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Der Engel

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Es ging gegen Mittag, und die Altweibersommersonne brach eben mit goldener Wärme durch den silbrigen Dunst, zu dem sich der in der Morgenfrühe noch schwere zinngraue Nebel schon gelichtet hatte, da langten wir auf dem Schlachtfeld von Taipale an. In diesem Krieg war es nicht noch einmal zum Kampfplatz geworden wie einst während des Winterkrieges. Das Bild war unvergeßlich: der bis in Mannshöhe und darüber hinaus auf die nackten Stämme zerfetzte, gelichtete Wald, eine unabsehbare Versammlung von toten Pfählen ohne grünendes Leben; zu seinen Füßen das vom Granatfeuer um- und umgeackerte Erdreich mit Trichtern und Gräben; die finsteren Schlünde einstiger Unterstände, halb oder ganz eingesunken, von schon leicht gerötetem Preiselbeerkraut und Bärlapp umwuchert; der Boden, wo man ihn vom Gestrüpp entblößt sah, mit winzigen, rostbraunen Eisenteilchen bedeckt, die ihn wie feuchte Torferde erscheinen ließen, doch jeder Handvoll Erde, die man aufhob, ihr schicksalschweres Gewicht verliehen; und dazu eine völlige Stille, die nur noch sichtbar vor Augen geführt schien durch die lautlose Arbeit jener Räumtrupps, die man in der Ferne alte Stellungen erkunden und daraus manches bergen sah, was der Feind, der dieses Schlachtfeld damals in Besitz genommen, nicht hatte anrühren wollen und was wie eine vergessene Saat zwischen dem Ende eines Krieges und dem Beginn eines neuen ein Jahr lang in der modrigen Tiefe geräumter oder unter dem Beschuß zusammengestürzter Stellungen gelegen hatte: die Vermißten. — Nun wurde so mancher von ihnen gefunden.

Und hatten wir uns auf der Herfahrt so manches Mal kopfschüttelnd darüber gewundert oder uns gar mit so etwas wie kreatür-lichem Bangen darüber entsetzt, wie schnell die Erde des Menschen vergaß, so daß weite Strecken einer von der heißen Sonne dieses dürren Sommers versengten Steppe geglichen hatten, die mühelos schnell auch über die letzten Reste der alten karelischen Kulturlandschaft gewuchert war, so bewahrte die Erde doch hier, auf dem Schlachtfeld von Taipale, mit eisiger Schärfe und Unveränderlichkeit, was sich in den neunzig Tagen des Winterkrieges zugetragen hatte. Vor diesen neunzig Tagen war dieser Flecken Erde nur ein Teil jener weiten geschichtslosen Wälder gewesen, deren es genug gab und gibt. Erst die Vernichtung hatte ihn aus dem Schlummer dumpfen Wachstums in eine höhere Zone der geistigen Geographie erhoben. Ja, dies war die — heute erkaltete — Esse der Materialschlacht, auf der im Dezember 1940 das Schicksal der ohnmächtigen, aller materiellen Mittel so erbarmungslos entblößten Front zwischen Ostsee und Ladogasee geglüht worden war. Hier, auf dem östlichen Flügel, wo die finnische Front entlang dem steilen Ufer des Suvanto und des Vuoksen verlief, hatte der Gegner vom andern, hoch abfallenden Südufer her versucht, den an die achthundert Meter breiten Stromlauf zu überwinden, hang-aufwärts zu stürmen und mit einem Durchbruch nicht nur diese Sperrstellung zu überwinden, sondern die Früchte des örtlichen Sieges mit der Umgehung der ganzen karelischen Front nach Nordwesten und Nordosten hin zu ernten. Hier wurde im Feuersturm über ein Regiment das Schicksal des ganzen Volkes entschieden. Zwischen dem 6. und dem 31. Dezember rollten nach pausenlosem Artilleriefeuer sechzehn Angriffe gegen die hastig ausgehobenen Erdlöcher der Verteidiger und wurden immer wieder abgewiesen, obschon das Unaufhörliche des Ansturms für die nie abgelösten finnischen Truppen über jedes menschliche Vermögen ging.

