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Stiller Gefährte

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Es ist schon lange her, daß ich bemerkt hatte, mit mir selbst nicht identisch zu sein. Ich war drei oder vier Jahre alt und spielte Eisenbahn im Gang, der zur Küche, zur Speisekammer und anderen Nebenräumen führte. Die Lokomotive und die Waggons waren nackte Zwirnspulen, die meine Mutter mir geschenkt hatte; sie nähte als Frau eines Landarztes ihre und meine Kleidung selbst sowie verschiedene andere Sachen, die sie im Haushalt benötigte. Ich schob nun die rotbraunen Spulen hin und her, pfiff ab und zu, sehr dünn und unbeholfen — es war eher ein Schrei -, um das Kommen der Lokomotive anzukündigen, als ich plötzlich bemerkte, daß jemand mich bei meinem lächerlichen Spiel beobachtete.

Dieser Jemand stand breitbeinig hinter mir - ich saß auf dem Boden - und sah zu, wie ich beim Rangieren der Zwirnspulen voll Eifer hin und her rutschte. Da niemand außer mir im Gang war, konnte nur ich selbst es sein, der mit leicht mokantem Lächeln zuschaute, wie ich die Zwirnspulen, die ich für eine Spieleisenbahn hielt, auf eine Reise ins Ungewisse schickte. Doch ich tat so, als nähme ich von dem anderen keine Notiz, ja, als sei er gar nicht da, und spielte weiter.

Später bin ich ihm öfter begegnet, besonders beim Lesen von Piraten- und Indianergeschichten, die ich fiebernd verschlang. Er sah mir spöttisch zu, ohne zu begreifen, daß alles nur ein Spiel war, das mir Vergnügen bereitete. Einmal, ich lernte gerade im großen Teich unweit unseres Dorfes schwimmen, geriet mir der Blechzylinder, den mir mein. Vater hatte anfertigen lassen, damit er mich, um die Brust befestigt, über Wasser hielt, unter die Füße, so daß mein Oberkörper samt Kopf hinuntersank und ich zu ertrinken drohte. Vielleicht wollte ich auch ausprobieren, was passieren würde, wenn ich den Blechzylinder nicht um die Brust, sondern an den Füßen befestigte. Jetzt wußte ich Bescheid, wenn auch diese Erkenntnis beinahe meine letzte gewesen wäre. Er stand am Ufer und sah seelenruhig zu, wie mein Vater im Wasser herumwühlte, mich an den Haaren packte, ans Ufer zog Und aus mir, mich an den Beinen haltend, das reichlich geschluckte Wasser herausschüttelte.

Obwohl der andere bei dieser ganzen dramatischen Szene, bei der es um mein Leben ging, völlig unbeteiligt geblieben zu sein schien, nahm ich ihm das nicht übel. Ich hätte mich an seiner Stelle wahrscheinlich nicht sehr viel anders verhalten, aber ich hätte wenigstens etwas mehr Anteilnahme für ihn aufgebracht. Mit der Zeit jedoch gewöhnte ich mich an seine nonchalante, ja distanzierte Einstellung mir gegenüber. Er war nur mein Schatten, nicht imstande zu agieren. Da war ich im Vorteil. Mir stand die Welt offen, ich konnte unternehmen, was ich wollte, leider nicht immer zu meinem Vorteil, er aber war immer ein stummer Zeuge, der sich' nur mühsam ein Lachen verbeißen konnte, wenn mir etwas mißlang, und mir mißlang, objektiv gesehen, beinahe alles.

Seine ständige Anwesenheit wäre unerträglich — er ist Gott sei Dank nicht immer da, oder ich bemerke ihn zumindest nicht immer —, doch sein sporadisches Auftreten hat auch seine guten Seiten. Man strengt sich mehr an, wenn man beobachtet wird. Man bemüht sich, einen guten Eindruck zu hinterlassen, sei es bei der Arbeit, in der Liebe oder in sogenannten extremen Situationen.

