur eines in Betracht: O Haupt voll Blut und Wunden.”

Und der Mann, der eine Reihe von Vorstrafen hatte, konnte alle zehn Strophen dieses klassischen Passionsliedes auswendig. Wir sprachen die einzelnen Verse wechselweise durch, die beiden letzten: „Wenn ich einmal soll scheiden . ..”, sangen wir gemeinsam. Dann zog an Hand der Bibel der Sohn Gottes mit der Last des Kreuzes durch den Todeskerker. Nach dem Ruf des sterbenden Erlösers: „Es ist vollbracht!”, schaltete ich ein Gebet ein. Dann wandte ich mich wieder meinem Schutzbefohlenen zu:

„Herr Nietsch, Karfreitag und Ostern gehören zusammen. Ich lese Ihnen darum jetzt auch noch die Auferstehungsberichte vor.”

Der letzte dieser Berichte war die Erzählung vom Gange der beiden Jünger nach Emmaus. Nietsch hörte jetzt ein wenig unruhig zu. Die Kettenglieder glitten schneller durch seine Finger. Er hörte die Erzählung nicht zu Ende. Als ich zur Bitte der Jünger kam: „Bleib bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt!”, erhob er sich rasch und rief mit ängstlich flackernden Augen:

„Nein, es will jetzt Morgen werden und der Tag beginnt! Herr Pfarrer, wir dürfen nicht mehr so viel lesen, sonst können wir nicht mehr das heilige Abendmahl feiern.”

Inzwischen war ein zweiter Wachebeamter eingetreten. Die beiden Aufseher richteten uns den Abendmahltisch. Als die Kerzen beim Kruzifix angezündet wurden, kniete Nietsch nieder. Mit halbgeöffneten Augen empfing er den Leib und das Blut des Herrn. Das Vaterunser betete er leise mit. Beim Segen sank sein Kopf tief auf die Brust.

Als er wieder auf der Bank saß, schien er zu schlafen Eine geraume Zeit herrschte tiefes Schweigen. Da hustete einer der Aufseher. Nietsch öffnete riesengroß die Augen, starrte uns an und fragte:

„Wie spät ist es jetzt?”

Da öffnete sich die Zellentüre und einige Beamte der Justizwache traten ein. Sie gingen auf Nietsch zu, der sich erhoben hatte. Die Fangeisen schnappten ins Schloß, mit welchen dem Delinquenten die Hände am Rücken gefesselt wurden. In diesem Moment drehte sich der Gefesselte nach mir um und rief mir mit fester Stimme zu:

„Sterben wir, so sterben wir dem Herrn!” Wenige Minuten später hatte er ausgelitten.

Tags darauf stand ich vor dem Gefangenenhausdirektor Regierungsrat Bauer.

„Nun, Herr Pfarrer, haben Sie schon einen geistlichen Herrn für den ständigen Dienst eines evangelischen Anstaltseelsorgers gefunden?”

„Ich selbst bin dazu verpflichtet worden, Herr Regierungsrat.” ,

„Von wem?” wollte er wissen.

„Von dem gestern hingerichteten Hühnerdieb Georg Nietsch.”

(Die Aufsatzreihe wird fortgesetzt)

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