6920234-1981_41_22.jpg
Digital In Arbeit

Der doppelte Eduard

Werbung
Werbung
Werbung

Nach Lenau und Hölderlin nun also Mörike: Seit

eineinhalb Jahren arbeitet Peter Härtung an einem Roman über diese zeitgemäß-unzeitgemäße Gestalt der deutschen Literatur, die im Unheldischen soviel Heldentum bewies: still, sehr leise. Der Roman-Plan wandelte sich im Laufe der Niederschrift zur Novelle hin. Ein Autor sucht einen Autor, auch sein Land — mit der Seele.

Nun wollte er nicht mehr ausziehen, obwohl er es sich und anderen ständig angedroht hatte. Nach vierundzwanzig Jahren hielt ihn zuviel. In einem knappen Brief teilte ihm die Hausverwaltung mit, daß das Haus an der Schloßstraße „im Zusammenhang mit umfassenden städtebaulichen Maßnahmen" abgerissen werde. Selbstverständlich — obwohl von diesem Augenblick an nichts mehr selbstverständlich ist — stehe eine entsprechende Wohnung in besonders schöner, ruhiger Stadtrandlage zur Verfügung. Er müsse sich innerhalb von zwei Monaten entscheiden, ob er dieses Angebot akzeptieren wolle und spätestens in einem Jahr, also bis zum 30. 4. 1978, ausgezogen sein. Der Brief überraschte ihn nicht. Gerüchte waren ihm vorausgelaufen. Doch als er die Kündigung nun schwarz auf weiß vor sich hatte, kam es ihm vor, als risse er aus einer Verankerung, könne keinen Halt mehr finden und würde gleich stürzen. Er steckte, abwesend, den Brief in die Jackentasche, ging ins Arbeitszimmer, setzte sich jedoch nicht an den Schreibtisch, sondern, als wäre er schon bei sich zu Gast, auf das Ledersofa an der Wand.

Sicher, die Wohnung war für ihn allein zu groß. Zwei der fünf Zimmer zu vermieten hatte er sich bisher nicht entschließen können. Außerdem war die Straße laut. Erst am späten Abend fuhren weniger Autos. Dies alles hatte er sich in den letzten vier Jahren, nachdem Ciaire, seine Frau, ihn endgültig verlassen hatte, erklärt und vorgeworfen, hatte, wozu er mehr und mehr neigte, mit sich selber geredet, gestritten und stets klein beigegeben. Eduard Kiessling, hatte er sich zugerufen, du bist siebenundfünfzig Jahre, vorzeitig vom Schuldienst befreit und pensioniert, hockst mutterseelenallein in einer riesigen Wohnung, wirst von deinen beiden Kindern und ihrem Gefolge so gut wie nie besucht, lungerst abends mit Vorliebe in der Wirtschaft herum — also, wieso blockierst du Wohnraum, der einer großen Famihe angemessen wäre? Eine freundliche Vorstellung, die von den radikalen Städteplanern ohnedies zunichtegemacht wurde. Das Haus hinderte offenbar eine Trasse an ihrem graden Lauf. Also mußte es weg.

Die Neuigkeit veränderte seine Auf-, nahmefähigkeit. Er schaute das Zimmer an, in dem er Tag für Tag Aufsätze korrigiert, geschrieben, gelesen, geträumt hatte, und die in ihm gehortete Zeit drang nicht in Bildern, sondern in einem Schauer von Empfindungen auf ihn ein. Er fühlte von neuem die Angst, mit der er abends auf Ciaire gewartet hatte, die alles ausschließende Konzentration während der Korrekturarbeiten, dieses Inselbewußtsein, das Glücksgefühl, wenn er sich auf das Sofa legte, zu lesen begann, die Unruhe, in die ihn aufgeschobene Arbeit versetzte, dieses Auf-dem-Sprung-Sein und doch nicht springen können oder die gedankenlose Hingabe, mit der er, im Erker stehend, Passanten nachsah wie Tauben, ein sich bewegendes, durch seinen Blick treibendes Leben. Er fühlte den leichten Zug, der durch das geöffnete Fenster strich, sah das Zimmer im Abendgrau größer und in den Konturen weicher als am frühen Morgen, wenn das Licht noch staublos hereinbrach.

