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Tagebucli einer Emigration

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1940

Mittwoch, 25. September. Ich muß Paris vergessen, die schönen Jahre, den Frieden, alles, was uns glücklich machte. Es gilt, der Plattheit eines militärischen Jahrhunderts ins Gesicht zu sehen, eines Jahrhunderts, in dem der Stiefel Trumpf ist.

Dienstag, 1. Oktober. In New York. Ich bin es müde, immerzu ich selbst zu sein. Hat einer irgendwann über solchen Trübsinn auch nur ein Wort verloren? Im oberen Teil des Menschenangesichts wohnt der Geist, im unteren die Sinne. Kinn und Kiefer dürfen nie die Stirne unterkriegen. Vom großen Traum der Welt müssen wir ein Teilchen stets im Innersten bewahren und es hegen, vom Traum der unerreichbaren Vollkommenheit.

Donnerstag, 10. Oktober. Schließlich Gefallen an New York gefunden, weil diese Stadt das letzte Band ist zwischen uns und Europa, das man uns geraubt. Sie ist der Berührungspunkt mit dem alten Erdteil. Hinter New York liegt Amerika, mit seinen Wegen, deren keiner nach einem Rom, einem Paris führt — es seien denn Kleinstädte, die sich diese Namen zulegen. In New York aber dringt das Brausen der Städte drüben noch an unser Ohr. Die Fünfte Avenue liegt in der genauen Verlängerung der Champs-Elysees.

Freitag, 11. Oktober. In Suffolk. Gestern abend waren einige Leute da, die von der Zukunft dieses Landes und vom Krieg in Europa sprachen. Viel Begriffsverwirrung, allgemeine Angst vor Hitler. Und doch, sagt einer, wenn Hitler nicht über den Kanal kam, was haben wir diesseits des Atlantik zu befürchten? „Sie sprechen vom Atlantik, wie wir in Frankreich von der Maginotlinie sprachen“, warf ich ein. Es stünde nämlich zu befürchten, der Atlantik sei bloß die Maginotlinie der Vereinigten Staaten, und die Maginotlinie könne gleich der anderen umgangen werden. Möge Amerika nicht einschlafen hinter dieser Barre, die es in Sicherheit wiegt.

1941

Freitag, 21. März. Neulich dachte ich: Ich weiß nicht, wer diesen Krieg gewinnen wird, aber ich weiß genau, wer ihn verlieren wird — nämlich Europa.

Mittwoch, 9. April. Tief betroffen von der Stelle des 102. Psalms, die in der heutigen Messe gelesen wird: „Aruit cor meum quia oblitus sum manducare panem meum“. Die Seele, die sich abschließt, stirbt Hungers — das Herz verdorrt.

Saloniki ist gefallen.

8. Mai. Ich vergaß, ein Gespräch mit Pater D. aufzuzeichnen. Er führt ein Wort über die protestantischen Bekehrungen an: „Der Protestantismus rinnt oben aus, der Katholizismus unten.“ Womit er sagen wollte, daß sich bei den Protestanten die Minderwertigsten dem Atheismus oder Irrlehren zuwenden. Von der Hölle sagte er mir, er stelle sie sich so gut wie leer vor, doch habe die Angst vor der Hölle vielen Seelen zur Befreiung verholfen. Ihm zufolge flamme im Augenblick, da sich die Seele vom Körper löse und das Sein zutiefst zerrissen werde, jäh ein grelles Licht auf: in diesem kurzen Blitzlicht habe sich die Seele für Gott oder das Böse zu entscheiden. „Ist denn“, meinte ich, „ist denn anzunehmen, eine Seele werde sich in einem so gefährlichen Augenblick für den Teufel entscheiden?“ „Nun“, erwiderte er, „gar häufig steht die Wahl infolge langer Sündenangewöhnung nicht mehr frei. Die Seele möchte wohl zu Gott, sie möchte es verzweifelt gern, doch kann sie das befreiende Ja nicht mehr sagen.“ (Könnten wir doch schon heute und alle Tage ja sagen!)

