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Die Legende vom ewigen Brot

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In meine Kindheit fällt eine wunderbare Begebenheit, welche sich zwar in aller Öffentlichkeit, ja, man könnte fast sagen, vor den Vertretern ganz Rußlands abspielte, meines Wissens jedoch von niemandem aufgeschrieben wurde und auch im Strome der mündlichen Überlieferung untergegangen ist.

Etwa zwanzig Werst von unserem Dorfe entfernt, lag das Gut des Bojaren Boris Borisowitsch Artamonow. Es war weithin bekannt, daß Boris Borisowitsch seine Bauern lieblos behandelte, sie mit Abgaben plagte, ihnen in guten und schlechten Zeiten keine Fürsorge angedeihen ließ; auch von boshaften Körperstrafen war die Rede. Schon als junger Mann hatte Artamonow einen so schlechten Ruf gehabt, und ich glaube, daß auch jenes Hungerjahr, in dem der Bojar die schlimmste Sünde seines Lebens beging, vor meiner Geburt liegt. Es war dies eines jener Jahre, in denen Gott das Volk unseres Landstriches durch eine todbringende Mißernte strafte, eines jener Jahre, in denen Brot aus Spreu und Baumrinde gebacken wurde.

Unser Gutsherr, Fürst Matwej Jurjewitsch Sacholmskij, ließ rechtzeitig im Süden immerhin soviel Getreide aufkaufen, daß bei uns niemand Hungers starb. Es geschah bei dieser Gelegenheit, daß mein Oheim Iwan sich das bleibende Vertrauen seines Herrn erwarb. Denn nur durch Iwans Ehrlichkeit und Tatkraft konnte des Fürsten darum nicht minder rühmliches Vorhaben ausgeführt werden. Mein Oheim mußte vorerst die silbernen Becher und Teller, ja auch Rubine aus dem Halskreuz des Fürsten zu Moskau verkaufen und hierauf mit großen und kleinen Grundbesitzern im Süden, ja sogar mit Einhöfern und Kosaken um den Preis jedes Scheffels feilschen. Man wird verstehen, wie viele Tore der Veruntreuung offen standen. Aber Iwans Hand versiebte kein Edelsteinchen, nicht einmal ein Korn, und führte auf den mühseligen Wegen der Redlichkeit mehr Getreide heran, als unser Fürst erwartet hatte. Daß- der Wagenzug nicht beraubt worden war, mußte für ein wahres Wunder gelten. Als Matwej Jurjewitsch von seinem Hefankommen Meldung erhielt, zog er ihm, gefolgt vom ganzen Dorfe, mit der Ikone entgegen. Meine Eltern haben diesen heiligen Augenblick niemals vergessen.

Der Fürsorge unseres Fürsten diente Artamowows Unmenschlichkeit zur Folie. Boris Borisowitsch nahm seinen Bauern die kärgliche Ernte ab und verkaufte sie um Weihnachten in der Hauptstadt zu Wucherpreisen.

Manches Jahr brauchte der Boden unseres Landstriches, welcher bei der damaligen Wirtschaftsweise im Durchschnitt kaum die sechsfache Frucht trug, bis die Folgen dieser schrecklichen Mißernte überwunden waren. Dann aber kam ein gesegneter Sommer. Die Felder schimmerten, und alle guten Men- sehen freuten sich. Über den Bojaren Artamonow aber begannen seltsame Gerüchte umzugehen: er lehne Speise und Trank ab, beim Anblick des reifenden Korns breche er in Tränen aus.

Boris Borisowitsch war ein außerordentlich schöner Mann. Wenige Monate zuvor hatte ich ihn anläßlich eines Besuches bei unserem Fürsten zum erstenmal gesehen.

