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Die (noch) namenlose Geschichte einer Heimkehr

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Acht Jahre war er nicht hier gewesen, und es schien ihm, als fahre er unter südlicherem Himmel durch diese flimmernden Luftschichten auf heißer Erde, quer über diese grausilberne Ebene mit ihren fernen Alleen, die sich wie Holzperlketten von einem scharf emporstechenden Kirchturm zum andern zogen, weit hinein bis in die Tiefe des Landes, und diesem sonderbaren Kanal, schnurgeradem Schnitt durch die Felder, da und dort von einer gewölbten Steinbrücke überspannt, dahinter vielleicht eine Pappel, die man nur als Zypresse zu sehen braucht, und schon glaubt man sich bei Nimes oder Verona, diesem Kanal, den Kaiser Franz für Schiffe hatte bauen lassen und der nun höchstens einen Waschtrog aufhehmen konnte; vor ihm die Berge, unten an den Hängen getupft mit Wein, in die Mulden geschmiegt die Dörfer, jedes Haus weithin ganz deutlich als Einheit erkenn-bar, und oben die Schirmföhren, österreichische Pinien, die Bäume seiner Kindheit. Ob er wollte oder nicht, er mußte an damals denken, an das Dreirad, das auf den gekiesten Gartenwegen nicht rollen wollte, an den Springbrunnen mit dem geborstenen Becken, an Vaters verkrustete Pfeifen und an die gekerbten Bänke der alten Volksschule.

Die Häuser kannte er nicht, manche waren wahrscheinlich erst vor kurzem erbaut, die andern renoviert worden, und die Straße wirkte neu, ihr Verlauf zwar der gleiche, aber der Asphalt schimmerte wie Achat, die gestrichelte Leitlinie in der Mitte blendete weiß, und an diesen kurzen Strichen fuhr er entlang, schlug links ein, schlug rechts ein, immer die Striche neben sich, die zuckten wie die Leuchtspur eines Maschinengewehrs. Trotzdem wußte er immer noch, wo er abbiegen mußte, weg von der vorgezeichneten Bahn, nach rechts auf den Karrenweg, quer über das heiß ab mende Feld auf das Gehölz zu, eine Eiche stand am Rand, halb belaubt, halb kahl, und auf den toten Ästen saßen die schwarzen Vögel, keine Raben mehr, nur noch Krähen. Als er zwischen Birken und Erlen eintauchte, überfielen ihn die Stechmücken, plötzlich wurden die Fahrrinnen feucht, der Wagen begann zu schleudern, er gab Gas, schlitterte durch eine Kurve und mußte jäh bremsen, weil ihm ein Mann mit einem Schubkarren entgegenkam. Der Mann war alt, er trug einen dunklen Anzug und paßte nicht zu seinem Karren; vielleicht war er auch gar nicht gewohnt, so einen Karren zu schieben, denn er warf ihn um, als ihn der Wagen so unvermutet ansprang, kam dadurch selbst zu Fall, lag im Schmutz der Fahrrinnen, und die Last verschwand im Farnkraut unter dem Birkengestrüpp. Gernot stieg aus, half dem Mann auf die Beine und entschuldigte sich. Der Mann antwortete nicht, bemühte sich vergeblich, erst die Hände, dann Hose und Ärmel zu säubern, hob endlich seinen Hut auf und setzte sich auf den umgestürzten Karren. Was ihm beim Anzug nicht gelungen war, versuchte er nun beim Hut; immer wieder strich er darüber hin und verrieb den Schmutz statt ihn zu entfernen.

„Haben Sie sich verletzt?” fragte Gernot. „Steigen Sie ein, ich bringe Sie zu einem Arzt, es ist besser, wenn

„Schon gut”, unterbrach ihn der Mann und stülpte den schmutzigen Hut auf den Kopf. Wenn er sprach, zuckte zwischen den Sehnen des hageren Halses ein großer Adamsapfel, zuckte darunter der Knoten einer angefransten schwarzen Krawatte. „Schon gut. Mir ist nichts passiert, und Sie haben rechtzeitig gebremst. Wissen möchte ich nur, warum Sie von der falschen Seite kommen. Fahren doch alle drüben.”

„Wer fährt drüben?”

„Die Autos. Zur Applanie”.