2. Juni. Man hat einen eigenen Namen gefunden für das Chaos, das sich in Europa breitmacht: die neue Ordnung.

5. September. Stundenlang durch die Straßen gegangen, nicht anders als in London, Wien, Neapel oder Rom. Mein Schädel ist wie eine Muschelschale, darin die Hochflut dieser Menschenmassen tost. Auf dem Times Square erlangt das Schauspiel menschlicher Betriebsamkeit eine Art gewalttätiger Un-wirklichkeit. Man fragt sich wirklich, ob denn die Leute wissen, was sie tun. Es nützt gar nichts, ob man rechts statt links oder links statt rechts geht. Köpfe und Leiber werden in der Verkehrsflut ohne ersichtlichen Grund umgetrieben, ohne andere Notwendigkeit als den tiefwurzelnden Drang, das alles solle sich in unablässigem Geschiebe drehen, in völliger Erschöpfung, in der großen menschlichen Erschöpfung.

25. Oktober. Im Juni 1940 merkte ich, das Gebet sei eine Kraft, die genau so unfehlbar wirke wie die Elektrizität, deren Gesetze wir allerdings nicht erforscht hätten. In uns schlummern ungeheure, in den meisten Fällen unbekannte Kräfte. Ach, wenn wir wüßten, wenn wir wollten!

1942

1. Jänner. Beim Durchblättern von Büchern über das Gebet sagte ich mir, das beste Buch über das Gebet läse man kniend, mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen.

14. Februar. Nach Erreichung eines gewissen Alters ist das Leben eine Treppe, die wir rückwärts hinuntersteigen — rückwärts, weil wir nicht sehen wollen.

16. März. Wenn ich fünf oder sechs Tage vergehen lasse, ohne mein Tagebuch zu führen, liegt der Grund in meiner schlechten Stimmung. „Wir leben wie die Gottlosen“, sagt Vivekananda. Wie wahr. Gott friert. Er klopft an alle Türen, wer aber tut ihm auf? Der Platz ist schon besetzt. Von wem? Von uns.

27. März. Las in einer Zeitung folgende Geschichte, die für unsere Zeit bezeichnend ist. Ein deutsches Flugzeug stürzt brennend über der englischen Küste ab. Soldaten eilen herbei. Neben dem fast ausgebrannten Apparat stützt sich ein Bauer auf seine Heugabel und kaut an einem Grashalm. Man fragt ihn, ob sich die Besatzung retten konnte. Antwort: „Einer hat's versucht, herauszukommen aus dem Feuer. Ich hab ihn mit dem Zinken da wieder hineinbefördert.“ (I forked him back in.)

1. März. Stand der Christenheit 1942: englische Kinder, die man von der Küste ins Innere verschickt hatte, werden von Erwachsenen befragt. Sie wollen wissen, was „Christus“ bedeutet. Antwort: einen Fluch (a swearword). Mehr können sie nicht sagen. Christus ist ihnen nur als Schmähwort bekannt. Vielleicht braucht man nach den wahren Kriegsursachen gar nicht weiter, zu forschen, sie sind in Tatsachen wie dieser enthalten.

9. April. Gestern nach Barclay Street gegangen, wo ich die katholischen Buchhandlungen durchforschen wollte. Ein Gefühl der Leere überkam mich, schließlich überfiel mich Schauder. Angesichts dieser grauenhaft langweiligen Bücherhaufen, dieser Andachtsgegenstände, die von einer weit über meine schlimmsten Befürchtungen hinausgehenden Häßlichkeit sind, fragte ich mich, welcher Bezug zwischen all dem Kram und der Religion des Evangeliums herzustellen sei. Das geistige Mittelmaß des Durchschnittskatholiken wird mir wohl stets ein Rätsel bleiben. Vor solcher Geschmacklosigkeit steht man fassungslos, als träte hier die Hand des Teufels sichtbar in Erscheinung. Man kann einfach kein sogenanntes Andachtsbuch aufschlagen, ohne daß einem übel wird davon, was uns der Religion natürlich entfremdet. In den Buden dieser Leute ist Gott wahrhaftig nicht in Seiner Herrlichkeit. Aus allen Stätten, wo sich dieser nichtswürdige Handel breitmacht, ist das Ueberirdische vertrieben.

