Damals, als ich in der Ulmenstraße ein kleines Mansardenzimmer gemietet hatte, um mich ganz dem Studium der vaterländischen Insektenarten zu widmen, wohnte auf dem Zimmer unter mir ein Versicherungsagent. Es war ein dicker, sich träge bewegender Junge mit knallrotem Gesicht. Er sah mit großen, runden Augen unendlich erstaunt in die Welt hinein, als fragte er sich, was er in ihr um Himmels willen mache; und nach einiger Zeit fragte ich mich das auch, denn er leistete durchaus nichts darin.
Um elf Uhr, halb zwölf rollte er aus dem Bett, zog sich äußerst träge an und stieg, ohne sich gewaschen zu haben, hinunter, um Kaffee zu trinken. Es war dann ungefähr ein Uhr. Frühstücken tat er, wie ich schon bald bemerkte, nie; er verlangte aber, daß der Lunch so aussehe, als sei das Frühstück gleichsam in ihm verarbeitet. Das sei 6ein Recht, dafür habe er gezahlt, sagte er.
So standen zwei Eier vor seinem Teller, zwei Becher Milch und große Mengen Brot mit Butter, Käse und Schinken darauf, denn schmieren war ihm zuwider. Er aß dies alles auf mit der trägen Behaglichkeit einer Kuh, laut schmatzend und brummend vor Vergnügen. Ich bin überzeugt, die Wirtin hätte die Butterbrote mit Tapetenpapier belegen können; er würde es nicht gemerkt haben.
Nach dem Essen sah er eine Weile bewegungslos auf dem Stuhl vor sich hin. Wenigstens, da6 vermutete ich, denn es blieb dann wohl eine volle Viertelstunde totenstill unter mir. Es war eine Art Wiederkauen, ein matter Rückblick auf das Genossene, ein einfaches Vollsein ohne weiteres. Es waren für Hube (so war sein Name) zweifelsohne die kostbarsten Augenblicke des Tages. Durch den Grad der Ubersättigung hatte er ein gewisses dem Irdischen Entrücktsein erreicht, eine Vergeistigung, die er mit geschlossenen Augen genoß. Manchmal ging diese Elementarfreude so weit, daß er zu singen anfing, mit dem Heft des Messers den Takt dazu stampfend: Hurrah, hurra h, hurra h, da gehen die Bauern wieder, da gehensie, da gehen sie, dagehendieBauernwieder... und dann wieder aufs neue mit hurrah, hurrah, ohne daß die Bauern irgendwo landeten. Danach stieg er langsam herauf, um mich zu besuchen.
Ich hörte ihn immer mit Furcht sich nähern. Seine Taktik war rührend durchsichtig. Er trat ein, einen kleinen Lederkoffer in der Hand und sich umherblickend, wie wenn er durchaus nichts vorhabe. Er setzte sich und fing an zu reden. Es sei ein Baum umgefallen, zwei Straßen weiter, oben auf einen Matrosen, Vater von fünf Kindern. Der brave Bursche sei gleich tot gewesen, so platt wie eine Scheibe. An den Nummern auf seiner Mütze sei er jedoch erkannt worden. Am Tage zuvor hätte Hube ihn noch besucht, er hätte aber gesagt: „Nein, ich versichere mich nicht, Ich will es nicht, Ich tue es nicht, geh fort.“ Und jetzt sei es zu spät. Eine unbedeutende Unebenheit auf unserem Lebensweg und da liegen wir, ein Steinchen, ein Kieselchen, ja sogar ein kleiner Irrtum in einem unserer Darmkanäle und es ist um uns geschehen.
Die Antwort war unveränderlich. „Nein, Hube“„ sagte ich, ich will nicht. Ich tue es nicht. Nie werde ich es tun. Laß das Leben seine Ungewißheit, seine Drohung für mich behalten. Dieses macht eben das Dasein für mich so interessant, 60 aufregend: daß es jeden Augenblick aufhören kann. Jede Versicherung würde mir diese Sicherheit nehmen. Das Unglück, das bis heute etwas Schreckenerregendes hatte, bekommt eine begehrenswerte Seite. Mit dem Abfahren eines meiner Beine durch die städtischen Straßenbahnen, ist eine Geldbelohnung verbunden. Von diesem Augenblick an habe ich meine Sicherheit verloren. Ich kann mein Verhalten nicht mehr bestimmen, wenn eine Straßenbahn ßlch nähert. Mein alter Selbsterhaltungstrieb sagt mir, zur Seite zu springen, mein neuerwachter Geschäftsinstinkt aber ruft mir zu, midi unter sie zu werfen.“
„Für Verkehrsunfälle, wobei dem Versicherten ein Bein oder Arm abhanden kommt, erhält er 750 Gulden sofort“, sprach Hube, in dem kleinen Koffer umherkramend, .bei Fingerverlust kommt 50 Gulden heraus, beim Verlust des Zeigefingers sogar 75 Gulden, wenn zwei Knöchelchen fehlen.“
Geh' weg, Hube“, sprach ich langsam.