Es ist ja bis dahin noch einige Zeit, tröstete er sich. Im Grunde dürfte er nicht derart verletzt und verstockt sein, er hatte sich ja einen Umzug gewünscht, wenigstens einen, nicht zahllose, wie der andere Eduard sie auf sich nahm, der Flüchter, doch einen Umzug, sich auf die Probe zu stellen, zu erfahren, wie es ist, wenn man Wurzeln hinter sich herschleift, ob das überhaupt geschieht und wie rasch sie wieder greifen, ob sie schwach bleiben, verdorren ohne den einstigen Grund.

Was moinscht? fragte er ins Zimmer hinein, gibt sich fürs erste keine Antwort. Den anderen Eduard läßt er schweigen.

Solange er Deutsch gab, schätzte er Mörike nicht sonderlich und vermied es, seine Gedichte durchzunehmen. Nur die Mozart-Novelle hatte er, ohne allzu großes Engagement, mit einigen Klassen gelesen. Ihm waren Büchner, Kleist, Hölderlin, aber auch Keller, Fontane oder Thomas Mann ungleich wichtiger, sie hatten sein Denken bestimmt Mörike traute er keine Gegenwart zu. Er sah ihn als einen Heimlichen, einen Versteckten. Warum sollte er in der Literatur unbedingt nach dem Abdruck seiner eigenen Launen suchen?

Dann blätterte er kurz vor seinem Zusammenbruch, als er die Familie ebensowenig aushielt wie den Schulbetrieb, zufällig im „Maler Nolten", ohne jegliche Erwartung, las sich fest, las sich hinein, hörte nicht mehr auf, verbündete sich mit der Stimme des Erzählers, teilte mit ihm die kunstvoll verheimlichte Schwermut, das Unge-nügen, die Unfähigkeit, gleichsam stark leben zu können.

Es war eine verspätete, um so heftigere Verbrüderung. Er las alles von neuem, beschaffte sich die Briefbände, die ihm fehlten, Arbeiten über ihn, begann ihn in Selbstgesprächen Eduard zu nennen, was, sogar für zufällige Lauscher, nicht übermäßig komisch klang, da er ja sich selber rufen konnte. Ciaire war von Beginn an eingeweiht. Als sie ihn schUeßlich verließ, nicht, um sich einem anderen zuzuwenden, auch nicht, um unbedingt frei von ihm zu sein, sondern weil sie, wie sie immer wieder erklärte, ihn schlicht und einfach satt habe, es lernen müsse, mit sich selber zurechtzukommen, als sie ihn verließ, hatte er sich schon so stark von der Höhlenmentalität des anderen Eduard anstekken lassen, daß ihn die Trennung erst einmal kaum traf.

Er begann, Eduard zu beschreiben, von ihm zu erzählen. Wobei er nie sicher war, wieviel er von sich erzählte. Aber seine Distanz zu ihm wuchs wieder. Manchmal hielt er den anderen Eduard für einen unerträglichen, leblosen, lebensuntüchtigen Kerl. Manchmal hexte er mit ihm. Das wechselte.

Auf jeden Fall reichte dessen unsichtbare Gegenwart für diesen Fall nicht aus. Er mußte mit jemandem sprechen, erklären, in welch bodenlose Stimmung ihn der Ausweisungsbescheid versetzt hatte. Den Kindern würde er mit seinem Altmännerjammer bloß auf die Nerven gehen, und die Stammtischfreunde würde er ohnedies am Abend unterrichten. Also blieb Ciaire. Doch um diese Zeit, kurz vor dem Essen, erreichte er sie noch nicht. Sie unterrichtete und tat es, im Gegensatz zu ihm, gern. Du bist zehn Jahre jünger als ich, hatte er früher, wenn sie ihre Energie, ihre Laune ausspielte, gemeckert, solange, bis sie endlich hinhörte und mit einem „das sagst du mir nicht noch einmal" ihre Trennung vorbereitete.

Sie schrieben sich oft. Genau genommen schrieb er ihr ausführlich, und sie antwortete in immer freundlichen, manchmal besorgten Kürzeln auf Postkarten. Eine Zeitlang erwogen sie beide, wieder zusammenzuziehen. Darüber waren sie nun hinaus. Er betrieb seine Einsiedelei in Stuttgart, sie die ihre in Freiburg. Die wenigen Male, die sie sich im Jahr sahen, schonten sie sich, stritten nie, machten sich lustig über ihre Behutsamkeit.

