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OSTERN IN LEIPZIG

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Der Eilzug Erfurt—Warschau hatte die polnische Grenze passiert. Die Reisenden in unserem Abteil waren bester Laune. Weder die deutschen noch die polnischen Zollbeamten hatten unsere Koffer besonders genau durchsucht, und es war allen gelungen, die im Ausland gekauften Andenken gut über die Grenze zu bringen, sogar die, deren Menge mit den entsprechenden Vorschriften nicht übereinstimmte. Der nervlichen Anspannung beim Erwarten der Zollkontrolle War eine Entspannung gefolgt. ■ Die Damen, die vor kurzem nicht ruhig auf ihren Plätzen sitzen konnten und ein um das andere Mal einen Blick auf die Koffer warfen, in denen „eigentlich so weiter nichts drinnen war“, prahlten jetzt mit ihren großartigen Einkäufen und mit ihrer Geschicklichkeit, billige polnische Waren gegen teure und in den Kommissionsgeschäften gesuchte ausländische einzutauschen. Von den kaufmännischen Eröffnungen ging die Gesellschaft auf eine intimere Sphäre über. Die Herren erzählten von ihren „Eroberungen“, die Damen von den Verehrern, die von den reizenden Ausländerinnen ganz hingerissen waren.

Nur eine Reisende nahm an dem allgemeinen Gespräch nicht teil. Sie saß in eine Ecke des Abteils gekauert, und ihre tiefliegenden schwarzen Augen irrten in Gedanken versunken über die an der Fensterscheibe vorüberziehenden Landschaftsbilder.

Dieses Verhalten, das so anders war als das der anderen Touristinnen, erweckte meine Neugierde. Läßt diese elegante, schöne Frau schon alles so gleichgültig, daß sie nicht einmal eine Auslandsreise in der Gesellschaft fröhlicher junger Leute aus dieser Apathie herausreißen kann? Oder vielleicht ist sie einfach mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, vielleicht hat sie irgendwelche Sorgen? Ich wollte sie schon anreden, aber ich fürchtete, für taktlos gehalten zu werden. Aber schließlich faßte ich doch Mut, ermuntert durch ihr Lachen, mit dem sie die Erzählung einer der Damen über ihr Abenteuer quittierte.

„Und Sie, gnädige Frau, haben Sie während dieser Reise auch irgendein Abenteuer gehabt?“ — fragte ich und drehte mich auf ihre Seite. Sie sah mich mit ihren großen, schwarzen Augen sichtlich erschrocken an.

„Ich? Ja“ — sagte sie und wurde plötzlich ganz ernst. Aus ihrem Gesichtsausdrack wurde mir klar, daß ich diese Frage nicht hätte stellen sollen. Aber schon bat die danebensitzende üppige Blondine, die vorher mit ihrer Schmugglerkunst (hundert Haarnetze im Polster) geglänzt hatte: „Erzählen Sie uns doch!“ Und die anderen Damen riefen durcheinander: „Bitte! Bitte!“ — „Jetzt sind Sie an der Reihe!“ — „Sie haben noch gar nichts erzählt.“

Die Belästigte kauerte sich zusammen und drückte sich noch mehr in die Ecke des Waggons, als wollte sie vor der Zudringlichkeit der Mitreisenden flüchten, aber nach einer

Weile überwand sie die erste Regung der Angst oder Scham und nickte mit dem Kopf: „Gut, ich erzähle.“

Sie sagte das ganz leise, jedoch in dem Ton ihrer Stimme lag ein dramatischer Akzent, der zur Aufmerksamkeit zwang. Die heitere Gesellschaft verstummte und war ganz Ohr.