Gernot erinnerte sich, daß man hier unter Applanie einen zur Einebnung bestimmten Müllabladeplatz verstand, er erinnerte sich, wie sein Vater getobt hatte, als der Ziegelofenteich hinter dem Park zur Applanie erklärt worden war, und nichts ihm geholfen hatte, keine Beschwerden bei den Behörden und kein Vorschieben einflußreicher Bekannter: die Applanie war geblieben, und man hatte begonnen, den Teich zuzuschütten, diesen rundum verschilften Teich, dessen Wasser früher so klar und blau gewesen war. Alle hatten sie als Kinder darin gebadet, schon der Vater, später Günther, Kriemhild und er; Günther hatte ihm den Kopfsprung beibringen wollen, dann aber war einmal der Vater gekommen und hatte Günther gewarnt, daß bei Gernot jede Mühe vergeblich sei, der Name mache noch keinen Nibelungen, in jeder Generation gebe es einen Versager, und Günther hatte mit den Schultern gezuckt, Kriemhild gelacht und Gernot den Kopfsprung erst in der Verbannung gelernt. Das lag viele Jahre zurück, mehr als fünfzehn Jahre länger als der Bescheid zur Ap- planierung, nach diesem Bescheid aber waren die Lastwagen herangetorkelt und hatten ihre Ladungen ins Wasser gekippt, das nun trübe wurde und gelb, die Rainkirchner hatten ihren Bodenkram hier versenkt, vom zerbrochenen Kanapee bis zu abgefahrenen Pneus, und langsam war aus dem Teich ein Hügel emporgewachsen, der freilich schnell verrottete, aber von immer neuen Fuhren wieder aufgebaut und vorgeschoben wurde, bis endlich der Teich verschwinden und fester Boden sich bilden würde. Ziemlich bald nach seinem wütenden Protest ärgerte sich der Vater nicht mehr, denn inzwischen hatte er ja das neue Gebäude mit dem Eingang nach Westen errichten lassen, dort führte die neue Straße vorbei, und von dieser neuen Straße erhielten auch die Müllautos ihren neuen breiten Weg zur Applanie, auf dem man Entgegenkommenden leichter ausweichen konnte. Die ehemalige Zufahrt zum Sitz der Rabeners wurde fast vergessen und nur von jenen Rainkirchnern benützt, die nach wie vor kleinen Abfall hinter dem Rabener-Park abluden und manchmal von dort Gegenstände heimholten, die zwar andere weggeworfen hatten, ihnen aber noch brauchbar erschienen.

Der Mann war aufgestanden, hatte dabei das Nummernschild des Wagens entdeckt und nickte nur. „Aha, Deutschland. Vor euch ist man nirgends sicher. Wohin wollen Sie denn? Wenn Sie da weiterfahren, kommen Sie nur zu einem Misthaufen.

Gernot lachte nicht. „Ist das verboten?”

„Was verbieten die schon? Nur, was früher erlaubt war. Und was früher verboten war, ist alles erlaubt. Na, mir kann das ja egal sein.” Er ging hinüber zum Farnkraut, bückte sich und betrachtete, was er da vom Müll geholt hatte. Gernot trat hinter ihn, schaute ihm über die Schulter: zwischen den Farnen lag ein Harmonium. Der Mann klappte den Deckel auf, prüfte die Tastatur, zog an den Registern, drückte auf die Pedale. „Ich glaube, dem ist auch nichts passiert. Genau kann man das natürlich jetzt noch nicht sagen.” „Woher haben Sie es?”

„Woher? Vom Mist. Oder denken Sie, daß ich es aus Wien gebracht habe, zu Fuß, auf einem Schubkarren?” „Von der Applanie?”

„Ja. Irgend jemand hat es weggeschmissen. Meine Tochter war gestern da, sie hat ihren alten Ofen hergebracht, und dabei ist es ihr aufgefallen. Sicher kaputt, aber ich habe mir immer ein Harmonium gewünscht und vielleicht kann ich es reparieren.” „Einen zerrissenen Balg?”

„Warum nicht? Auch ein Ventil. Ich habe Zeit und Geduld, notfalls sogar Freunde ipit Werkstätten, die größer sind als meine.” Er beugte sich vor und richtete ohne merkbare Mühe das Instrument auf; da stand es nun, rotbraun und fremd im dampfenden Grün, von Mücken umschwärmt und von den schwarzen Vögeln auf der nahen Eiche mißtrauisch beäugt. Gernot wollte dem Mann helfen, der aber wies ihn mit einer leicht verächtlichen Handbewegung zur Seite und kantete den schweren Kasten mit wenigen Drehungen zur Wegmitte. Er keuchte nicht, er schwitzte nicht einmal, er sagte ruhig; „Fürs Zusammenarbeiten muß man einander kennen. Würden Sie jetzt bitte den Karren aufs Rad stellen? Alles Übrige mache ich.”

