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Die Sterne standen nocli immer

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1dl fand den Stephansplatz sonderbar ausgestorben. Alle Menschen mochten jetzt an den Radioapparaten hodeen. Der Abend war ziemlich kalt, der Himmel wolkenlos. Die Bogenlampen schienen trüber zu brennen als sonst. Das schwarze Ungeheuer des Doms duckte sich zusammen, als wolle es seine Angriffsfläche verkleinern. Der Turm verjüngte eich ins Unsichtbare. Einige Sterne glitzerten deutlich über dem Turm. Wann sieht man Sterne über dem Lichtdunst der Städte? Saturn als Aszendent, träumte es in mir, mit der Waage in Konjunktion. Die Fische sind untergegangen. Das waren leere Worte, barer Unsinn, denn davon verstand ich nichts. Ich glaubte aber fest, daß nicht wir Menschen unser Schicksal spinnen, dazu ist dieses Leben zu verwickelt, ein Wechselzopf von Milliarden Fäden. Warum sollen die Sterne, himmlische Loreleien, nicht diesen Zopf flechten? Wer beobachtet die winzigen Gesetzmäßigkeiten alle, diese verrückten Serien? Jüngst begegnete ich innerhalb einer halben Stunde einer erstaunlichen Serie von Rothaarigen, und wenn mir ein Buckliger über den Weg läuft, bin ich sicher, daß er nicht allein bleibt. All diese Winzigkeiten haben ihre Sternbedeutung wahrscheinlich, die günstigste und die verderbliche. Das erstickende Bestreben, das ohnmächtige, den tausendfädigen Zufall zu entwirren, nennen Strohköpfe Abergauben. Ich werde nichts entwirren. Ich hatte ja noch nicht einmal voll be- gi’ffen, was getchehen war. Idi fühlte nur langsam, wie aus einer Narkose erwachend, eine Sternstunde lag über der Stadt Wien. Ich fühlte, wie diese Stunde mich zur Seite warf und andere hervorfegte.

Bereits an der Ecke des Grabens begann das Bild sich zu verändern. Dort standen viele einzelne Menschengruppen, schreiend, fuchtelnd. Plötzlich rasten Automobile vorbei in gottverbotenem Tempo. In den Wagen ragten Männer, die unverständliche Worte ins Leere brüllten.

Das war wie ein Signal. Die Gruppen lösten sich. Die Menschen stürzten aufeinander zu, schrien wie die Tollen. Fremde umarmten sich, atemlos. Frauen schluchzten vor Jubel. Aus einer dumpfen Flut von Stimmen vernahm man solche Ausrufe:

„Ich hab’s immer gesagt, er wird- uns nicht verlassen … Nein, er verläßt uns nicht… Wißt ihr’s, daß er persönlich die Regierung übernimmt? … Jessas, er selbst… Da gratulier ich dir aber, Toni!. |. Jetzt kommst an … Alle, sag ich dir, alle, da bleibt keiner mehr im Dreck… Das Plebiszit, und ihr habt’s geglaubt, daß er den Schwindel duldet… Da kennt’s ihr ihn schlecht… Der laßt sich nicht besch...“

Er? Wer war dieses fürchterliche Er, das die Menschen rasend machte? Ich lehnte schlapp an einer Hauswand. Neben mir lehnten einige andere, die wie verschmachtende Fische auf die Zusammenrottungen glotzten, die von Sekunde zu Sekunde wuchsen. Ich erschrak vor diesen, meinen eigenen Spiegelbildern. Plötzlich war die Masse fertig, der Opernchor einer großen Geschichtspremiere. Und nun brach er los, der Mordsgesang, der nur aus zwei Tönen besteht: „ Sieg-Heil I Sieg-Heil! Sieg-Heil!“ Wie das Ih-Ah eines automatischen Esels von Bergesgröße! Wie das Kriegsgeheul der’Steinzeit, mechanisiert im Weltalter der Industrie.

Die Menschenflut spülte uns, Begeisterte und Widerstrebende, in die Kärntnerstraße. Die siegreiche Partei aber schien die Zahl der Begeisterten nicht zu überschätzen. Lange Reihen von Autobussen und Lastwagen kamen angerattert, aus denen Hunderte von Weißstrümpfen sich in die Menge herabstürzten. Viele trugen schon Armbinden mit Hakenkreuzen. Junge Burschen waren es, Halbwüchsige zumeist, die man aus den Städtchen der Bannmeile, aus Mödling, Baden, Bruck, Eisenstadt, Fischamend, St. Pölten, in die eroberte Metropole geworfen hatte. Da sind die Korsettsfangen , hörte ich jemand sagen, ein preußischer Ausdruck, wildfremd für Wiener Ohren. Schon lagerte dieser neudeutsche Sprachdunst atemberaubend über dem anmutigen Dialekt unserer Heimat. Die Sieger schoben die Menge sinnlos durcheinander. Ordnungsdienst hieß das. Auf ihren glatten oder flaumigen Kindergesichtern brannte eine somnambule Trunkenheit, die ein gewaltigerer Wein erzeugt hatte als der liebe Heurige dieses Landes.

