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Mein Bibliotheksbuch

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Da war die stille, Her Seele gestiftete Zeit gekommen und mit ihr ein Neues, das Bibliotheksbuch. Zuerst machten wir verdutzte Gesichter, als wir diesen Namen hörten, denn wir wußten nicht, was wir uns darunter vor- stellen sollten. Aber die, die schon das zweitemal in der Klasse waren, deuteten uns vielversprechend zu.

Das Bibliotheksbuch war ein Geschwisterkind des Lesebuches. Und was für eines?

Das Lesebuch war kalt und grau, ein verdrossenes Muß, und wenn es ans Auswendiglernen ging, konnte es einem sauer und zum Verhängnis werden. Hatte der Lehrer einen bösen Einfall, wurde er kehrumdiehand eine unbehagliche, quälsüchtige Sprachlehre. Dann war das Lesebuch zum Verwünschen. Zudem gab es viele Lesebücher, jeder hatte eines und jeder hatte Jaselbe, und fast Tag für Tag mußte man darin üben, suchen und alles Mögliche herausdenken, auf das man von allein gewiß nicht gekommen wäre.

Das Bibliotheksbuch aber machte sich selten und es gewährte Behagen. Man war sozusagen unter sich mit ihm, es redete einem niemand drein und es hielt einen auch niemand auf. Es strahlte Anreiz, Leben, Erwachsenheit aus. Es kam zu besonderer Zeit, zu den langen Abenden, an denen die Geheimnisse aufwachen und die gruseligen Geschichten gut gedeihen, weil draußen Dunkelheit und Stille ist.

Ein wahres Tischleindeckdich! war es für hungrige Gedanken und weltlüsterne Herzen, denn von den vielen Büchern glichnicht eines dem andern, jedes hatte Neues au erzählen. Und noch etwas: Das Lesebuch sagte — und sah dabei drein wie ein Gebot: „Du bist noch ein Kind. Mehr als das, was du in mir findest, kannst und darfst du noch nicht lesen!” Das Bibliotheksbuch aber nahm dich freundlich bei der Hand: „Du bist schon wie ein Großer. Du liest nun nicht mehr diese kurzen, immer so gescheit oder gar so brav tuenden Lesestücke, nein, du liest nun ein ganzes, ein richtiges Buch!”

Wahrhaftig, voll Verheißung fing es an. Gleich das erstemal bekam ich einen wahren Glücksschatz, das schmale, doch wundersame Büchel „Der Pain-Sepp”. Ich sehe noch heute den vergilbten, an den Rändern aufgebrochenen Deckel, die vergilbten, an den Rändern eingelappten Blätter und ich erinnere mich an den dünnen, altwürdigen Titeldruck so gut, daß ich ihn zeichnen könnte, wenn ich die Hand dazu hätte. Nicht ein winzigster Gedanke in mir blieb frei, als ich es an mich nahm. Ich habe selten etwas so sorgsam, so behütend bewahrt, ich trug es heim wie ein hohes Pfand. Mein Lieber, das war aber auch einer, der Pain-Sepp! Arm und noch blutjung, doch schon der allerstärkste Fährmann, im hohen Stromgang kühnster Lebensretter — eine Medaille bekam er! —, bald erwählter Anführer all der wackeren Donauleute und zum Schluß froher, glücklicher Hochzeitsmann mit einem Mädchen’, daß es weitum kein schöneres gab. Da sah man’s: so viel Geltung, Ansehen, Ehre, so viel Glück wartete auf einen! Freilich, wenn man auch stark, auch mutig, auch voll der schönen Kameraden treue war! Aber das war man! Und wäre man etwa das eine oder andere noch nicht oder noch nicht ganz gewesen — gewiß, man würde es noch bestimmt. Und was die Stärke betraf: spannten sich nicht, während man bloß so dachte, wie von allein in Händen und Armen die Muskel?

Das zweite Buch war „Fritjof Nansens Nordpolfahrt”. Hei, das rollte die Welt auf bis hin an ihr eisstarrendes Ende. Urmächtig strömten die Schauer: diese unermeßlichen Fernen, diese schimmernde tote Fremde! Dorthin fuhren die unerschrockenen Männer! In meertiefe Spalten konnten sie stürzen, Eisbären konnten sie fressen, Kälte und Hunger konnten sie verderben, aber sie fuhren. Und war das zu glauben: Ein halbes Jahr lang lief dort die Sonne fast waagrecht um die Erde, Tag und Nacht immer glühend, und das andere halbe Jahr war es trübseliger Abend, pechrabenschwarze Mitternacht und dann müder, grauer Morgen.