Gernot gehorchte, der Mann deutete ihm, daß der Karren noch ein wenig näher stehen müsse, kippte dann mit einem einzigen Griff das- Harmonium darauf, hielt plötzlich inne, schüttelte ärgerlich den Kopf, nannte sich einen Idioten, kippte das Harmonium wieder herunter, kantete es zurück ins Farnkraut, führte den Karren auf die andere Seite des Weges, wies auf den Wagen und befahl: „Fahren Sie! Los! Fahren Sie!”

„Warum? Was habe ich Ihnen getan?”

„Ist das so schwer zu verstehen? Wie soll ich an Ihnen vorbei?”

Gernot begriff, stieg in seinen Wagen, fuhr ein kurzes Stück, hielt an, kam zurück. Inzwischen hatte der Mann schon wieder seinen Karren in die richtige Stellung gebracht, kantete eben das Harmonium hinzu und kippte es auf den Karren, bevor ihm Gernot noch helfen konnte. „So, das wär’s”, sagte er und rieb seine Handflächen aneinander. „Gute Reise zum Misthaufen. Und passen Sie auf. Nach ungefähr hundert Metern bleiben Sie ganz rechts. Links ist ein richtiges Sumpfloch.”

Er nickte, wandte sich um, hob die Holme seines Karrens an und machte sich auf den Weg. Gernot sah ihm nach, sah ihn hinter den Büschen verschwinden und hörte ihn wenig später laut pfeifen, ein Lied im Marschrhythmus, aber es war gar kein Marsch, es war das Gloria aus Schuberts Deutscher Messe, und als er an Schubert dachte, fiel ihm plötzlich ein, daß er eben seinem alten Lehrer aus Rainkirchen begegnet war.

Er lachte laut. Die schwarzen Vögel erschraken und flogen auf.

Knapp hinter dem Sumpfloch kam er an die Mauer, wegen ihrer Länge von fast sechshundert Metern und der demgemäß hohen Kosten ihrer Erhaltung ein besseres Statussymbol als Schloß oder Park. Eine Weile fuhr er daran entlang, dann sah er links das altvertraute Gittertor, ein wenig schief und verrostet zwischen seinen gemauerten Pfeilern, die an der Spitze von steinernen Tumierhelmen geadelt wurden. Dieses Tor hatte man früher passieren müssen, um Roppendorff zu erreichen, nun zweigte vom Weg zur Applanie ein kaum mehr erkennbarer, von niedrigen Sträuchern überwucherter Pfad ab. Gernot hielt, stellte zufrieden fest, daß die beiden Mittelstäbe des Tors wie seinerzeit von einer Kette mit großen Vorhängschloß zusammengehalten wurden, stieg aus, prüfte zunächst, ob die Stämme der Sträucher dem Wagen nicht schaden könnten, untersuchte hierauf die Kette und nickte: immer noch war eines ihrer Glieder ein wenig auseinandergebogen. Er löste es, nahm die Kette ab, öffnete das Tor, fuhr den Wagen hindurch und legte Kette samt Schloß fürsorglich wieder um die Stäbe. Hier zumindest hatte sich nicht viel geändert

Draußen blieb der Misthaufen, von dem der Lehrer gesprochen hatte, er selbst war nun drinnen im Besitz der Rabener, selbst ein Rabener, auf diesem Boden gezeugt und geboren, ein wenig sogar aufgewachsen, bevor ihn der Vater hinausgetrieben hatte. Viel Erinnerung und trotzdem keine Heimat. Dort drüben beim Weißdorn war einmal der Hasenstall gewesen, nein, natürlich keine Hasen, nur noch Kaninchen, wie es auch keine Raben mehr gab, nur noch Krähen; nach dem Krieg hatten sie so ein Kaninchen als Weihnachtsbraten eingehandelt, die Kinder spielten damit, nannten es Kasimir, und als es dann auf den Tisch kam, hatte sich Gernot geweigert, Kasimir zur Feier von Christi Geburt zu verzehren. Der Vater war böse geworden, denn er glaubte fest daran, daß dieses Leben mit einem weichen Gemüt kaum zu meistern sei, und wenn das Pech schon wollte, daß eins seiner Kinder weich war, dann mußte es eben zur Härte erzogen werden. Gernot war also gezwungen worden, zumindest einen Bissen Kasimir hinunterzuschlingen, und hatte diesen Bissen gleich darauf wieder erbrochen.