Keine Rache ist berauschter als die des angestauten Minderwertigkeitsgefühls an den alten Werten. Nicht nur die Partei der Jugend hatte den Widerstand des Alters gebrochen. Die Kleinstadt hatte die Großstadt besiegt, der geschichtslose Pöbel den Geist der Geschichte, der Sport die Wissenschaft, die analphabetische Seele von heute früh den Hochmut einer in Jahrhunderten erworbenen Kultur, der waldmenschliche Hordentrieb das skrupelhafte Gewissen der freien Persönlichkeit.

Das Seltsame aber war, daß nicht nur die Jugend und die hysterischen Weiber sich in der Blutwolke des Massenrausches wanden. Ich sah Männer meinesgleichen, ältere und alte, den Siegern keineswegs zugehörig, die derwischhafte Laute ausstießen und mit den Armen schlugen, als seien das gestutzte Flügel. Jedoch das Seltsamste, Unbegreiflichste war ich mir selbst. Vor jenem Reisebüro hatte die hin- und herwogende Menge ein religiöses Schweigen befallen. Irgend jemand hielt eine Rede in langen, schwülen Lauten, wie ein besessener Schamane. Weiber fielen plötzlich aufs Knie, streckten die Arme zum Himmel und beteten den Drachen an. Neben mir ein altes Mütterchen, das wahrscheinlich gar nicht wußte, was vorging, brach in schüttelndes Schluchzen aus. Da geschah es. Da packte es mich an. Da überrumpelte mich jenseits aller Vernunft die Tiefe des plane- taren Lebens. Da wurde ich mitgerissen. Nicht verstehen kann ich’s, doch auch nicht verhehlen. Ich identifizierte mich einige Sekunden lang mit meinem Todfeind. Ich wurde mein Todfeind. Ich verstand alles. Ich war ein trunkener Weißstrumpf. Die Begeisterung, die mein Leben zerschlagen mußte, flammte auch in meiner Brust.

Der Sturz aus diesen Sekunden der Einheit mit dem Todfeind war wie eine Gehirnerschütterung, Brechreiz würgte mich. Wenn ich, der reine Fall des Gegners, der ganz und gar „immun“ dieses unaussprechliche Erlebnis soeben hatte -bestehen müssen, was konnte ich von allen ändern verlangen, die doch nur in der Mitte standen zwischen mir und dem Todfeind? In diesem Augenblick begann mein Exil. Um mich war Fremde, eisiger .ls Grönland. Die vertrauten Straßen, Plätze, Gebäude starben für midi. Von nun an war jeder Schritt, den ich tat, ein verbotener Schritt imnitten eines mir untersagten Mekkas.

Ich begann zu laufen. Die Medaillen an meiner Brust klapperten. Verdammte Uniform. Atemlos erreichte ich den Schwarzenbergplatz. Der Autobus nach Eisenstadt verkehrte nicht. Man hatte ihn wie alle anderen gechartert, um das Siegervolk in die Stadt zu führen. Ich eilte durch die Prinz-Eugen-Straße auf die Südbahn. Der Verkehr über Wiener Neustadt ins Burgenland war eingestellt. Rotznasen mit Hakenkreuzbindon forder- , ten von den Reisenden Ausweise. Ich sah, wie ein Herr in einem wuchtigen Pelz verhaftet wurde. Ich ging zum Stand der Taxichauffeure. Keiner wollte in dieser Nacht so weit über Land fahren.

Im Bahnhof trank idi zwei Kognaks, einen Kirsch und einen Allasch. Ich war beinahe der einzige Gast. Ich schlief ein...

Die Kellner ließen mich schlafen bis zur Polizeistunde um ein Uhr. Ich taumelte auf. Wohin? Aus dem Radio preschen die Reden der neuen Machthaber gewiß und jenes Horst-Wessel-Lied dazu, in welchem der Marschtritt von Menschenfressern mit der Sentimentalität selbstmordplanender Dienstmädchen eine erstaunliche Verbindung eingeht. Ich spielte mit dem Hausschlüssel in meiner Tasche.

Die Sterne dieser Nacht standen noch immer am kalten Himmel. Ein scharfer Wind ging. Gruppen von Weißstrümpfen marschierten durch die Straßen, nichts mehr in aufgelöster Ordnung wie noch vor wenigen Stunden, sondern in Reih und Glied. Ein fremdartiger Drill war zu spüren.

