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Der blaue Schmetterling

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Mein Gast war von einem abendlichen Spaziergang heimgekehrt und saß nun bei mir im Studierzimmer. Vor den' Fenstern lag weit hinaus der bleiche See, scharf vom hügeligen Ufer gesäumt. Wir sprachen von Kindern und Kindheitserinnerungen.

„Seit ich Kinder habe“, sagte ich, „ist schon manche Gewohnheit und Liebhaberei der eigenen Kindheit bei mir wieder lebendig geworden. Seit einem 'Jahr habe ich sogar wieder eine Schmetterlingsammlung. Willst du sie sehen?“

Er bat darum, und ich ging hinaus, um einige von den leichten /Pappkästen zu holen, in denen meine Sammlung untergebracht war. Wir beugten uns darüber, betrachteten die schönen Gebilde, die tiefen köstlichen Farben, nannten die Namen der Falter. „Dieser heißt Gelbes Ordensband“, sagte ich, „lateinisch fulminea, hier in der Gegend ist er recht selten.“

Mein Freund hatte vorsichtig einen der Falter an der Nadel aus dem Kasten gezogen und betrachtete die Rückseite seiner Flügel. „Merkwürdig“, sagte er, „kein Anblick weckt die Kindheitserinnerungen so stark in mir, wie der von Schmetterlingen. Ich war als Knabe ein leidenschaftlicher Sammler.“ Und indem er den Falter wieder an seinen Ort steckt und den Kastendeckel schloß: „Genug davon!“

Er sagte es hart und rasch, als seien ihm diese Erinnerungen unlieb. Gleich darauf, als ich die Kasten weggetragen hatte und wieder hereinkam, lächelte er und bat um eine Zigarette. „Nimm es mir nicht übel“, sagte er, „wenn ich deine Sammlung nicht genauer angeschaut habe. Ich habe als Junge ja auch eine gehabt, aber leider habe ich mir selbst die Erinnerung daran verdorben. Ich kann es dir ja erzählen, obwohl es eigentlich schmählich ist.“

Er zündete seine Zigarette über dem Lampenzylinder an, tat den grünen Schirm auf die Lampe, so daß unsere Gesichter in eine angenehme Dämmerung sanken, und setzte sich auf das Gesims des offenen Fensters, wo seine Gestalt sich kaum von der Dämmerung abhob. Während draußen das hochtönige ferne Singen der Frösche die Nacht erfüllte, erzählte mein Freund das folgende:

„Das Schmetterlingssammeln fing ich mit acht oder neun Jahren an und trieb es anfangs ohne besonderen Eifer, nur weil es eben Mode war. Aber im zweiten Sommer,als ich etwa zehn Jahre alt war, da wurde diesere Sport zu einer Leidenschaft, so daß man ihn mir mehrmals meinte verbieten zu müssen, da ich alles andere darüber versäumte. War ich auf dem Falterfang, dann hörte ich keine Turmuhr schlagen, sei es zur Schule oder zum Mittagessen, und in den Ferien war ich oft, mit einem Stück Brot in der Botanisierbüchse, vom frühen Morgen bis in die Nacht draußen, ohne zu einer Mahlzeit heimzukommen.

Meine Sammlung mußte ich, da meine Eltern mir keine schönen Sachen schenken konnten, in einer alten zerdrückten Kartonschachtel aufbewahren. Ich klebte runde Scheiben, aus Flaschenkorken geschnitten, auf den Boden, um die Nadeln darin festzustecken, und zwischen den zerknickten Wänden dieser Schachtel hegte ich meine Schätze. Anfangs zeigte ich meine Sammlung den Kameraden oft und gern; aber andere hatten Holzkasten mit Glasdeckeln, hatten Raupenhäuser mit grünen Gazewänden und anderem Luxus, so daß ich mich meiner primitiven Einrichtung oft schämte. Ich gewöhnte mir an, meine Beutestücke zu verschweigen und sie nur meinen Schwestern zu zeigen.