„Mein .Abenteuer“ “ — sie betonte dieses Wort — „begann so ähnlich wie die, von denen die Damen hier erzählt haben. Es geschah an jenem Abend, als unsere ganze Gruppe in die Oper ging, und ich, da ich den ,Faust“ schon viele Male gesehen habe, es vorzog, einen einsamen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Ich wanderte also durch die zu dieser späten Stunde schon leeren Straßen der Leipziger Innenstadt und blieb vor den interessanteren Auslagen stehen und vor den Bauten, deren Architektur sehenswert war. Da bemerkte ich plötzlich, als ich gerade vor der Auslage eines großen Optikergeschäftes stand, daß mich irgendein Mann aufdringlich von allen Seiten ansah. Ich betrachte das einfach als zudringliches Verhalten von jemandem, der eine Gelegenheit sucht, eine Bekanntschaft zu machen, tat, als ob ich nichts bemerkte, und ging weiter zur nächsten Auslage. Als ich vor dem Hutgeschäft stehen blieb, sah ich mich unauffällig um und stellte fest, daß mir der Unbekannte nachging. Das begann mich nervös zu machen. Ich blieb stehen, bis er mich überholt hatte. Erst jetzt sah ich mir ihn genauer an. Er war groß, schlank und wirkte sehr sportlich. Er hatte einen hellen Popelinemantel an und einen grauen Hut auf. Nach dem Aussehen konnte man ihn auf einige Jahre über Dreißig schätzen. Ich konnte sein Gesicht nicht gut sehen, hatte jedoch den Eindruck, daß diesmal seine Art mich anzusehen eher an den aufmerksamen Blick eines Polizisten erinnerte, als an den Annäherungsversuch eines Frauenhelden. Ich hatte ein komisches Gefühl. Konnte denn mein Aussehen irgendeinen Verdacht erwecken? Ich machte einen Blick auf die Uhr. Es war schon gleich elf, und die Straßen Leipzigs wurden immer leerer. Ich entschloß mich, zum Hotel zurückzukehren. Ich kehrte um und beschleunigte meine Schritte. Ich war sicher, daß ich auf diese Weise den aufdringlichen Kerl loswerde. Aber es konnte kein Zweifel bestehen, daß er mich verfolgte. Zum Glück war es bis zum Hotel nicht sehr weit. Nur noch zwei Straßen, die gut beleuchtet und nicht vollkommen menschenleer waren, so daß ich im Notfall schreien und mir jemand zu Hilfe kommen könnte…

Erst als ich am Hoteleingang angelangt war, blickte ich mich um. Der Unbekannte ging auf mich zu und ließ mich nicht aus den Augen. Ich drückte schnell auf die Drehtür und befand mich in der Halle. Ich ging zur Rezeption um den Schlüssel. — Er wird es doch nicht wagen, hier zudringlich zu werden? — Er wagte es. Als ich mich umdrehte, stand er unmittelbar vor mir und sah mir geradeaus in die Augen. Er nahm den Hut ab, jetzt konnte ich also deutlich sein Gesicht sehen: eine hohe Stirn, schüttere blonde Haare, kurz geschnitten und nach rückwärts gekämmt, schmale und etwas bleiche Lippen, blaue Augen, die wie von Trauer umnebelt aussahen.

,Was wollten Sie von mir?' fragte ich schroff auf Deutsch. ,Sie leiben also! sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung. ,Ich lebe", bestätigte ich diese ziemlich offensichtliche Tatsache. ,Aber was geht das Sie an?‘ — ,Das geht mich sehr, sehr viel an‘, sagte er jetzt schon, ohne seine Freude zu verbergen. ,Ach, wenn ich das schon früher gewußt hätte, daß Sie leben. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wichtig das für mich ist. Ja, ja, das sind Sie. Jetzt bin ich schon sicher, daß Sie es sind. Dieses Gesicht, diese schwarzen Augen … dieses Gesicht würde ich überall erkennen .. . ,Ich verstehe überhaupt nichts. Wollen Sie mir vielleicht einreden, daß ich Sie schon früher gekannt habe?

,Sie erkennen mich nicht? Nun ja, Sie können mich nicht erkennen. Für Sie war ich ja damals überhaupt kein Mensch. Aber ich kann mich auf Sie ganz genau erinnern. Je länger ich Sie ansehe, desto sicherer bin ich, daß Sie es sind.'