Obwohl er schon alt war, hatte sein glänzend schwarzer Bart kein graues Haar gezeigt. Majestätisch war er aus dem Schlitten gestiegen und die Stufen zum Herrenhause emporgeschritten. Unser Fürst, klein und kugelrund, wie unbedeutend hatte er ausgesehen, während er den vornehmen Gast in der Haustür erwartete, wie es die Sitte erheischte. Denn nicht sein Fürstentitel entschied in der Ordnung der moskauischen Vorrätige. Matwej Jurjewitsch hatte es nur bis zum Okolnitschij gebracht, dem Range im Zarenrat, welcher unter dem Bojaren stand. Er mußte es als besondere Ehrung empfinden, daß ihn der Bojar überhaupt besuchte. Seine Söhne waren dem hohen Herrn bis zum Schlitten entgegengeeilt. Wenn ich es recht bedenke, hätte er selbst dem aussteigenden Gast die Hand reichen müssen. Seine Beleibtheit mochte ihn entschuldigen.

Wahrhaftig, Boris Borisowitsch war das Urbild jenes „kleinen Zaren”, den ich während meiner ungewöhnlich langen Lebenszeit im wechselnden Kostüm der Epochen immer wieder über leibeigene „Untertanen” gebieten sah.

Ein solches Bild irdischer Herrlichkeit stellte der Bojar Artamonov dar, wenige Monate vor dem Auftreten des erwähnten Gerüchts, das meinem kindlichen Gemüte Grauen einflößte. Natürlich deutete ich alle Eindrücke, die ich im Zusammenhang mit Artamonov empfing, erst viel später. Aber ich empfing sie eben als kleines Kind mit jener Stärke, welche die spätere Deutung ermöglichte.

Eines Morgens geschah mir Seltsames: mein Bruder Iwan weckte mich im Dunkeln. Es war Sommer. Ich hatte fast vergessen, daß es die Nacht gab. Iwan trug mich aus der Hütte. Ich hörte Stimmengewirr. Ich wurde auf einen Wagen gesetzt, wo ich offenbar sogleich wieder einschlief.

Viele Stunden mochten vergangen sein, als ich die Augen auftat und in einem neuen Leben erwachte: wir befanden uns in fremder Gegend. Bisher hatte ich unser Gut nicht verlassen. Über die Felder Oheim Iwans war ich niemals hinausgekommen. Halb beruhigte es mich, halb steigerte es mein Eetsetzen, daß unser ganzes Dorf, wie mir schien, mit uns unterwegs war. Ein langer Zug schweigender Gestalten bewegte sich stetig neben und hinter den Fuhrwerken. Das Schweigen und das Gleichmaß der Schritte deuteten auf eine lange Fahrt, so fühlte ich unbewußt. Neben mir und ebenso auf drei weiteren Fuhren saßen die Kinder des Dorfes. Im vordersten, herrschaftlichen Wagen befanden sich Fürst Matwej Jurewitsch und die Fürstin. Die jungen Herren ritten neben dem elterlichen Gefährt.

Ehe mir dies alles einigermaßen klar geworden war, kamen wir in einen Wald. Ich hatte niemals zuvor einen Wald gesehen. Im selben Augenblick begriff ich, daß die Welt unendlich groß sein mußte. Wenn es etwas, von allem, was ich bisher gesehen hatte, so Grundverschiedenes gab wie diese unzählbare Menge Bäume, dann konnte es noch, weiß Gott was, geben!

Ich begann zu weinen. Iwan hob mich vom Wagen und tröstete mich.

„Wohin fahren wir?” fragte ich zitternd.

„Zum Bojaren Boris Borisowitsch.”

Diese Antwort durchbohrte mein Herz, Die Furcht vor der drohenden Erscheinung des Bojaren, welche in der schützenden Um- hegung des heimatlichen Herrenhofes nicht an mich herangekonnt hatte, überfiel mich erbarmungslos. „Gehören wir jetzt alle Boris Borisowitsch?” fragte ich außer mir. „Alle? Auch der Fürst und die Fürstin?”

Diese Frage, welche den ausländischen Leser vielleicht in Erstaunen setzt, verstieß im Munde eines leibeigenen Kindes meines Vaterlandes nicht gegen die Folgerichtigkeit. Wem man gehörte, das war im allgemeinen der Inbegriff des persönlichen Zurechtfindens eines Leibeigenen, der Jahr und und Tag seiner Geburt nicht kannte und einen überlieferten Familiensinn nicht besaß. Ich schloß, wenn auch in kindlicher Weise, aus richtiger Gedankenverbindung.