Einmal hatte ich den bei uns seltenen Blauen Schiller erbeutet und aufgespannt, und als er trocken war, trieb mich der Stolz, ihn wenigstens meinem Nachbarn zu zeigen, dem Sohn eines Lehrers, der überm Hof wohnte. Er hatte jene Tadellosigkeit, die bei Kindern so unheimlich sein kann. Er besaß eine unbedeutende Sammlung, die aber durch ihre Nettigkeit und exakte Pflege zu einem Kleinod wurde. Er verstand sogar die seltene und schwierige Kunst„ beschädigte und zerbrochene Falterflügel wieder zusammenzuleimen und war in jeder Hinsicht ein Musterknabe, weshalb ich ihn denn aus Neid und Bewunderung nicht mochte.

Ihm zeigte ich meinen Schillerfalter. Er begutachtete diesen fachmännisch, anerkannte seine Schönheit und sprach ihm einen Barwert von etwa zwanzig Pfennig zu. Dann fing er an zu kritisieren, fand meinen Schiller schlecht aufgespannt, den rechten Flügel gebogen, den linken gestreckt, und entdeckte richtig auch noch einen Defekt, denn dem Falter fehlten zwei Beinchen. Ich schlug zwar diesen Mangel nicht hoch an, doch hatte er mir die Freude an meinem Fang verdorben. Zwei Jahre später verbreitete sich das Gerücht, Emil habe ein Nachtpfauenauge aus der Puppe gezogen. Das Nachtpfauenauge hatte noch keiner von uns gefangen, ich kannte es einzig aus der Abbildung in .reinem alten Schmetterlingsbuch. Von allen Schmetterlingen, deren Namen ich kannte und die in meiner Schachtel noch fehlten, ersehnte ich kaum einen so glühend“' wie das Nachtpfauenauge.

Als ich hörte, daß Emil dieses Wundertier besitze, war ich sehr aufgeregt und konnte kaum den Augenblick erwarten, da ich es sehen würde. Nach Tisch, sobald ich von Hause wegkonnte, lief ich über den Hof und in den dritten Stock des Nachbarhauses, wo der Lehrerssohn ein kleines Stübchen allein bewohnen durfte. Niemand begegnete mir u*terwegs, und als ich oben war und an die Kammertür klopfte, bekam ich keine Antwort. Emil war nicht da, aber als ich die Türklinke probierte, fand ich den Eingang offen.

Ich trat ein, um das Tier doch wenigstens zu sehen, und nahm sofort die beiden Schachteln vor, in denen Emil seine Sammlung verwahrte. In beiden suchte ich vergebens, bis mir einfiel, der Falter werde noch auf dem Spannbrett sein. Ca fand ich ihn denn. Die braunen, samtenen Flügel mit schmalen Papierstreifen überspannt, hing das Nachtpfauenauge am Brett; ich beugte mich darüber und sah mir alles aus nächster Nähe an, die behaarten, zimtbraunen Fühler, die eleganten und unendlich zart gefärbten Flügelränder. Nur gerade die berühmten ,Augen' konnte ich nicht sehen, die waren von den Papierstreifen bedeckt. Mit Herzklopfen gab ich der Versuchung nach, die Streifen loszumachen und zog die Stecknadeln heraus. Da sahen mich die vier großen, merkwürdigen Augen an, weit schöner und wunderlicher als auf der Abbildung, und bei ihrem Anblick fühlte ich eine so unwiderstehliche Begierde nach dem Besitz dieses Schatzes, daß ich den ersten Diebstahl meines Lebens beging, indem ich sachte an der Nadel zog und den Schmetterling, der schon trocken war und die Form nicht verlor, in der hohlen Hand aus Emils , Kammer trug.

Das Tier in der rechten Hand verborgen, ging ich die Treppe hinab. Da hörte ich, daß von unten mir jemand entgegenkam, und in dieser Sekunde wurde mein Gewissen wach; ich wußte plötzlich, daß ich gestohlen Hatte; zugleich befiel mich eine schreckliche Angst vor der Entdeckung, so daß ich instinktiv die Hand, die den Raub umschlossen hielt, in die Tasche meiner Jacke steckte. Angstvoll ging idi an dem heraufkommenden Dienstmädchen vorbei und blieb an der Haustür stehen, mit klopfendem Herzen und schwitzender Stirn, fassungslos und vor mir selbst erschrocken.