Dieses Buch hielt ich beim Lesen mit solcher Spannung fest, als sollten sich ihm zum Andenken an mich meine kleinen Finger durch Einband und Blätter drücken. Reglos saß ich still, bloß aufziehen mußte ich ab und zu, und dies sozusagen nur versehentlich, gleichsam aus Ergriffenheit, aber zum Entsetzen der Mutter — ich hatte doch ein Taschentuch. Selbst das Atmen verbarg sich, ab könnte sdion der leiseste Hauch das große Wunderbare, das mir da entgegenschauerte, verscheuchen und zerstören.

Ja, solches bot das Bibliotheksbuch. Aber es hatte auch einen Fehler. Mittags brachte ich es heim, feierte bis gegen Abend ein prasserisches Fest und darauf folgte ein großes, sechs Tage währendes Fasten. Eine ganze volle Woche! Ungeduldig wünschte ich sie jedesmal zu Ende und an dem Tag, an dem wieder ausgeteilt wurde, konnte ich die Pause nicht erwarten. Zwei Erwählte durften dann immer die Bücher aus dem großen Kasten nehmen, der an der Rückwand des Schulzimmers stand, und auf den Tisch vortragen. Wenn ich da sah, wie der kleine Berg sich bunt und unablässig häufte, nesselte es mir heiß über den Rücken: wenn schon e i n Buch soviel .Schönes, Unerhörtes enthielt, wieviel erst die da-alle zusammen?

Wenn dann die ganze Klasse dichtgedrängt um den Tisch stand, fragte der Lehrer: „Wer will das?” — „Wer das?” Und dazu hielt er die Bücher vor uns hin und ließ öfter hineingemalte Bilder eine Weile aufgeschlagen. An jenem Tag, an dem ich zum drittenmal ein Buch bekommen sollte, erschien ein funkelnder Reiter. Auf feurigem Roß sprengte er dahin und wies furchtlos und hocherhoben eine trotzige, eine schimmernde, eine wehende Fahne. „Wer will das?”

„Ich!”

In der gleichen Sekunde flog in scharfem Bogen über die Köpfe hin ein Buch zur Seite. Blätter und abgerissene Blätterteile ent- schwirrten ihm, dumpf klatschend fiel es auf. „Mmmm”, entrüsteten sich beflissene Buben und Mädchen und midi trafen viele anklagende Blicke. Erschrocken sah ich midi um. Kaum konnte ich’s glauben: Ja, ich, ich und niemand anderer hatte das Buch — mein Gott! — dem Lehrer aus der Hand geschlagen. Durch mein jähes, ungestümes Aufzeigen. Ein paar Dienstfertige klaubten geschäftig die zerflatterten Teile zusammen. Der strahlende Reiter mit Roß und Fahne kam nicht mehr zum Vorschein. Das Buch, aus dem er so mutig gegen den Tod geritten, lag zugeklappt auf dem Tisch. Im Gesicht des Lehrers standen beleidigter. Unmut und unversöhnlidie Strenge. Stumme Augen sahen mich ohne Milde an. „Sdiifcrl”, hörte ich dann sprechen, es war eine neue, fremde Stimme — „weil du so wild herusnsdilägst, kriegst du diesmal überhaupt kein Buch. Gib das alte ab und geh hinein!”

Als dürfte plötzlich jemand große Gewichte an meine Füße gebunden haben, so sdiwer waren sie auf einmal. Und vor meinen Augen flimmerte und brannte es so heftig, daß es mir beinahe Anstrengung kostete, den kleinen Weg zu gehen bis hin zu meinem Platz.

Dort saß ich nun, ich allein in den vielen leeren Bänken, ein einziger weher Aufruhr. Gequält wand sich mein Gewissen zwischen verhängter Schuld und empfundenem Unrecht. Aber nur wenige Augenblicke. Die tiefe Kränkung ermaß sicher die Ungebühr der Strafe. Wofür ich sie im Grunde bekommen hatte und der ganze seltsame Hergang bedrückten mich so 9ehr, daß mir fast übel wurde. Für den besten Willen, für andächtiges Erwarten war ich in Schande und schmerzhafte Armut gestoßen. Eine ganze leere Woche lang.

Auch eine große Angst mengte sich ein: der Vater las auch gerne die Bibliotheksbücher. Und wie streng war er! Was würde er sagen?

Draußen ging es weiter: „Wer will das?” — „Wer das?” Die Stimme klang wieder wie immer und der, dem sie gehörte, merkte nicht im geringsten, was er angerichtet hatte. Er war ein gar sitteneifriger, ein wahrhaft unbestechlicher Lehrer: die Ordnung ging ihm über alles, selbst über ihren Sinn.

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