6. Juni. Den antisemitischen Katholiken ins Stammbuch: glücklich, wer in der Stunde seines Absterbens die Fürbitte einer Jüdin namens Maria erlangen kann ...

20. Juni. Denen, die zuviel lesen, könnte man sagen, Gott werde sie nicht darüber ausfragen, was sie gelesen, und: sie verwechseln das Jüngste Gericht mit der Reifeprüfung.

Mancher Autor zitiert Textstellen, wie ein Krüppel zu den Krücken greift.

1943

16. Jänner. Im „Prediger“ steht dieser Vers, der mir den ganzen Tag durch den Kopf ging: „Gott hat die Ewigkeit in des Menschen Herz gelegt.“ Gestern bin ich in die kleine Kirche der Zweiundsechzigsten Straße eingetreten. Es war neun Uhr abends und die Kirche leer. Gerade nur zwei Frauen, die in einem Winkel miteinander tuschelten, zwei Italienerinnen mit Kopftüchern, und, in der Mitte des Hauptganges, ein Toter in einem Sarg unter schwarzem Tuch. Ich trachtete mir vorzustellen, ich sei dieser Tote — und mein ganzes Leben erschien mir in neuem Licht. Ich war bestürzt, wie wenig wir tun, um zu Gott zu gehen, um uns dem unablässigen Anruf zu stellen.

8. August. Die „New York Times“ vom 5. August veröffentlicht eine Nachricht aus Stockholm folgenden Inhalts: Nach der furchtbaren Bombardierung Hamburgs durch die RAF kommt ein deutsches Flüchtlingskind an die dänische Grenze. Es ist zwölf Jahre alt und trägt zwei Säcke. Die Zollbeamten lassen sie öffnen. Der erste enthält die Kaninchen des Knaben. Der zweite den Leichnam seines zweijährigen Bruders.

11. August. Zuweilen genügt es, zehn Minuten andächtig zu beten, und man fühlt, daß etwas vorgeht, daß die Seele sich vom Körper loszulösen sucht — doch gewaltig ist die Zauberkraft der Phantasie. Den Glauben womöglich bis zum Ende bewahren, wie eine brennende Kerze, um die man den Mantel hält, sie vor dem Wind zu schützen — das ist alles, was wir erhoffen dürfen, doch läßt sich nicht vergessen, daß man mit Sechzehn ganz einfach ein Heiliger werden wollte. Damals machte man es richtig, einzig solcher Ehrgeiz ist anständig.

20. November. Der alte Dichter William Langland sagte etwas, worin ich nicht umhin kann, eine Verurteilung des Puritanismus zu erblicken: „Keuschheit ohne Liebe ist an den Höllengrund geschmiedet.“

1944

6. Juni. Heute morgen kam die Meldung von der Invasion. Zunächst wollte ich meinen Augen nicht trauen, glaubte, die Schlagzeile schlecht gelesen zu haben. Zwischen Trouville und Caen toben Kämpfe. Wir sind gestern nach Washington zurückgekehrt.

3. August. Verbreitete mich über das jüdische Problem und führte das Wort Pius' XI. an: „Geistig sind wir alle Semiten.“ Das Ehepaar Milhaud war zu dieser Vorlesung gekommen und dankte mir nachher, worüber ich tief gerührt war. Sonst aber — welchen Widerhall können wohl die Worte eines Mannes haben, den C. einen „Besessenen“ nennt? Das ist die allgemeine Meinung über Bloy. Da braucht man ihn gar nicht erst zu lesen. Ich habe den Brief Maeterlincks eingesehen, in dem von Bloys Genialität die Rede ist (anläßlich der „Femme pauvre“).