Alsbald wurde mir klar, daß ich den Raub nicht behalten dürfe, daß ich ihn zurücktragen und alles womöglich wieder ungeschehen machen müsse. So kehrte ich, trotz aller Angst vor einer Begegnung und Entdeckung, schnell wieder um, sprang die Stiegen hinan und stand eine Minute später wieder in Emils Kammer. Ich zog die Hand aus der Tasche und legte den Schmetterling auf den Tisch, und noch bevor ich ihn recht angesehen hatte, wußte ich das Unglück schon und war dem Weinen nahe: das Nachtpfauenauge war zerstört. Es fehlte der eine Flügel und ein Fühler, und als ich den abgebrochenen Flügel vorsichtig aus der Tasche zog, war er zerschlissen und an kein Flicken mehr zu denken. Traurig ging ich nach Haus und saß den ganzen Nachmittag in unserem kleinen Garten, bis ich den Mut fand, meiner Mutter alles zu erzählen. Sie erschrak und wurde traurig; aber sie mochte fühlen, daß schon das Geständnis mich mehr gekostet habe als die Erduldung jeder Strafe.

,Du mußt zu Emil gehen', sagte sie bestimmt, ,und es ihm selbst sagen; das ist das einzige, was du tun kannst. Du kannst ihm anbieten, daß er sich irgend etwas von deinen Sachen zum Ersatz aussucht und mußt ihn bitten, daß er dir verzeiht.'

Bei jedem andern Kameraden wäre mir das leichter gefallen als bei diesem Musterknaben. Ich fühlte im voraus, daß er mich nicht begreifen und mir womöglich gar nicht glauben werde; es wurde Abend, beinahe Nacht, und ich wagte nicht hinzugehen. Da fand mich meine Mutter im Hof und sagte leise: ,Es muß noch heute sein — geh jetzt!'

Da ging ich hinüber und fragte nach Emil; er kam und erzählte sofort, es habe ihm jemand das' Nachtpfauenauge kaputt gemacht; ich bat ihn, mir den Schmetterling zu zeigen. Wir gingen hinauf, er zündete eine Kerze an, und ich sah auf dem Spannbrett den verdorbenen Falter liegen. Ich sah, daß Emil daran gearbeitet hatte, ihn wieder herzustellen, der zerstörte Flügel war sorgfältig ausgebreitet und auf ein feuchtes Fließblatt gelegt, aber er war unheilbar, und der Fühler fehlte.

Nun sagte ich, daß ich es gewesen sei, und versuchte zu erzählen und zu erklären.

Da pfiff Emil, statt böse zu werden und mich anzuschreien, leise durch die Zähne, sah mich eine ganze Weile still an und sagte dann:

,So, so, also so einer bist du!* Ich bot ihm alle meine Spielsachen an, und als er kühl blieb und mich immer nur verächtlich ansah, bot ich ihm meine ganze Schmetterlingsammlung an. Er sagte aber: ,Danke schön, ich kenne deine Sammlung schon. Man hat ja heute wieder sehen können, wie du mit Schmetterlingen umgehst.'

In diesem Augenblick wäre ich ihm beinahe an die Gurgel gesprungen. Es war nichts zu machen, Emil stand kühl in verachtender Gerechtigkeit vor mir wie die Weltordnung. •Er schimpfte nicht einmal, er sah mich nur an und verachtete mich.

Da sah ich zum erstenmal, daß man nichts wieder gutmachen kann, was einmal geschehen ist. Ich ging weg und war froh, daß die Mutter mich nicht ausfragte, sondern mir einen Kuß gab und mich in Ruhe ließ. Ich sollte zu Bett gehen, es war schon spät für mich. Vorher aber holte ich heimlich im Eßzimmer die große braune Pappschachtel vom Schrank, nahm sie mit, stellte sie auf mein Bett und machte sie im Dunkeln auf. Und dann nahm ich die Schmetterlinge heraus, einen nach dem andern, und drückte sie mit den Fingern zu Staub und Fetzen.“

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