„Also nicht?“
„Nein. Geh' weg, Hube.“
„Nun“, schloß er, indem er aufstand, .bis morgen denn.“
So ging ein Jahr vorüber. Ich wurde immer magerer und Hube immer dicker. Es ging ihm gut. Ein Dutzend kleiner Emailschilder, worauf die Namen aller Gesellschaften standen, die er vertrat, umrahmte unsere gemeinschaftliche Vordertür. Von Zeit zu Zeit glitt ein Auto vor das Haus und daraus stieg ein Inspektor, dicker noch als Hube und stattlicher im Gehen. Sie alle grüßten nach meinem Fenster, denn sie respektierten meine Unbeugsamkeit als eine zwar absurde, jedoch höchst merkwürdige Erscheinung.
Hubes Kundschaft nahm zu und folglich auch seine Freizeit. Er stellte einen Jungen an, der von einem Versicherten zum anderen radelte, um sie zur Zahlung anzufeuern und ein schmächtiges Mädchen, um die Briefe zu beantworten. Er selbst versank, es war traurig zum Ansehen, in eine fast vollkommene Trägheit. Doch sonderbar: die Besuche an mich unterließ er nicht. Tag für Tag und einen Monat nach dem anderen stieg er herauf, mit einer Beharrlichkeit, die unmöglich in reiner Gewinnsucht wurzeln konnte. Es war mir klar, es sei ihm allmählich nicht mehr um Geld zu tun: die Sache hätte einen geistigen Anstrich bekommen. Er sehe in mir einen vom Wege Abgekommenen, einen Finsterling, den man mit zarter, jedoch zäher Hand heimzuführen habe.
Ich darf es mit gewissem Stolz sagen: die Bekehrung kam nicht. Ich harrte aus in einer Flut von Werbeschriften, wie ein immer fester wachsendes Korallenriff. Auch für mich hatte die Sache ihre materielle Seite verloren. Uber einem Versicherungsagenten zu leben und mich nicht versichern zu wollen, reizte mein Selbstgefühl. Es steckte etwas Absurdes und zugleich Heroisches darin, es war, wie wenn ich dem Leben selbst und dessen Gefahren trotze, mit offenem Visier und unverschämt.
Erst allmählich wurde es mir klar, daß dies auch der Grund Hubes übermenschlicher Ausdauer sei: er empfinde meine stete Weigerung als eine Herausforderung, eine Verletzung seines Berufsstolzes, als einen direkten Schlag in das Angesicht aller, die versichert waren. Und auf einmal fing ich an, ihn zu lieben. Ich sah ihn nicht größer als er war, oh nein. Ich sah nur, daß er auf eine herrliche Weise war, was er war: ein Versicherungsagent. Unter mir wohnte ein absoluter Geist, in seiner Art vollendet, wie Sappho es war in der ihrigen. Ein Agent, genau so vollkommen wie Dante ein Dichter war und Don Quichotte ein Tor. Ein Agent schön, als solcher aber eine Statue, ein Heros. Unsere Unterredung war nicht mehr ein Wortwechsel zwischen einem, der nicht, und einem, der wohl versichert war; es war der Zusammenstoß zwischen dem Kosmos der Verwegenen und dem der Geborgenen und die Ulmenstraße dröhnte vom Schlag.
Dann, nicht lange nachdem meine Wertschätzung derartig verschoben war, hatte ich eine kurze, jedoch äußerst merkwürdige Unterredung mit ihm. Er war heraufgekommen, röter als je. Zum ersten Male bemerkte ich, daß er keuchte, es standen kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn.
.Warm, Hube?“ fragte ich.
Er schüttelte nur den Kopf und setzte ■sich auf seinen gewohnten Platz, eine Zigarre rauchend, die Augen zur Decke gerichtet. Nach einer halben Stunde fragte er:
.Also nicht?“
„Nein, Hube. Nie.“
Es war lange still.
„Es macht einen so ruhig“, sagte Hube endlich, „es wird für einen gesorgt. Man hat keine Angst mehr.“
Ich lächelte.
„Ich bin zu mager, Hube, zu bleich. Die Möglichkeit liegt vor, daß es innerhalb zweier Jahre um mich geschehen ist. Ich würde einen Verlustposten für deine Gesellschaft darstellen.“
Hube schüttelte langsam den Kopf.