Während wir von jenen nicht bis ins Letzte vorstellbaren Tagen und Nächten sprachen, bekam alles in der Runde ein geisterhaftes Zwiegesicht. Selbst der hohen Mittagsstille war nicht mehr zu trauen, und die verschleierte Sonne, die keine Schatten warf und alles in ein seltsames Zwielicht tauchte, so daß die ausgebrannte, zerstörte Landschaft uns wie ihr eigenes Spiegelbild aus einer perlmutternen Mur schelwand ansah, wies keine Zeit mehr. Während wir von dem pausenlosen Rasen des Artilleriefeuers mit seinen Fontänen aus Eisensplittern, Erde und Schnee, der nicht abreißenden Flutwoge der russischen Angriffsspitzen und den in eiskalten Frostnächten träge jede Bodensenke ableckenden Feuerzungen der Flammenwerfer sprachen, konnte die gespenstische Stille auch heute nichts als banges Entsetzen und stockender Herzschlag und die Zeitlosigkeit nichts als die aus allen Gesetzen herausgerissene, in ein Nichts zwischen Traum und Wirklichkeit geschleuderte Hilflosigkeit der Kreatur sein. Bei dem kaumt Vorstellbaren verweilend, in das sich zurückzuversetzen selbst denen, die es erlebt hatten, nicht richtig gelang, wurden wir, als wir da auf den Preiselbeerbülten und Trichterwällen saßen, einander selber kaum glaubhaft und blickten uns an wie Gespenster, die der Geist der Stätte wieder an ihr zu erscheinen gefordert hatte.

„Und dabei“, sagte Jänttinen, „säßen wir nicht hier, wenn nicht...“

Sanavuori unterbrach ihn lächelnd mit der Bemerkung, nun wolle er wahrscheinlich vom Engel erzählen.

„Vom Engel, ja“, sagte Jänttinen sehr ernst und nickte. Denn das müsse er, Sanavuori, ja wohl zugeben: wenn nicht zwischen den Angriffen vom 23. und 25. Dezember eine ruhige Nacht gewesen wäre, könnten sie nicht hier sitzen.

Nun ja, das wolle er nicht rundheraus abstreiten, gab Sanavuori zu. Das pausenlose Feuer, der Schlafmangel und alles andere dazu hätten sie damals dermaßen ausgehöhlt und das Feuer an den vorangegangenen Tagen habe die Stellungen derart zerstört und neue Schanzarbeiten so weit unmöglich gemacht, daß man sich kaum vorstellen könne, wie sie auch in der Weihnachtsnacht einen neuen Angriff erfolgreich hätten abwehren sollen. Man sei ganz einfach am Ende gewesen.

„Und dabei“, begann Jänttinen und heftete den Blick starr auf irgend etwas, das einer der zerstörten Bäume, der dunkle Schlund eines verschütteten Unterstandes oder das flimmernde Gekräusel des Suvanto unterhalb des Schlachtfeldes sein konnte, „dabei hatte ja auch in der Weihnachtsnacht das Feuer schon eingesetzt...“

Sanavuori lächelte, aber er schwieg. „Hast du .. . ?“ fragte ihn einer, aber während Sanavuori lächelnd mit einer Handbewegung die Frage abschnitt, begann Jänttinen, dem der starre, ernste Blick aus seinen grauen Augen und die völlig reglose Haltung auf einem Baumstumpf in diesen Augenblicken etwas von der Würde jener ostkarelischen Sänger und Seher verliehen, denen wir alle das geheimnisvolle geistige Reich verdanken, darin — wie zwischen Nebel und Sonnenglanz — der Kampf zwischen Mythe und Offenbarung ausgetragen wird, kurz zu schildern, was sich in jener Nacht zugetragen hatte.