Das begann mich langsam zu irritieren, dieses Einreden einer Bekanntschaft, auf die ich mich mit bestem Willen nicht erinnern konnte. .Jetzt erklären Sie mir endlich einmal, was das alles zu bedeuten hat. Ich nehme an, daß Sie mich entweder für jemand anderen halten, oder geht vielleicht Ihre Frechheit so weit../ — .Seien Sie nicht böse", unterbrach er mich und sah mich mit einem Ausdruck sanfter Nachgiebigkeit in den Augen an. ,Ich werde Ihnen alles erzählen.1 — .Dann setzen wir ims also1, sagte ich, als ich unweit ein paar leere Fauteuils sah, die für die Gäste bestimmt sind, die ihre Meldeformulare ausfüllen.

Er nahm meinen Vorschlag bereitwillig an. Kaum hatten wir Platz genommen, begann er schon zu sprechen; er blieb dabei gelegentlich ein wenig stecken und sah mich unaufhörlich in einer Art und Weise, die mich in Verwirrung brachte, an.

.Sie sind … Polin, nicht wahr? Es stimmt also alles. Jetzt wissen Sie schon, worum es sich handelt. Ich war damals kaum siebzehn Jahre alt. Ich war so erzogen worden wie alle. Ich glaubte an ihn, an den Führer. Ich sage die Wahrheit, denn wenn ich sagen würde, daß ich damals ein Antifaschist gewesen sei, dann würden Sie mir ja doch nicht glauben. Aber ich war nicht schlecht. Ich komme aus einer anständigen Familie. Ich wurde zum Militär einberufen, so ging ich also. Die Mutter weinte, der Vater, der von der Ostfront mit einer Hand und mit abgefrorenen Füßen nach Hause gekommen war, war verzweifelt. Aber ich ging, was sollte ich sonst tun? Für Führer und Vaterland. Es waren das schon die letzten Monate des Krieges. Es glaubten nicht mehr viele an den Sieg. Aber man mußte seine Pflicht bis zum Ende erfüllen. Zuerst die Kasernen, die Musterung, das Exerzieren, und dann die erste Kampfaufgabe. Dieser fürchterliche Konvoi, bei Frost, einige zehntausend Menschen, hunderte Kilometer zu Fuß. Aber wozu soll ich Ihnen das erzählen. Sie können sich schließlich besser als ich daran erinnern. Aber glauben Sie mir, das war für uns ebenso schrecklich wie für euch. Nein, was sage ich denn da. Das kann man ja überhaupt nicht vergleichen. Wir waren gut verpflegt, warm angezogen, und ihr seid vor Hunger und Erschöpfung zusammengebrochen/

.Hören Sie auf, ich bin nicht.. .“, versuchte ich ihn zu unterbrechen, aber er sprach weiter und ließ mich nicht zu

Wort kommen. .Lassen Sie mich bitte fertigerzählen. Ich weiß, daß Sie berechtigt sind, mich zu verurteilen, daß ich nichts zu meiner Rechtfertigung sagen kann, nur soviel, daß ich siebzehn Jahre alt war und daß es ein Befehl war. Befehl ist Befehl. Ein Soldat muß jeden Befehl ausführen. Trotzdem schoß ich nicht. Ich tat so, als ob ich es nicht bemerkte, wenn die eine oder andere zur Seite ging und im Schnee verschwand. Übrigens war das bedeutungslos. So und so wartete der Tod auf sie. Der Schuß verkürzte nur die Leiden. Und damals wollte ich auch nicht schießen, als Sie … Ich hatte schon vorher gesehen, daß Sie immer schwächer werden, daß Sie kaum noch die Füße heben können. Ich ging direkt daneben. Ich rief: .Schneller! Schneller!1 Damals sahen Sie mich an, und ich sah zum erstenmal Ihr Gesicht, diese Augen, diese schönen schwarzen Augen, die ich niemals mehr vergessen konnte. .Schneller!1 rief ich, .schneller!“ Aber Sie gingen immer langsamer, bis Sie schließlich am Straßenrand niederknieten. Erinnern Sie sich? Aber ich wollte noch nicht schießen, aber er, der, der hinter mir ging, der SS-Mann schrie: .Schieße, du Feigling, schieße!1 Ich schoß also… ach, sehen Sie mich doch bitte nicht so an… ich schoß gerade, ganz gerade, damit Sie nicht leiden müssen …“

