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Peter Anich, der STERNSUCHER

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26. Fortsetzung

Auch über die Sterne hatten sie nicht geredet, und die Frage um das Rechenbuch hatte Petet vergessen und den Bruder als einen schwatzhaften Diener hingestellt, alles nur dieser einen ungelösten Frage wegen.

Wunderliche Dinge fielen ihm ein, da er ' so zwischen Regen und Sonnenschein dahin-schritt. Auch das Märlein vom Froschkönig und dem Eisernen Heinrich, das ihm der Vater als sein liebstes so oft erzählt hatte. Der Leni hatte dann der Froschkönig gar wohl gefallen, die goldene Kugel, die prächtige Hochzeit, auch noch der anmaßende Frosch, wie er glitschnaß auf die leine Königstafel sprang. Ihm selbst aber war der Eiserne Heinrich gar verwunderlich und prächtig erschienen, gar die Stelle, da dem getreuen Diener ein eiserner Ring mit einem mächtigen Knacks über seinem Herzen zersprang. Er selbst spürte freilich die Ringe über seinem Herzen noch enger, noch fester. Er hatte keinen Herrn neben sich, um dessentwillen ihm die Reifen abspringen mochten, er trug das letzte, das scheinbar so einfache und nun so abgrunddunkle Exem-pel in dem Schreibbüchlein an der Brust und mit ihm sein Schicksal. Sooft nun ein Gefährt ihm entgegenkam, verharrte er und sah die darinsitzenden Leute gut an, ob nicht doch am Ende der Invalid wiederum des Weges käme. Audi die Lüge von München und dem Kurfürsten hätte er dem Invaliden nun mit Freuden verziehn und ihn mitgenommen und beherbergt und gefüttert vierzehn Tage lang. Es kamen ihm aber nur wenig Wagen entgegen, und diese führten Weinfässer und Flachsbündel oder mürrisches Volk.

Und wiederum dachte er an des Soldaten seltsame Rede, daß einer in der Welt fände, was er nur mit ganzem Herzen und ein wenig Hartnäckigkeit suche. Das war richtig, und er selber war für solche Weisheit der schönste Beweis. Aber vielleicht doch nicht zur Gänze richtig, wie alies, was der Landstreicher geredet hatte. Peter hatte wahrlich in seinem Leben zwischen all den verwirrten Gedanken nichts sehnlicher gesucht als die exakte Lösung jenes Exempels, und er fand sie nicht, auch im entferntesten nicht, ob er nun fröhlich dahinlief oder trotzig, ob er an seinen Vater dachte oder an die daheim wartende Mutter, ob er betete oder stumm blieb in seinem Merzen, ob er sich im Geist in den geheimnisvollen Kreis verbiß oder ihn mit Bedacht Vergaß.

Als er aber dann den Roßkogel vor sich aufragen sah und die Wälder, ober denen ein Dorf lag, sdiien ihm doch, die Waagschale der Zuversicht sei nun schwerer geworden denn jene der Verzagtheit, ja es war ihm, als träte nun der Vater vor ihn hin und sagte mir deutlicher Stimme: „Das hat der Peter trotz allem gut gemacht.“ Er spürte aber jetzt audi, daß er bisher allzuarg gelaufen war und gedachte mit heißen Wünschen der zurückgelassenen Wurst und des halben Kruges Wein.

Vor den ersten Häusern von Völs, neben einer alten wettermorschen Hütte, fand er den rechten Platz zu einer kurzen Rast. Die Sonne zeigte nach seiner Schätzung auf fünf Uhr, und in gut zwei Stunden konnte er Oberperfuß erreichen. Peter ließ sich auf einen Bretterstapel nieder und kramte in seinem Buckelkorb. Er betrachete jetzt erst die Büchse mit der kostbaren Salbe, roch daran und lüftete ein Zipfelchen des Pergaments, mit dem das Büchslein verbunden war. Die Farbe schien ihm richtig, der Geruch heilsam. Auch die silbernen Knöpfe ließ er in der Sonne finkein. Sie waren mit zwanzig Kreuzern nicht überzahlt. Am Grunde des leeren Korbes entdeckte er aber jetzt drei Schmalzküchel. Er biß rasch in die fetten Brocken und gedachte mit Rührung der kleinen Schwester, die ihm diesen Leckerbissen wohl heimlich gebacken und in den Korb gesteckt hatte. So heimlich, daß sie selbst dem Soldaten entgangen waren. Im Dorf sdilug ein Hund an, Hühner kamen schreiend herbeigerannt und warteten auf einen Bissen.