Nach — sie wußten gar nicht mehr wie vielen — Feuervorbereitungen und Angriffen, die sie in den vorangegangenen Wochen und Tagen schon abgeschlagen, hatten sie in der Weihnachtsnacht gegen elf Uhr das feindliche Störungsfeuer zu der mächtigen, pausenlos niederhämmernderi Vorbereitung eines Angriffes werden sehen, der — ihrer Erfahrung nach — in den ersten Morgenstunden einsetzen würde. Sie aber hatten vorher nicht einmal Zeit gehabt, die Schäden an den Stellungen auszubessern, da eine sehr eifrige Fliegerbeobachtung das Feuer auf alles, was sich nur regte, gelenkt hatte. Verstärkungen oder Ablösungen waren nicht möglich gewesen, so daß auch in dieser Nacht die Truppe in Erdlöchern lag, die schon wochenlang darin gelegen hatte: in einem fortwährenden Halbschlaf völliger Erschöpfung, der sich mit der Zeit auch an Einschläge in nächster Nähe gewöhnt hatte, ohne aus der Lethargie zu er-“

wachen . . . Nur wenn der Angriff der Infanterie begann, wurde man munter.

Die eiskalte Einsicht in die Unzulänglichkeit der eigenen Verfassung, deren man jedoch selbst bei dieser Lethargie — oder vielleicht nur in ihr — fähig gewesen war, weil keiner mehr die Kraft besessen hatte, sich Wunschträumen hinzugeben, und die jämmerliche Beschaffenheit der Stellungen zusammen mit dem Mangel an Munition, der die eigene spärliche Artillerie daran gehindert hatte, das Feuer richtig zu erwidern und der Truppe in den Gräben und Löchern Entlastung zu schaffen — diese Einsicht hatte die letzte Zuversicht, man werde auch diesen Sturm überleben können, schon ausgelöscht, bevor jener selbst begann. Als gegen elf Uhr das Störungs-feucr sich zu der Feuerwalze verdichtet hatte, die ununterbrochen über die Stellungen rollte, hatte man seine letzte Rechnung gemacht, und die Verluste, die eintraten und die nach hinten zu schaffen neue Verluste gekostet, hatte man als den Beginn eines Aderlasses, der nur mit dem Verbluten enden konnte, hingenommen.

Es herrschten eisige Kälte und eine Dunkelheit, in der die feurige Saat der Granaten wie aus der Wurfhand des Säers beim letzten Gericht niederging. Hören konnten sie alle schon längst nicht mehr. .. Und deshalb erlebten sie, was gegen Mitternacht geschah, in einer Welt völligen Schweigens — ohne unterscheiden zu können, ob ihre Ohren sie betrogen oder ob das Brausen in ihren Köpfen tatsächlich jene Stille bedeutete, mit der für sie alles wahrnehmbar wurde. Das Nachtdunkel ihnen zu Häupten teilte sich mit einemmal — anders habe man es zu Anfang nicht nennen können. Eine zitternde, in sich selbst flimmernde Helligkeit, die man nichts, nicht einmal einem Nordlicht habe vergleichen können, erschien, aber je länger sie verweilte, um so deutlicher wurde es, daß sie allmählich eine feste Gestalt annahm — bis wenige Minuten, nachdem die Nacht sich zum ersten Male geteilt hatte, die ganze Erscheinung vollendet war. Und da erhob sich zwischen Erde und Himmel, soweit ein Menschenauge zu sehen vermochte, ein gewaltiger Engel...

Es war keiner von dem Geschlecht, das auf Postkarten und in Gips dargestellt wird. Er war furchtbar, von unaussprechlicher Majestät, wie Gott selbst, sei ihnen vorgekommen, ja, anders könne man es nicht sagen, und sie hätten, je länger er verweilte, desto weniger vermocht, ihn anzuschauen. Bevor er ihre Augen blendete, hätten sie aber noch deutlich gesehen, daß seine ausgestreckte Hand ein riesiges Kreuz hielt — nach der Heimat hinter ihnen weisend. Es sei falsch, zu sagen, daß sie staunend zu ihm aufgeblickt hätten, wie sie da in ihren Gräben und Löchern gekauert wären. Kein Wort reiche an das heran, was in diesen Augenblicken ihr Leben ausgemacht habe, so etwas wie ein Ueberwältigtscin, ähnlich dem Zustand, in dem die Menschheit sich am Jüngsten Tage aus ihren Gräbern erheben müsse — unausdenkbar und unaussprechlich, weil wir noch nicht die Sprache jener übersinnlichen Gesichte redeten.