Links die Krockettwiese mit dem achteckigen weißen Pavillon, Salettl genannt. Als es um 1950 den Rabeners wieder besser zu gehen begann, hatte der Vater eine Lichtleitung hierher legen lassen und zu Gartenfesten eingeladen; hundert Lampions erhellten dann den Platz und im Hintergrund brannte ein großes Holzfeuer, das die Gelsen vertreiben sollte; im Pavillon saß ein Harmonikaspieler, der am frühen Abend Heurigenschnulzen, später Filmschlager und schließlich Soldatenlieder spielte, bei denen die Männer wieder jung wurden und begeistert zu grölen anfingen, vom Wind über dem Westerwald, von der Erika oder von den grauen Kolonnen im Feindesland. Einmal hatte sogar jemand das Horst-Wessel-Lied angestimmt, war aber vom Vater sofort unterbrochen worden. Immerhin saßen ja die Russen im Land, ihr Hauptquartier war im nahen Baden, und auch mit den österreichischen Behörden durfte man nicht spaßen, wenn die Texte solcher Jugendgesänge nicht bloß militärisch, sondern politischen Inhalts waren. So hart der Vater sein konnte, achtete er doch nie genau darauf, wann die Kinder schlafen gingen, und Alkohol war ihnen keineswegs streng verboten. Bei einem der Gartenfeste hatte der elfjährige Gernot zuviel genippt, begann zu taumeln und wollte auf sein Zimmer fliehen, der Vater aber hatte ihn beobachtet, holte ihn zurück und setzte ihn an seinen Tisch der grauen Kolonnen vor ein volles Glas Rotwein. Erst als er das ausgetrunken hatte, durfte er sich ordnungsgemäß abmelden, mußte sich bei sämtlichen Tischgenossen mit Handschlag verabschieden und dann, von zehn Männern mit spöttischer Sympathie beäugt, in aufrechtem Gang über die Wiese zum Schloß gehen. Wenn du trinken willst wie ein Mann, mußt du auch Haltung zeigen wie ein Mann, hatte der Vater gesagt.

Rechts die beiden Buchen, zwischen denen die Schaukel gehangen war, weiter vom die Platane, die Günther einmal als Marterpfahl für den Bruder benutzt hatte; Gernot wußte sehr gut, daß von Günther trotz seiner wilden Kriegsbemalung nichts zu fürchten war, aber Kriemhild hatte Streichhölzer unter seinen Fingerspitzen angebrannt, heulend war er zur Mutter ge laufen, die hatte Kriemhild geohrfeigt, heulend war Kriemhild zum Vater gelaufen, und der hatte sich Gernot vorgenommen: erstens müsse man Schmerzen ertragen lernen, zweitens dürfe man als Bub einem Mädchen keinen billigen Triumph gönnen, und drittens sei ein Denunziant das drek- kigste Lebewesen unter der Sonne.

Endlich das Schloß mit beiderseits abwärts gekrümmter Freitreppe und gekiestem Vorplatz. Rosenbeete, Springbrunnen, Tisch, Sonnenschirm, bunte Gartenstühle, ein wenig abseits der neue Swimming-Pool, den Gernot hoch nicht kannte. Er stellte den Wagen unter den Schatten der Platane, ging über den Vorplatz zum Tisch. Der war nicht abgeräumt, Tassen mit Kaffeeresten standen vor drei Plätzen, neben einem Stuhl eine Kühltasche. Er öffnete sie, holte die Flasche mit Wodka und Fruchtsaft heraus, suchte ein sauberes Glas, fand keins, nahm ein gebrauchtes, füllte es und ging, das Glas in der Hand, zum Springbrunnen.

Sehr heiß. Thermenlinie, Vegetation wie nirgends sonst in dieser Breite, Nuhes, Pappeln als Zypressen, geborstenes Becken, drüben das blaue Wasser eines Swimming-pools, aber es erinnert an Plastik, Wodka-Lemon vor einer Freitreppe aus dem achtzehnten Jahrhundert. Er setzte sich an den Tisch, an dem er so oft als Bub gesessen war, hielt immer noch das Glas in der Hand, drehte es langsam und starrte in die Flüssigkeit. Eine junge Frau stieg die Treppe herunter, kam auf ihn zu. Sie trug ein kurzärmeliges weißes Leinenkleid, warm hob sich die braune Haut davon ab, das volle blonde Haar war im Nacken aufgesteckt, das Gesicht wirkte breit und ein wenig bäurisch.

„Sie sind wahrscheinlich Herr Doktor Rabener aus Deutschland”, sagte sie. „Wir haben Sie erst abends erwartet. Von den Herrschaften ist niemand zu Hause, nur die alte Dame, wenn Sie die begrüßen wollen. Sie wohnen im dritten Fremdenzimmer, ich werde es Ihnen zeigen, wenn es Ihnen recht ist.”

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