Mich zog’s zum Ballhausplatz, ich weiß nicht warum. Als wären dort noch letzte Gegenkräfte wach, ein glimmend ersticktes Feuer, heiß genug, 6ich darüber die klammen Hände zu wärmen. Die hohen Fenster des Kanzleramtes waren alle hell. Die neue Regierung — oder das, was sich dafür hielt — arbeitete die Nacht hindurch. Schemen des Übergangs hingen demütig an den Telephonmuscheln, um die Befehle aus der Drachenhöhle entgegenzunehmen. Die Drachensaat ging auf, ringsumher, zum Schrecken vieler Schwächlinge, die mit der Kraft gelieb- äugelt hatten. Ich sah im Geiste die fer- kelrosa Gesichter der beiden Zwillinge Im Trenchcoat, wie sie mit ihren ‘Nilpferdpeitschen die Empiremöbel Metternichs bearbeiteten. Eisgraue Hofräte lächelten anerkennend dazu. Was sollten sie tun? Es ging um ihre Pension. Vor dem Portal war der Posten des Gardebataillons eingezogen worden. Eine Abteilung der Polizei lungerte herum, auch ßie schon mit dem entweihten Kreuz geschmückt. Autos sausten vor, rissen die Bremsen an, daß die Achsen stöhnten. Dies war schon der neue Lebensstil des .Dynamismus . Immer wieder stieg ein Eiliger mit der Aktentasche aus. In seinem Gesicht malte sich die schwere Verwunderung über die Rolle ab, die ihm diese Nacht ins Haus geschickt hatte. Diese Eiligen stürmten ins Tor. Kein Portier fragte sie nach ihrem Begehren und hielt sie auf.

Auch mich ließ man ungehindert ein- treten. Ich starrte die große Prunktreppe empor, als müßte dort oben endlich der deus ex machina erscheinen, der alles widerrief. Der breite purpurne Läuferteppich glühte so warm. Der deus ex machina erschien nicht. Was sich aber begab, war eines Äschylos nicht unwürdig. Querst trampelte eine Gesellschaft ziemlich vorstädtischer Gestalten über diesen geheiligten Teppich diplomatischem Leisetretens mit kotigen Stiefeln rücksichtslos herab. Die Burschen trugen irgendeine vorläufig noch halbschlächtige Parteiuniform. .SS murmelte es ringsum ehrfurchtsvoll, welche Abkürzung einen ganz bestimmten Hordenteil bezeichnen sollte, denn die sogenannte .Aufnordung“ Wiens vollzog sich als Auf- hordung.

Die lärmende, lachende Horde, die da die Treppe herunterhüpfte, bestand aus 6-echs oder sieben Jünglingen. Sie war aber nur ein Vortrupp, der sich immer wieder mit gellenden Befehlen und höhnischen Scherzworten zurückwandte. Nach einer Weile zeigte sich auf dem oberen Absatz der Treppe eine kleine Reihe von Amtsdienem, die in einem makabem Gänsemarsch niederzusteigen begann.

Die Diener der hohen österreichischen Ämter sind immer in abgeschabtes Schwarz gekleidet, die trauernd Hinterbliebenen einer großen Idee, die jahrzehntelang auf dem Totenbett lag. Sie tragen nicht wie in ändern Ländern Livree oder gar wie in Frankreich schwere Goldketten. Auch scheinen sie allzumal mißmutige Siebzigjährige zu sein, welcher Altersstufe sie immer angehören mögen.

In dieser Stunde einer wahren Walpurgisnacht boten die Amtsdiener, die mit beklemmender Langsamkeit die Stufen herabklommen, einen schaurig-tragischen Anblick. Denn jeder einzelne dieser Greise trug eine Last, die weit über seine Kräfte ging. Es waren schwere, weiße Gipsbüsten, die sie mit ihren zitternden Armen an die schäbig schwarze Brust preßten. Als sie, von der gröhlen- den Horde kommandiert, mit ihren Lasten zum Innenhof wankten, erkannte ich die einzelnen Gipsköpfe, die von den Konsolen der Festräume geraubt worden waren. Ich und all ändern Gaffer im Torgang folgten dem erregenden Kondukt, bei dem nur noch der dumpfe Trommelwirbel fehlte. Im Hof mußten die schwarzen Greise in einer Reihe Aufstellung nehmen.

Der Hordenführer hatte einen Säbel umgeschnallt. Mit der blanken Waffe trat er vor die Reihe und schnarrte: „Achtung! Stillgestandenl Augen linksi Im Namen des deutschen Volk s spreche ich das Todesurteil aus über Franz Joseph von HabsburgI Achtung!

Er senkte den Säbel. Der Diener am linken Flügel der Reihe wandte mit einer gequälten Gebärde den Kopf zur Seite und ließ die Büste aus seinen Armen aufs Pflaster fallen. Sie zerschellte mit einem hellen Krach. Auf diese Weise wurde der alte Kaiser, der dreimal vorhanden war, dreimal hingerichtet. Nach ihm teilten dasselbe Schicksal sein Nachfolger, der mich einst erhöht hatte, dann der von den Weißstrümptcn feig gemeuchelte vorige Kanzler und endlich der unselige letzte im Untergang. Jedesmal nach einer dieser Exekutionen brach die Horde in Triumphgeheul und in die beiden kurzen Sägelaute ihres „Sieg-Heil“ aus. Die Gaffer brüllten auf jeden Fall mit. Es konnte nicht schaden.

Ich trat hinaus auf den nächtlichen Platz. Ich weinte. Ich weinte nicht über diese Hinrichtungen, sondern über mich, über meine Torheit, üt er meine Versäumnisse, über den unersetzlichen Zeitverlust. Ich lief durch enge Nebengassen. Ich hörte meine Medaillen klappern.

Aus „Cella“, Nachgelassener Roman.

S.-Fischer-Verlag, Frankfurt-Wien.

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