23. August. Heute beim Frühstück sagte eine Frau am Nebentisch, es wäre gut, Paris dem Erdboden gleichzumachen, um dieser lasterhaften Stadt ein- für allemal ein Ende zu bereiten. Die Umsitzenden besänftigten sie sofort mit dem Bemerken, wenn man an die Vernichtung aller lasterhaften Städte gehe, müßte man auch Washington, New York usw. dem Erdboden gleichmachen. Darauf schwieg die Närrin. Was mag in diesem verstiegenen Haß gegen Paris an sinnlicher Entbehrung, jahrelanger Verdrängung, vorenthaltenen Freuden und unerfüllten Wunschträumen stecken! Nicht zum erstenmal stoße ich auf diese Erscheinung im puritanischen Gefühlsleben. „Um der Sünden Europas willen sind wir im Krieg“ ist eine Schlußfolgerung, die in den Reden auch der ruhigsten und bestunterrichteten Leute durchklingt. Man versteht den Amerikaner überhaupt nicht, wenn man sich nicht vor Augen hält, daß er noch in seiner Irreligiosität wie ein religiöser Mensch reagiert. Es ist die alte puritanische Hefe, die da den Teig manchmal noch auftreibt.

6. Dezember. Gestern abend besuchte mich Pater C. Er macht sich Gedanken über die Frage Kunst-Moral, die ich neulich aufrührte, und möchte sie mit Theologen besprechen, sobald wir wieder in Paris sind. Denn die Theologen, meint er, befaßten sich nicht genug damit. Indes, was könnten sie wohl sagen? Die Blume weiß mit der Moral nichts anzufangen, genau so wenig wie das Kunstwerk, das nur schön sein will. Solange es die Moral nicht verletzt, ist auch nichts zu bemerken, aber was will das eigentlich besagen? Mag sein, daß die Venus von Knidos und der Hermes des Praxiteles Tausende von Menschen auf schlechte Gedanken gebracht haben. Sollen darum die griechischen Bildwerke zerschlagen werden? Und was ist es mit dem Einfluß Michelangelos? Ist es seine Schuld, daß der Menschenkörper schön ist, und war es nicht reichlich lächerlich, die ganze Gesellschaft auf dem Jüngsten Gericht in Höschen zu stecken, wie man das zu tun versucht hat? Ich sehe da überhaupt keine Diskussionsmöglichkeit. Der Künstler (ob Maler oder Erzähler) stiftet nahezu unberechenbaren Schaden, bleibt in meinen Augen aber doch unschuldig.

1945

7. Februar. Vor einiger Zeit sah ich in einer New-Yorker katholischen Kirche etwas Eigentümliches. Ein junger Mann und ein junges Mädchen, beide schön, treten ein, beugen vor dem Altar das Knie und knien dann einige Schritte von mir Seite an Seite nieder. In der Kirche sind sehr wenig Menschen. Nach einer Weile wenden sie, immer noch kniend, die Köpfe einander zu und ihre Lippen vereinigen sich. Nach ein paar Minuten ging ich, ließ sie in ihrer Selbstver-sunkenheit zurück. Niemand schien sie gesehen zu haben. Ich kann mir nicht helfen, ich fand das schön. Hätte man sie gefragt, wo die Grenze zwischen Körper und Seele verlaufe, sie hätten wohl geantwortet, daß es keine gibt.

2. März. Die Kirche ist die einzige menschliche Einrichtung, hinter der das Nichts steht.

New York, 13. August. Gestern abend, 9.35 Uhr, gab die Leuchtschrift auf dem Times Square Building die Beendigung des Krieges mit Japan bekannt, und die Menge erging sich in den erwarteten Kundgebungen. Zwei Minuten später war die Nachricht auf demselben Leuchtschild widerrufen, doch die Menge brüllte trotzdem eine gute Weile weiter, aus purer Freude am Brüllen.

24. August. Unsere Kabinen an Bord der „Erikson“ gebucht. Sie ist die frühere „Kungsholm“, die während des Krieges als Transporter eingesetzt war. Wir reisen in knapp einem Monat.

19. September. Auf hoher See. Von seinen Lieben scheiden, ist entsetzlich, ist fast der Tod. Die letzten Worte, die man wechselt, die winkenden Hände, wenn der Zug langsam aus der Halle gleitet — ich kann nicht einmal daran denken und dabei ruhig bleiben. Man sollte nicht Abschied nehmen. An Bord blieb ich in der Kabine, während New York immer ferner zurückwich und im Dunst verschwand.

