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Das Urteil wird jetzt vollstreckt...

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Karwoche 1942 — Karwoche 1945 — Karwoche 1957: Grenzpunkte im Strom der Zeit, der aus der Unendlichkeit kommt und in die Unendlichkeit fließt. Fünfzehn Jahre liegen auf dieser abgesteckten Zeitstrecke! Und über ihrem wechselvollen Lauf, über dem Austausch menschlicher Macht von einer Regierung zur anderen, über dem Aufstieg und Abstieg menschlicher Herrlichkeit und Größe — der Ewige, der Unwandelbare, der HERR aller Herren.

Fünfzehn Jahre! Eine große Zeitstrecke im Leben der Sterblichen, weniger als ein Sekundenschlag für den Allmächtigen, von dem der Sänger des 90. Psalms bekennt: Vor Dir sind tausend Jahre wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.

Karwoche 1942. In der Nachtwache vom 16. zum 17. März beruft mich der Hühnerdieb Georg Nietsch in der Armensünderzelle zum Seelsorger der Gefangenen. Ich sitze einem Menschen gegenüber, der bei dämmerndem Morgengrauen in die Ewigkeit eingehen wird. Es gilt, die letzte Nacht seines Lebens zu nützen, um seiner Seele heimzuhelfen. Er stellt zunächst Bedingungen, er fordert einen Gottesbeweis, er klagt über die Sinnlosigkeit seines nun bald zu Ende gehenden Lebens Da läßt mich der HERR im Bemühen des seelsorglichcn Gespräches merken, wie sich der Mann plötzlich von Gott angesprochen fühlt, Gottes Wirklichkeit erlebt im Gericht und in der Gnade und sich in Seine Hände fallen läßt. Und damit ist ihm und mir der Augenblick geschenkt, wo ich zu ihm sagen darf: „Ich werde vielleicht noch oft verzagte Herzen aufzurichten und traurige Menschen zu trösten haben, noch oft an Kranken- und Sterbebetten stehen, ja vielleicht auch hier noch vielen Menschen den gleichen Dienst wie Ihnen tun und sie auf ihrem letzten Weg begleiten müssen: immer wird der Herr Nietsch mit mir gehen. Können Sie dann wirklich noch sagen, daß Sie ganz umsonst in dieser Welt gewesen sind?“ Jetzt erkennt Nietsch, daß er es nun selbst in der Hand hat, die Klage über die Sinnlosigkeit seines verwirkten Lebens ungültig zä msdieay .und leise bitten eine Lippen s „Herr Pfarrer, Sie bleiben die ganze Nacht bei mir!“

„Immer wird der Herr Nietsch mit mir gehen.” Er war auch bei der Niederschrift meiner Berichte wieder da, er begleitete mich auf meinem Weg in die Redaktion der „Furche" und er brachte und bringt immer wieder auch alle anderen mit, die ich dann noch bis 1945 denselben Tod erleiden sah, nicht nur die wenigen, von denen ich in der „Furche" erzählte, sondern alle, alle, die ich bis an die Schwelle der Ewigkeit begleiten mußte. So ist der junge, schwarzäugige Südländer wieder da, mit dem ich nicht reden konnte, weil wir gegenseitig unsere Muttersprache nicht verstanden, der aber unaufhörlich in der Zelle auf und ab ging und andauernd die Melodie des Cavaradossi aus „Tosca" pfiff: „Ich liebte niemals noch so sehr das Leben/" ... Ab und zu machte er eine kleine Pause. Dann stand er immer wieder vor mir still und bohrte seine Blicke tief in ineine Augen. Vielleicht konnte er ihre Sprache verstehen, wenn er schon meine Worte nicht verstehen konnte. Ich vermute es. Denn er lächelte mir dann freundlich zu, -um sogleich wieder seinen Rundgang fortzusetzen:

„ ... Die Stund’ enteilt, nun sterb’ ich in Verzweiflung!

Und liebte niemals noch so sehr das Leben!" ...