Ich glaube, es handelt sich dabei um eine ganz natürliche Erscheinung. Jeder von uns birgt in sich ein zweites Ich, einen Doppelgänger sozusagen, der gänzlich neutral ist, er greift nicht ins Geschehen ein, zeigt keine Emotionen, und vor allem straft er einen nicht. Er ist schließlich bei aller Skepsis, die er einem gegenüber hegt, ein Freund. Doch vor Freunden oder, besser gesagt, gerade vor Freunden sollte man sich in acht nehmen.

Wir haben davon gesprochen, daß seine Anwesenheit nützlich sein kann, weil sie einen bei einigen Taten oder Untaten anspornt. Als ich im Frühjahr 1942 in Belgrad von den Schergen der Spezi-alpolizei nach allen Regeln der Kunst gefoltert wurde, half mir seine Anwesenheit, die brutalen, unerträglichen Schmerzen auszuhalten. Da er mich, hinter den Folterknechten stehend, mit einem Blick ansah, als wollte er damit sagen: „Recht geschieht dir, warum hast du dich in die Politik eingemischt, statt Hitler Hitler sein und die verrottete Welt ihr unvermeidliches Schicksal auskosten zu lassen“, biß ich die restlichen Zähne, die mir die Sbirren nicht ausgeschlagen hatten, zusammen und hielt durch; ich mußte vor ihm mein Gesicht wahren—beziehungsweise das, was davon übriggeblieben war. Ohne seine Gegenwart hätte ich den Widerstand und mein Schweigen vielleicht bald aufgegeben.

In den Monaten, die darauf folgten, gab ich mich zuweilen der irren Vorstellung hin, daß er an meiner Stelle erschossen worden wäre, doch wir blieben durch eine Reihe purer Zufälle am Leben. Das' Spiel konnte also von neuem beginnen.

Die Uberzeugung, daß alles ein Spiel sei, habe ich vielleicht von ihm übernommen, und zwar schon in den Tagen, in denen ich mit den Zwirnspulen meiner Mutter Eisenbahn gespielt habe. Jetzt gerate ich aber in Verwirrung. Wahrscheinlich war es umgekehrt. Er war es ja, der mein Spiel spöttisch beobachtet hatte. Es kann also sein, daß ich mit der Zeit seine Skepsis übernommen habe und er das Spielerische von mir. So spielen wir miteinander, und es ist uns nie langweilig, wenn wir allein sind.

Es ist viel schöner, im Leben zu spielen, ohne an eine Rolle gebunden zu sein, die man vielleicht haßt. Die meisten Menschen identifizieren sich so sehr mit der Rolle, die sie im Leben spielen, daß sie nicht mehr wissen, was sie eigentlich sind. Sie bekommen einen bedeutenden Blick, stapfen umher, als gingen sie auf Kothurnen, und plappern Allerw^tsweisheiten nach, als handle es sich dabei um die Offenbarung des letzten Grunds. Das hat mit der natürlichen Würde, die manchmal einfache Menschen zur Schau tragen, nichts zu tun. Wenn man die Rolle, die man spielt, nicht ernst nimmt, hat man es sicherlich leichter. Vor allem darf man sich selbst nicht ernst nehmen, und ich kann es nicht, weil ich wie mein Tun von ihm dauernd in Frage gestellt werde.

Auch jetzt, während ich schreibe, schaut er mir über die Schulter. Ich denke mir, vielleicht wäre es besser, wenn er an meiner Stelle meine autobiographischen Aufzeichnungen schriebe, da er doch über mich angeblich besser Bescheid weiß als ich.

Insgeheim träume ich davon, daß er eines Tages stirbt und ich am Leben bleibe. Aber das ist sicherlich eine törichte Hoffnung.

Aus dem Buch „Auf dem falschen Dampfer“, das demnächst im Paul Zsolnay Verlag, Wien, erscheint.

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