Da er aber nun zufrieden vor sich hinblickte, bemerkte er einen alten Leiterwagen, der drüber der Straße unter einer mächtigen Linde stand. Das war weiter keine Besonderheit, auch daheim hatte er zwei solche Wagen stehen, nur waren sie besser beisammen und weniger windschief gebaut. Sooft er aber auch über den Wagen hinaus die alten Kirschenalleen entlang blickte, die da über und über weiß in der späten Sonne leuchteten wie der noch strahlende Schnee unter den Gipfeln, seine Augen kehrten immer wieder zu dem verwahrlosten Wagen zurück. Er war sicher einmal blau ange-stridien gewesen. Doch die nun von Kot überkrustete Farbe war das Seltsame wohl nicht, auch nicht die etwas altertümliche Form der Leitern und der Deichsel. Erst als er zum drittenmal von den Gipfeln und Kirschenbäumen zum Wagen zurückfand, wußte er, was ihn daran festhielt- Am rechten Vorderrad fehlten zwei Speichen. Er lachte darüber. Das war bei einem alten ausgedienten Gefährt nicht absonderlich. Aber seine alte Leidenschaft, daß er hinter jedem Ding irgendweldie nutzbare Bedeutung suchte und auch bald fand, hatte ihn bereits ergriffen. Wenn der Wagen ihn gegen seinen Willen immer wieder anzog, dann war etwas an ihm, das sich aussprechen wollte, und er mußte nur darauf. merken.

Plötzlich sprang Peter auf und trat nahe an den Wagen heran. Er tat dann wiederum einen Schritt zurück und prüfte das Rad mit seinen Augen. Es ruhte aber so, daß eine der unverletzten Speichen haarscharf lotrecht zum Erdboden stand. Wenn er also vom ebenen Boden aus eine senkrechte Linie zur Höhe führte, dann traf diese den Mittelpunkt des Rades. Die noch in der Nabe verankerte Speiche war hiefür der allcrdeut-lichste Beweis. Peter überlegte ein wenig, dann kehrte er an den Bretterstapel zurück, suchte ein schmales kurzes Brett, trug es zum Wagen hinüber und stellte es so neben dem Rade auf, daß nunmehr eine andere unverletzte Speiche senkrecht auf das Brett verlief. Auch diese Speiche, sie konnte ja nicht anders, mündete mitten in die Nabe. Der Mittelpunkt des Rades war also jener Punkt, in dem die beiden Speichen zusammentrafen. Peter ließ das Brett zu Boden klatschen, rannte wieder zum Stapel, riß das Schreibbüchlein aus der Tasche, spitzte die Bleifeder und probierte vorerst auf einer leeren Seite seines Büchleins. Da standen denn auch sogleich die beiden geraden Linien scharf entlang den Kreisresten und die beiden Senkrechten darauf, und wo sie einander trafen, dort war der rechte Punkt. Peter verhielt den Atem, aber ein neues Bedenken meldete sich sogleich. Der Professor hatte eine exakte Arbeit verlangt. Durfte er deshalb die .beiden Geraden irgendwie und irgendwo an die Kreisreste anlegen? War es wirklich gleichgültig, ob sie schief oder mehr gerade standen? Er mißtraute seinem Gefühl und zeichnete das Ganze noch einmal und auf einem dritten Blatt. Er legte jetzt eine Linie neben der andern an den Kreis. Wie ein Igel sah jener nun aus. Und siehe, jede Senkrechte traf scharf wiederum die Mitte des Kreises. Er ritzte mit dem Stock einen Kreis in den Straßenstaub, legte statt der Linien Bretter auf den Boden und senkrecht auf die Bretter schmale Latten. Es blieb wahrlich kein Zweifel: sofern die Gerade den Kreisboden nur an einem Punkt berührte, traf die Senkrechte darauf den einen, den herrlichen*Punkt, jede, ohne Ausnahme und ohne irgendwelches Kunststück. Da warf er, was er herausgestellt hatte, den Tiegel und das erst angebissene letzte Schmalzküdiel in den Korb, fuhr in die Tragriemen, ergriff den Stock und eilte gegen Innsbruck zurück. Das Schreibbüchlein und das Blatt mit dem gelösten Exempel aber trug er vor sich her wie eine Fahne.