Immer wird der Herr Nietsch mit mir gehen. Jetzt sehe ich in seinem Gefolge in voller Lebensgröße den Priester Heinrich Dellarosa. Sei mir gegrüßt, lieber Bruder! Meine Augen ruhen eben auf den letzten Zeilen deines Abschiedsbriefes. Da steht geschrieben: „Wenn Ihr diese Zeilen lest, so segne ich Euch bereits aus der Verklärung, und da will ich nicht viele Tränen sehen." Lieber Bruder Dellarosa, du weißt bestimmt in der Verklärung, daß auch ich von der Kraft deines Segens von oben in meiner Arbeit und in meinen Nöten getragen werde. Ich sehe dich noch immer wie damals, am 24. Jänner, inmitten deiner Schicksalsgenossen, die nyt dir am selben Abend sterben mußten: fünf Mann an der Zahl, darunter auch ein evangelischer Christ. Ich höre dich wieder mit ihnen beten. Du bist frei von Todesangst. Einer liegt auf der Tragbahre, er ist schwer krank, hat Fieber und kann nicht gehen. In wenigen Stunden wird auch er erlöst sein. Du, Dellarosa. kniest an seiner Bahre nieder und stärkst ihn mit seelsorglichem Trost, ln deinem Abschiedsbrief steht der Satz: „Eines möge mein Blut bewirken, daß die beiden Konfessionen einander näherkommen. Beide haben sich unendlich viel zu geben." Und jetzt, als sollte dieser Wunsch besonders unterstrichen werden, legst du deinen Arm auf meine Schulter, und über deinen Vorschlag singen wir beide den Gefangenen das Lied vor: Großer Gott, wir loben Dich. Zuversichtlich klingt unser Gesang:

Heil'ger HERR Gott Zebaoth.

Heil’ger HERR der Himmelsheere,

Starker Helfer in der Not:

Himmel, Erde, Luft und Meere Sind erfüllt von Deinem Ruhm,

Alles ist Dein Eigentum.

Dann betest du laut das Vaterunser, das Ave Maria und den Glauben. Mehrere Stimmen beten mit. Welch eigenartiger Gottesdienst! Priester und Gemeinde vor dem Tor der Ewigkeit stehend und der arme Lazarus auf der Tragbahre in ihrer Mitte. Die sinkende Sonne wirft den Schatten des Fensterkreuzes groß über den Boden. Und das Kreuz verwandelt sich aus einem Sinnbild der Schmach, der Schmerzen und des Todes in ein Zeichen des Segens, des Friedens, des Sieges und der Erlösung ...

Karwoche 1945. Hermann Klepell, Kaplan Dr. Heinrich Maier und der Arzt Dr. Josef Wynal mit noch 14 anderen waren die letzten Todesopfer, die vor dem Einmarsch der Russen im Wiener Landesgericht am 22. März hingerichtet wurden. Hinrichtungen fanden zwar auch nach dem Ende des Dritten Reiches in Wien statt, aber mein seelsorglicher Beistand kam dabei nicht mehr in Frage, da ich vom Dienst der Gefangenenhausseelsorge abgelöst wurde. Meine neuerliche Bestellung zum Gefangenenhausseelsorger erfolgte am 29. November 1951. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, die sich mir hier bietende Gelegenheit wahrzunehmen, dem hochverehrten Präsidenten des Hauses, Herrn Dr. Wilhelm M a 1 a n i u k, für das warmherzige Interesse zu danken, das er dem speziellen Arbeitsgebiet der Seelsorge im Bereiche Seines hohen Änites bekundet, umj'für ąie, objektive’, “gėt’echte Jünd tatkräftige' "Forderunjf' der Belange beider Konfessionen auf dem Gebiete der Gefangenenhausseelsorge. Desgleichen danke ich auch allen Damen und Herren der Justizwache und des Strafvollzüge?. mit Herrn Oberdirektor Wilhelm B o j c z u k an der Spitze, der mir aus der reichen Erfahrung seiner langjährigen Praxis als Fachmann der Exekutive mit Rat und Tat stets hilfreich zur Seite steht, für ihre stets gerne und wirksame Unterstützung des Seelsorgedienstes. In diesen Dank sind aber auch jene Männer eingeschlossen, die ihren schweren Dienst zur Zeit der Hinrichtungen versahen und sich heute teils im zeitlichen, teils im ewigen Ruhestand befinden. Manche unter ihnen haben mir durch ihre menschliche Dienstauffassung erst die Möglichkeit gegeben, den Gefangenen gewisse Erleichterungen ihres harten Schicksals zu bieten. Und da ich schon einmal beim Danken bin, will ich auch den Lesern der „Furche“ für die vielen Zuschriften danken, in denen zu erkennen ist, daß sie das religiöse Anliegen meiner Veröffentlichungen zutiefst verstanden haben. Und wenn ein hochgestellter Mann unter ihnen unter anderem schreibt: „Lassen Sie mich mit dem Dank die noch innigere Bitte an den Herrgott verbinden. Er möge Ihnen die Gnade schenken, daß Sie armen, geplagten Menschen unserer Tage nicht mehr in so tragischen Abschiedsstunden, wohl aber sonst in Not und Leidensstunden des Lebens ein Helfer und Führer sein dürfen zu Gott und Seiner Herrlichkeit“, so gibt uns allen dieser fromme Wunsch die Frage zu bedenken, inwie-

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