Er ging in die Küche, begann mit der Zubereitung des Mittagessens, die bei ihm viel Zeit beanspruchte, da er gern, jedoch umständlich kochte, eine Eigenheit, die Ciaire, auch die ICinder, auf die Palme gebracht hatte. Nun störte oder trieb ihn niemand. Dennoch mißlang ihm dieses Mal von der Soße übers Gemüse bis zum Fleisch alles, da er selber sich keine Ruhe ließ, fortwährend nach der Uhr sah und es bis zum Telefonat kaum aushalten konnte.

Er stellte sich, um sich zur Ruhe zu rufen, auf den winzigen Küchenbalkon, blickte hinunter in den Hof, der sich im Laufe von fünfundzwanzig Jahren ständig verwandelt hatte, aus einem mit kleinen lächerlichen Rabatten besetzten Gebilde über ein Wiesenstück bis zu einem asphaltierten Abfallplatz. Vor ein paar Jahren hatten einige Mieter die Initiative ergriffen, den Asphalt mühsam entfernt und einen Spiel- und Ferienplatz entworfen, der freilich nicht vollendet wurde, da man vom Abbruch hatte läuten hören und keiner mehr Lust hatte, ein Holzhäuschen auf Abruf zu zimmern.

Er trat zurück, lehnte sich gegen die Tür. Stand er vorn an der rostigen Brüstung, wurde es ihm schwindlig.

Da es noch immer sehr früh und Ciaire möglicherweise noch nicht zu erreichen war, wusch er besonders sorgfältig das Geschirr, das er am liebsten gegen die Wand geworfen hätte, putzte Küchentisch und Stühle, zählte bis zweihundert, begann schon wieder rückwärts zu zählen, was er dann für zu albern hielt, setzte sich auf den naß gebliebenen Stuhl, fluchte, überlegte, ob er die Hose wechseln solle, entschloß sich, den nassen Hintern auszuhalten, schlich endlich das Telefon an. Dazu mußte er über den langen Korridor, der ihm Gelegenheit zu mehreren, beinahe sinnvollen Aufenthalten gab. Er nahm den Hut vom Stuhl, legte ihn auf die Garderobe, rückte den Läufer zurecht, räumte Handschuhe, die unberührt seit dem Winter auf der Heizung vergammelten, in die Kommode.

Er mochte ihre Telefonstimme. Sie klang kindlicher, hilflos.

Ciaire?

Sie hatte abgenommen, aber nicht gleich gesprochen, schien atemlos und unwillig.

Du bist es? Ja.

Ich war noch vor der Tür, als ich das Telefon hörte. Darum bin ich ein wenig außer Atem.

Verzeih. Ich hätte -

Ist es dringend, Eduard?

Dieser Anfang entmutigte ihn. Er sagte leise:

Ich kann dich ja später wieder anrufen. So dringend ist es nicht.

Ach nein, bleib dran. Jetzt war sie ganz nah.

Er hatte das Gefühl, ihr Atem streife auf wunderbare Weise sein Ohr.

Du, ich werde ausziehen müssen.

Ach herrjeh!

Mehr sagte sie nicht, traute sie sich vielleicht nicht zu sagen, um ihn nicht noch in seiner Wehleidigkeit zu bestär

ken. Sie hatte nie dazu geneigt, auf seine Stimmungen, Gefühle einzugehen. Damit müsse er, der es ohnehin vorziehe, mit sich beschäftigt zu sein, eben selber fertig werden.

Da er schwieg, sich kindisch von ihrem Ausruf getroffen fühlte, fragte sie nach: Wann, Eduard? Bald?

Spätestens in einem Jahr.

Auf alles war er gefaßt, auf milden Spott, ironischen Trost, geheuchelten Schrecken, nicht aber auf dieses ihn in seiner Renitenz verletzende leise Lachen.

Ist das so lachhaft, Ciaire?