Weil aber unser Herr gut war und niemals Leibeigene verkauft hatte, und weil andererseits der Gedanke, daß der Fürst und die Fürstin selbst einem Herrn gehören könnten, absurd war, lachten alle, die meine kindliche Frage gehört hatten, laut. Die das Lachen hörten, fragten, was es gebe, und lachten ihrerseits. Für einen Augenblick war die schwere Stimmung von den Schweigenden, stetig Schreitenden genommen. Auch Matwej Jurjewitsch geruhte zu fragen, warum man lache, und selbst laut zu lachen, als ihm meine kindliche Befürchtung wiedergegeben wurde.

Inzwischen hatte mein Bruder Iwan versucht, mich zu beruhigen: „Nicht doch, mein Licht. Sei ohne Angst. Wir kehren noch heute Abend in unser Dorf zurück. Wir gehen nur Boris Borisowitsch ansehen.”

Boris Borisowitsch ansehen?

Ich glaube, daß ich in den Armen meines Bruders von neuem einschlief. „Ein einziges Mą.1 haben wir auf diesem Wege gelacht”, pflegte Iwan später zu sagen, „und zwar über deine Frage.”

Nach dem dritten Erwachen gewöhnte ich mich allmählich an das „Unterwegs”. Wir zogen die Straße dahin: die Straße, das heißt jenes Gewirr von Radspuren, welches zu damaliger Zeit dem Nachfolgenden den Weg wies. Das Wetter war herrlich. Herbstlichstes Erntewetter im gesegneten Kornjahre meiner Jugend. Und wir fuhren Boris Borisowitsch ansehen!

Je näher wir an Swjatyj Krest, so hieß Artamonovs Dorf, herankamen, um so erregter wurden unsere Leute, das fühlte ich, und auch mich überkam die Furcht von neuem. Wenn Iwan gelogen hätte, um mich zu beruhigen? Nämlich, ich gestehe ungern und nur zur Warnung für Pfleger kindlicher Gemüter, daß mein herzensguter Bruder mir schon öfter mit frommen Lügen den Mund gestopft hatte… Ach, nichts ist unverdaulicher als solche leere Versprechungen trotz ihrer Luftigkeit. Aber nicht von meinen kindlichen Nöten will ich erzählen, in diesem Augenblick noch weniger als sonst.

Als wir endlich Swjatyj Krest von weitem liegen sahen, bemerkten wir, daß noch andere Züge, aus den verschiedensten Richtungen kommend, gleich dem unseren dem Dorfe Artamonovs zustrebten. Dabei wimmelte es in der Siedlung selbst schon von Menschen. Die einen gingen mit flackernden Augen zum Herrenhof, die anderen kamen starren Gesichts von dort zurück. Wieder andere spazierten leise flüsternd zwischen den Hütten auf und ab oder saßen auf Schwellen und Feldrainen und kauten an ihrem mitgebrachten Brot.

Meine namenlose Furcht wollte mir die Brust zerreißen. Ich weinte in krampfhaften Stößen. Oh, ihr heutigen Pfleger der Kinderseelen, die ihr alle euren Rousseau wenigstens vom Hörensagen kennt und zu befolgen glaubt! Wißt ihr nicht, daß in den meisten kultivierten Ländern die Wirkung des Schreckens auf ein zartes Gemüt noch zumindest unbeachtet bleibt, wenn nicht als Erziehungsmittel oder gar zu Unterhaltungszwecken angewendet wird.

Was werdet ihr sagen, wenn ich jetzt berichten muß, wie mit einem Male ein grauenhaftes Brüllen das Schlurfen der Schritte, das Geflüster um uns wie mit Peitschenhieben zerriß: menschenunähnliche Laute, auch aus Tiermäulern niemals gehört — weil Tiere den Wahnsinn nicht kennen.