29. September. Gegen 8 Uhr morgem kommt die französische Küste in Sicht. Sie ist von stumpfem Blau zwischen dem mandelgrünen Meer und dem rauchgrauen Himmel. Das Linde dieser Töne rührte mich, als wär's die linde Süße Frankreichs selbst. Ueber Amerika wölbt sich der Himmel klar und leer, das Meer gleicht einem Edelstein, so hart und strahlend ist es — hat nicht wie liier das duftblaue Zarte, das uns träumerisch stimmt. Le Havre ist entsetzlich: eine große, völlig menschenleere Stadt. Oede, einsturzreife Häuserzeilen. Straßen über Straße», aber keine Menschenseele. Im zerstörten Hafen eine von den Amerikanern behelfsmäßig erstellte eiserne Landestelle. Wir setzten uns um 8 Uhr abends in den Zug und stiegen erst am nächsten Morgen gegen 10.30 aus. Es war kalt, und der Wagen dritter Klasse, in dem wir uns befanden, nicht geheizt. Wenig Platz zum Schlafen: wir drei hatten nämlich fünfundzwanzig Handkoffer und konnten uns nicht ausstrecken. Kein Auge geschlossen. Es kam mir vor, als wären wir die ganze Nacnt durch die Normandie geirrt, vielleicht sogar weiter nordwärts, auf der Suche nach Brücken. Wir versuchten, über alles das zu lachen. Im Morgengrauen flüsterte Marie Blanche: „Wie geht es Ihnen?“ Ich antwortete ebenso leise, ich fühle mich ungefähr siebenhundert Jahre alt und würde mit Vergnügen sterben. Gegen Mittag zum Umfallen müde bei Marie Blanche, Fau-bourg, Saint-Honore.

8. Oktober. Ich habe Gide fast so angetroffen, wie ich ihn verlassen hatte, ich sage: fast, weil fünf schwere Jahre eben doch Spuren hinterlassen. Er drückte mir lang die Hand, ich mußte mich vor ihn hinsetzen. Der Blick ist der gleiche, er spricht den ganzen Menschen aus und ist auf den Bildern nicht recht wiederzugeben, da wird er fast immer zu scharf, wo er eigentlich aufmerksam und abgründig ist. Auf dem Kopf trägt er eine schwarze Mütze, die an die neapolitanischen Fischermützen erinnert. Er spricht von Paris und meint, ich werde hungern und frieren. Er selbst fährt nach Aegypten. Dann fragt er, was ich gemacht habe, und ich erwähne meine Peguy-Uebertragung, aber er lehnt Peguy ab — was nicht immer der Fall war — und findet seine Dichtung schlecht. Gebrauchte er wirklich dieses Wort? Ich glaube schon ... Sagt mir dann, Gabriel Marcel habe ihm, Gide, von seiner Konversion gesprochen, auch von meiner. Eine Irrung seinerseits, doch ich? Ich sage ihm, das sei vollständig richtig, ich hätte mich 1939 konvertiert. Er hört mich schweigend an, schüttelt den Kopf und ruft mir seine „Feindseligkeit“ gegen die Kirche in Erinnerung. Das wisse ich seit langem, doch habe es nichts an meiner Freundschaft geändert. In Amerika hätte ich viel an ihn gedacht. Als Antwort legt er seine Hand liebevoll auf meine und sagt: „Ich wußte es.“

19. Oktober. Nichts deutet darauf hin, daß ich eine Wohnung finden werde. Die Sache wird allgemach recht peinlich. Ich denke vor allem an ihre moralische Seite. Vorige Woche, ich saß gerade im Theater, überfiel mich der Gedanke, daß es mir nicht glücken will, in meiner Geburtsstadt eine Wohnung aufzutreiben, und ich war, für eine kurze Weile zwar, doch sehr empört. Man wird sagen, ich sei unvernünftig. Möglich — es ist mir eben unerträglich, in Paris den einfachen Satz nicht sagen zu können: „Ich gehe nach Hause.“

Aus „Tagebücher, 1928 bis 1945“, Verlag Herold, Wien

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