.Genug1, schrie ich, weil ich mir das einfach nicht mehr anhören konnte. .Verschwinden Sie augenblicklich. Ich bin nicht…" — .Bitte haben Sie keine Angst1, entschuldigte er sich mit sanfter Stimme, .jetzt kann Ihnen doch nichts mehr geschehen, wo Sie doch leben, wo Sie ja doch am Leben geblieben sind. Durch welches Wunder sind Sie gerettet worden? Ich habe Sie doch getroffen. Zumindest ist es mir so vorgekommen. Und dieser Frost und der Schnee. Selbst wenn Sie dort am Leben geblieben wären…“

Ich begann langsam zu verstehen, worum es ihm ging. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Ich hätte Haß gegen ihn empfinden sollen, aber ich empfand eher Mitleid. Ich sah, daß er gerührt war, daß sich seine Augen mit Tränen füllten.

.Fragen Sie bitte um nichts1, antwortete ich. .Genügt es nicht, daß ich lebe?1

,Ja, Sie haben recht. Das genügt mir, das genügt mir vollkommen. Ich frage Sie nichts mehr. Wenn Sie davongekommen sind und leben, dann kann ich vielleicht endlich meine

Schuld vergessen. Vielleicht hören mich nun endlich Ihre Augen zu verfolgen auf, diese Augen, die ich in jedem fremden schwarzhaarigen Mädchen suchte. Ich wage es nicht, Sie um Verzeihung zu bitten. Ich verstehe, was Sie empfinden, wenn Sie den ansehen, der auf Sie geschossen hat. Allein die Tatsache, daß Sie mich nicht verdammen, ist für mich schon ein Gnadenakt. Ich danke Ihnen.“ “

Die Erzählerin verstummte und senkte den Kopf. Nach langem Schweigen fragte jemand:

„Und was war weiter? Haben Sie ihm verziehen?“

„Das ist eigentlich schon alles. Ich stand auf und ging auf mein Zimmer. Ich gab ihm nicht die Hand, ich sagte nichts mehr, keines jener Worte des Trostes, die er vielleicht von mir erwartete. Ich war dazu nicht fähig. Schließlich bin ich nicht sicher, ob ich richtig gehandelt habe, daß ich sein Bekenntnis so Ohne Widerrede hingenommen habe.“

Ich warf einen Blick auf die im Abteil sitzenden Damen. Sie schienen etwas enttäuscht zu sein, daß das „Abenteuer“ ohne pikante Pointe endete.

„Nun gut“, sagte eine von ihnen. „Aber wie wurden Sie eigentlich damals gerettet? Hat er Sie doch nicht getroffen?“

Die Frau verzog schmerzlich den Mund.

„Das war nicht ich. Ich war zum Glück niemals in einem Konzentrationslager. Das muß meine ältere Schwester, der ich sehr ähnlich sehe, gewesen sein. Erst jetzt habe ich erfahren, auf welche Weise sie umkam.“

„Ich verstehe nicht, warum Sie ihm das nicht gesagt haben?“ rief empört die Blondine mit den Haarnetzen. „Dann hätte er wenigstens gewußt, daß er ein Mörder ist, dann hätte er wenigstens niemals Ruhe gefunden.“

„Warum ich ihm nicht die Wahrheit gesagt habe? Ich weiß es nicht. Ich hatte in diesem Augenblick nicht Zeit, mir das so gründlich zu durchdenken. Ich folgte einfach der Stimme meines Herzens.“

Die Frau mit den schwarzen Augen drehte ihr Gesicht dem Fenster zu. Der Waggon begann auf den Schienenverzweigungen zu schaukeln. Durch das Fenster waren die Konturen neuer Wohnblocks zu sehen. Wir kamen nach Wroclaw.

Deutsch von Dorothea Müller-Ott

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