Jetzt drängte alles in lautloser Eile nach dem Herenhof, woher das Brüllen kam. Allerdings gab die Menge, auch die fremden Bauern, unserem Fürstenpaare eine schmale Gasse frei. Meine Eltern und mein Bruder Iwan hielten sich, was mir unbegreiflich war, dicht an die Herrschaft. Warum gingen wir diesem schrecklichen Brüllen nach? Warum flohen wir nicht?

Aber was ich jetzt zu sehen bekam, war so entsetzlich, daß ich offenbar das Fassungsvermögen verlor, ja das Gefäß der Furcht selbst in meiner Kinderbrust gesprengt wurde. Ich fühlte jedenfalls keinen Schmerz mehr. Ich schaute nur noch- Iwan war ein großer, starker Bursche; er setzte mich auf seinen Kopf wie auf einen Turm, ich konnte alles sehen.

In der Mitte des Hofes stand Boris Borisowitsch Artamonov. Ich begreife heute noch nicht, wie es möglich war, daß ich ihn sofort erkannte. Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit sich selbst. Weder der Mensch noch das Kleid erinnerten an den Eindruck, den ich vor wenigen Monaten noch gewonnen hatte. Im Hofe stand, von schlaffer, fahler Haut überzogen, ein Gerippe, von einem zerrissenen Hemde kaum verhüllt. Der noch vor wenigen Monaten glänzend schwarze Bart war schlohweiß geworden. Vielleicht lag noch eine Ahnung der alten herrischen Gebärden in den Bewegungen des Knochenmannes, der in diesem Hofe mit brennenden Augen sein geisterhaftes Wesen trieb.

Dieses grauenvolle Bild der Unterwelt stand im wirkungsvollsten Rahmen: die irdische Fruchtbarkeit war um das Gespenst , aufgetürmt. Berge von Garbenbündeln, Hügel von ausgedroschenem und schon peinlich gesäubertem Korn füllten den Hof. Ununterbrochen häuften verängstigte Bauern und Hofdiener neue Brotfrucht auf die vorhandene.

Boris Borisowitsch streckte nach jedem Garbenwurf, nach jedem Geriesel eines Kornscheffels gierige Hände aus: gurgelnde Laute des Entzückens, ein heißes Aufflackern der brennenden Augen begleiteten diese Bewegungen. Im nächsten Augenblick aber zerriß ein Schrei der Enttäuschung den Spalt seines Mundes, und seine Knochenarme übten eine unnachahmlich wegwerfende Geste. Es war, als ob der Tod selbst in grauenvollen Rhythmen immer wieder von dieser Fülle der Natur Belebung erhoffte, jedoch gleich darauf wieder in Verzweiflung und Selbstironie seinen Irrtum erkannte. Es wurde faßlich, daß wir sterblich, weil sündhaft sind.

Man wundere sich nicht, daß ich trotz der ungewöhnlich langen Dauer meines Lebens diesen Eindruck meiner frühen Kindheit immer noch in allen Einzelheiten vor Augen habe: sie waren unauslöschlich und unsagbar beredt.

Alle drei Reiche der christlichen Vorstellung fanden sich hier vertreten. Die welligen Hügel der Garben- und Kornhaufen um die Qualenhölle des Bojaren bildeten gleichsam ein symbolhaftes Profil der Erde, über deren Gipfel, durch deren Täler das himmlische Jenseits eindrang: denn Popen und Mönche, das Kreuz erhebend, Weihrauchfässer schwingend, verrichteten, auf den Kornhaufen oder in den Pässen zwischen den Garbenbergen stehend, ihre reinigenden Gebete.

Um diese dreiteilige Bühne eines unerhörten Mysteriums stand oder kniete, sich bekreuzigend, die Menge der Zuschauer — das Volk: Bauern, Adelige, sogar Städter und Kosaken sah ich zum ersten Male in meinem Leben. Sie kamen und gingen geräuschlos. Viele mochten mehrere Tagreisen zurückgelegt haben, um dieses Gottesgericht zu schauen.

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