Eine Stunde später verwunderten sich die Spaziergänger, als sie einen jungen Bauern mit einem anscheinend leeren Buckelkorb durah die Straßen der Stadt Innsbruck laufen sahen, verschwitzt und keuchend und ein Blatt Papier in der Hand. Der Pförtner des Jesuitenkollegs in der Silbergasse aber verwunderte sich noch mehr, daß er den jungen Mann schon nach zwei Stunden wieder vor sich hatte. „Den Pater Ignaz kannst du heut nicht mehr sprechen“, sagte er, „der arbeitet jetzt bis in die Nacht hinein in der Universität mit seinen Studenten.“

Der brummige Famulus im Armarium Physikum aber schüttelte bloß den Kopf. „Wenn Er will, geh Er hinüber ins Colle-gium Museum“, sagte er, „vielleicht freut sich der Pater wieder über Ihn. Weiß man das?“ Er dachte aber bei sich: Jetzt schmeißt er den Bauernkerl endlich hinaus.

Peter verschnaufte ein wenig vor der Tür des Lehrsaals, dann tat er sie auf. Er sah einen Haufen junger Leute an Tischen vor allerlei Instrumenten sitzen und hantieren-Genaueres sah er nicht, denn es dämmerte schon. Auch bekannte Gesichter vom Mittag her waren unter den Burschen. Der Professor aber kam bereits mit großen Schritten auf ihn zu, befahl seinen Hörern ein gestrenges Silentium, ergriff Peter am Arm und führte ihn aus dem Saale.

„Bist nicht heimgegangen?“ fragte er und ergriff das dargereichte Papier. Er gab es aber gleich wieder Peter zurück. „Woher hast du nun die Lösung?“

„In Völs hab ich sie gefunden.“

„Bis Völs ist der Mensch also gelaufen und wieder zurück, zwei Stunden gelaufen!“ Er legte die Hand auf seine Schulter.

Peter nickte. Es war gut, daß er die Hand spürte. Sie hielt ihn, jetzt, wo ihm die Knie ärgerlich zitterten.

„Jetzt geh aber endlich heim“, mahnte der Professor sanft, „sonst ängstigt sich die Mutter doch allzusehr um ihren Peter.“

„Und in vierzehn Tagen?“

„Das hätte ich schier vergessen“, sagte der Pater und strich sich das dünne Haar aus der Stirn- ,.Du kannst natürlich schon morgen wiederkommen, oder besser am nächsten Samstag. Immer am Samstag. Das ist mein freier Tag, und dann studieren wir miteinander, ja, wir beide.'s ist schon besser, ich selbst nehm dich in die Lehre, Peter.“

„Ja“, sagte Peter. Aber auch dies knappe Wörtlein kam kaum hörbar über seine Lippen.

Die Kollegen von der Gottesgelehrsainkeit, noch mehr jene von den Schönen Künsten nannten den überaus tätigen Herrn von Weinhart nicht ohne einige Verwunderung gern einen Pedanten. Er hingegen sagte jedem, der da hören wollte, die griechischen, die lateinischen Herrn hätten leicht spötteln, für sie bestehe kaum Gefahr, daß das zuweilen sehr stürmische Leben aus ihrem durch Überlieferung und Stoff genau gezirkelten Kreise ein unregelmäßiges Vieleck mache. Audi die Theologen trügen bei aller himmlischen Unendlichkeit ihres Pensums immerhin den unwandelbaren Schwerpunkt in sich, sie seien, sofern sie solche Überlegungen überhaupt anstellten, zentripetale Menschen,in allen strittigen Fällen aber sei doch von den Vätern und den Meistern der Scholastik alles Wesentliche bereits gedacht und gesagt. Mit der Unfehlbarkeit des großen Aristoteles in physicis abjsr sei es denn doch längst vorbei, und ein Gelehrter der natürlichen Dinge baue ständig an einer Brücke, ohne das andere Ufer auch nur zu erahnen. Cr, von Weinhart, selbst sei wohl kein Medizinmann geworden wie sein Vater und Großvater, immerhin liege ihm nidit bloß seine eigene Klugheit am Herzen wie den lieben Kollegen von den anderen Fakultäten, sondern auch die seiner lieben und weniger geschätzten Nächsten- Dabei sei es ganz gleich, ob eine hohe Regierung eine neue Landaufnahme von ihm fordere oder ein armes Bäuerlein fettere Karpfen züchten wolle. Er frage, sobald er gerufen werde, nicht, ob die S.iche, gar die Person auch Weg und Zeit lohne, er sei ein Arzt der besseren Vernunft und fühle sich als solcher durchaus in seinem Jahrhundert daheim und glücklidi.

(Fortsetzung folgt)

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