Wie lange die Erscheinung gewährt, habe keiner von ihnen, die zu hunderten dasselbe erlebt hätten, zu sagen vermocht. Mitternacht sei längst vorüber gewesen, als sie verschwand und der ganze Frontabschnitt der Stille inne wurde, die mittlerweile eingetreten war. Das Feuer habe allseits geschwiegen, und ohne über das Geschehene nachzudenken, seien sie in Schlaf gesunken, bis die Essenträger von hinten gekommen seien, die einstimmig bekundet hätten, heute sei ein Spaziergang gewesen, was sonst einem Fegefeuer geglichen habe. An der ganzen Front sei, nachdem der Engel zwischen den Feinden erschienen sei, kein einziger Schuß mehr gefallen, und die Schanzarbeiten hätten eilends verstärkt werden können, um einen neuen, späteren Angriff abzufangen, der dann schon am fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Dezember hier bei Tai-pale und am siebenundzwanzigsten, mit unvorstellbarer Wucht, ein wenig weiter westlich gegen Keljä gekommen sei. Der Engel jedoch habe ihnen den Aufschub geschenkt, ohne den keiner bei Taipale die Weihnachtsnacht überlebt hätte ...

Sanavuori hatte die Erzählung Jänttinens stumm mitangehört, und als er gegen den Schluß zu mit einem versonnenen Lächeln dasaß, das nicht von seinem Gesicht wich, als Jänttinen schon fertig war, fragte ihn jemand von uns, ob er nicht auch ...

„Doch, doch, ja“, versicherte er eifrig, ohne den Frager seinen Zweifel aussprechen zu lassen, er habe etwas ganz Aehnliches gesehen, vielleicht dasselbe. Seine Kompanie habe etwas weiter westlich von hier gegen Keljä zu gelegen, und dort sei um die gleiche Zeit eben diese Erscheinung wahrgenommen worden. Freilich hätten sie in ihrer Gruppe, als wenig später der Mond im Nordosten aufgegangen sei, sich das Wunderbare so erklärt, daß das Licht des Mondes, noch bevor der selbst sichtbar geworden sei, eine ungewöhnlich seltene Luftspiegelung mit den Schneekristallen erzeugt habe, von denen die Luft — nicht zuletzt durch die Detonationen der Granaten — voll gewesen sei. An der Erscheinung selbst habe niemand zweifeln können, ganec Kompanien hätten sie gesehen ...

Sanavuori, meinte Jänttinen mit einem bedächtigen, freundlichen Lächeln, glaube eben lieber an den Mond als an Gott.

Der Zweifler nickte vor sich hin. Und als Jänttinen als erster von uns aufstand und sich in der Runde umblickte, halb alles wiedererkennend und halb verwundert, ob dieses nun wirklich der Ort sei, der für sein Leben schon längst in eine andere, unsichtbare Landschaft voller Kreuzwege erhoben worden war, neigten wir anderen eher seiner Erfahrung als der Deutung Sanavuoris zu. Denn so wie in der Zone unbewußter Natur erst das rnenschliehe Leid. Geschichte wirkt und hier in den stummen, namenlosen Wäldern unsäglich gestritten und gelitten werden mußte, bis der Sinn und der Ruhm dieser Schlachtfelder den Erdball umspannen konnten, so mußte wohl uch das Uebernatürliche, das Himmlische gerade in dieser Zone menschlichen Handelns und Leidens Gestalt gewinnen, der Engel sichtbar werden in der Weihnachtsnacht und alles zum Schweigen bringen mit dem Kreuz, das uns so tief niederbeugt und zugleich so unendlich erhöht.

Aus „Die Heiligen Drei Könige“, Verlag Arche, Zürich.

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