„Erstens“, sagte er, in seiner trägen Weise sprechend, „handelt es sich hier nicht um verdienen. Es handelt sich um ... etwas anderes. Ich würde mich gar nicht darum kümmern, wenn Sie zwei Jahre nach der Versicherung stürben.“
Er meinte es herzlich, das fühlte ich.
„Fahre fort, Hube.“
„Zweitens“, legte Hube dar, nachdem er eine Weile nach oben gesehen hatte, „sind die Bleichen die Besten. Die blühend Aussehenden haben oft einen zu hohen
Blutdruck. Die Bleichen halten es aus. Das sind die stabilen Posten. Schau, de. geht einer.“
Die Post ging vorüber: ein klapperdürres, hustendes Fräulein, weiß wie eine Geistererscheinung. Hube blickte ihm zufrieden nach.
„Wenn die blühend Aussehenden solche schlechten Posten sind“, entgegnete ich, „hast du dich gewiß von allen Seiten versichert, nicht?“
Ein ruhiges, fast seliges Lächeln erschien auf seinem roten Gesicht.
„Von allen Seiten“, sagte er, „keiner kann verstehen, was das ist. Auch wenn ich drei Monate zweiter Klasse liegen würde, dann brauche ich noch nichts zu zahlen. Ärztlicher Besuch, Beförderung, Operation, Verpflegung, alles mit einbegriffen.“
„Hube, nun noch krank werden!“
Ich sagte es im Scherz. Zu meinem größten Erstaunen aber faßte Hube es in vollem Ernst auf.
„Das kommt“, sagte er, durch das Fenster in die Ferne schauend, .das kommt bestimmt. Und dann wird für alles gesorgt sein.“
Ich sah ihn sprachlos an.
.Wirklich“, sagte Hube, hoffnungsvoll lächelnd, „Sie werden es sehen. Gute Bedingungen, alles auf Stempelpapier ...“
Er sah noch eine kleine Weile vor sich hin und fiel dann in Schlaf.
Eine Woche nach dieser Unterredung wurde er. wirklich krank. Ich eilte sofort nach seinem kleinen Schlafzimmer. Zwei leuchtende Augen in einem hochroten Gesicht sahen mich über das Bettuch strahlend an. Er zeigte auf den Hals und winkte mir, näher zu kommen.
„Die Polizze“, flüsterte er, „zweite Lade des Schreibtisches.“
Ich schickte die Polizze ein. Am nächsten Tag stand es schlimmer um ihn. Und am Abend wurde er ins Krankenhaus befördert. Ich war ganz verwirrt, als ich ihn mit den Trägern die Treppe hinuntertrug, er selbst aber sah mich mit einem verklärten, fast siegreichen Ausdruck“ an. Als man ihn an seinem Arbeitszimmer entlang trug, wies er zweimal in der Richtung des Schreibtisches. Ich nickte.
Am folgenden Tage operierte man ihn, und der Tag darauf war sein letzter. Es gebe Komplikationen, erzählte jemand in einem weißen Kittel mir, der Blutdruck Herrn Hubes sei zu hoch.
Er lag zweiter Klasse, in einem tadellosen Bett. Auf einem kleinen Stuhl saß seine Mutter, ein altes bleiches Frauchen, so schmächtig, daß es ein Wunder schien, daß sie noch lebte. Ich dachte auf einmal an die Worte Hubes: Die mageren und die bleichen, das sind die guten Posten .. .1 Er winkte mir, näher zu kommen.
„Es geht zu Ende“, sagte er kaum verständlich, „aber alles ist in Ordnung. Hast du die Polizze der Krankenversicherung eingeschickt?“
„Jawohl, Hube.“
„In dem kleinen Fach daneben liegt die der Bestattung. Willst du diese auch einschicken?“
„Jawohl, Hube.“
Er lächelte zufrieden. Seine Augen wanderten durch das kleine Zimmer, von den Nickelpfosten seines Bettes nach der Vase mit Blumen auf dem kleinen Tisch und von da zu der schneeweißen Krankenpflegerin. Er nickte mit geschlossenen Augen, als ich fortging.
Die Bestattung war zweiter Klasse. Sechs Träger, ein Eichholzsarg, alles in schönster Ordnung. Es regnete ein wenig.
„Er war ein pflichtgetreuer Agent“, sprach ein Inspektor an der Grube, „die Gesellschaft denkt mit Genugtuung an ihn zurück.“
Beim Ausgang des Friedhofs hielt ich ihn an.
„Es war mehr als das“, sagte ich, „er war ein Märtyrer. Er starb für Ihre Gesellschaft. Versichre mich.“
„Für was?“ fragte der Mann, indem er das Notizbuch hervorzog.
.Für alles“, sagte ich, „ich ergebe mich.“
Aus dem Holländischen von C. F. C. Brosens