Aber nein, Eduard. Ich dachte nur daran, wie du in einem deiner letzten Briefe die ständigen Umzüge deines Eduard beinahe rühmtest oder wenigstens beeindruckt warst von dieser sichtbar gewordenen Unruhe, wie du das nanntest. Das stimmt doch?

Ja, ja. Es ärgerte ihn, so kleinlaut reagieren zu müssen. Aber wie sonst? Für dieses kurze Gespräch würde er keinen anderen, festeren Ton mehr finden.

Dann halte dich doch ein wenig an ihn.

So weit bin ich noch nicht.

Nein? fragte sie. Hängst du noch immer am Anfang? Nach deinen Erzählungen müßtest du bald fertig mit seiner Geschichte sein.

Er macht mir Schwierigkeiten. Oder ichhabsie mit ihm.

Ach, Eduard, seufzte sie, und er ist froh über diesen teilnehmenden Laut.

Ich mußte dir Bescheid sagen. Das verstehst du doch, Ciaire.

Aber ja. Ich möchte wissen, was geschieht, wie du zurecht kommst. Was du unternehmen wirst, Eduard.

Ja, sagte er und wünschte sich, daß sie das Gespräch beende, was sie, als spürte sie seinen aufkommenden Widerwillen gegen ihren Gleichmut, auch tat: Ade, Eduard. Melde dich. Mach's gut!

Ade, Ciaire. Er verabschiedete sich in einen schon tauben Hörer.

Ein Brief an Ciaire

Endlich kommt ein bißchen Zug in mein träges Leben. Die Stammtischler reichen nicht, obwohl sie, wie Ludwig Bauer oder Hartlaub, ins Orplidische eingeweiht sind, eine Menge Erinnerungen mit mir teilen. Die versteinern allmählich. Standbilder rühren sich nicht mehr. Es wäre nicht übel, wenn ich mit dem Eduard noch einmal, ein letztes Mal, Schwung bekäme.

Wenn ich mich bescheide, bleiben mir genügend Reserven, ungestört die Mörike-Geschichte voranzutreiben, egal, ob ich am Ende einen Verleger finde oder nicht. Habersam hat sich gemeldet, möchte, wie er beteuert, mitlesen, aber er ist auch bloß ein Feuermelder in einem Medienkonzern, und weiß der Deibel, ob der Stoff, bin ich soweit, auch nur einen der intellektuellen Wächter hinterm Schreibtisch hochreißt.

Den Anfang schaffte ich in den letzten Wochen, das erste Kapitel, die Beschreibung der ersten Flucht, der viele folgen werden.Weißt Du, ich sehe ihn als einen ständig Flüchtenden, einen, der nicht aussteigt, sondern umsteigt, fortwährend, daß man seiner nicht habhaft werden kann. Er entwischte. Nur warteten die Ausweichquartiere meistens mit noch größerem Unglück auf. Bis zum Ende konnte er nicht aufatmen.

Du kannst Dir nicht vorstellen, was ich mitmachte. Ich übertreibe nicht. Es gelang mir nicht, ihn zu fassen. Ich probierte alles aus. Entschied mich gegen eine Chronologie. Dafür. Mit nichts konnte ich zufrieden sein.

Bis dann der Herzanfall dazwischen kam und ohnehin nichts mehr möglich war.

Erst wollte ich nicht mehr, und als ich wieder wollte, als ich anfing, Gedanken zu fassen, konnte ich nicht mehr. Die Gedanken bUeben irgendwo in meinem Kopf stecken, Sätze und Wörter gingen verloren — und ich hatte den Eindruck, daß mein Verstand erstickte, meine Gefühle schrumpften und ich mich ausschließlich auf einen wiederkehrenden Schmerz konzentrierte.

Das ist vorbei. Ich schlucke Pillen, versuche überhaupt ein wenig sparsamer zu leben, bin wieder, soweit ich es beurteilen kann, im Lot.

Aber diese Anfänge, Ciaire, diese Anfänge wuchsen sich zu einer Zumu-

tung aus. Zwar war ich mir schließlich sicher, mit dem Zwanzigjährigen die Erzählung zu beginnen, ihn, schon auf der Flucht, zu erwischen — aber wie? Sollte ich meine Entfernung zur Gestalt, die ich, je mehr ich mich mit ihr abgab, um so heftiger fühlte, sollte ich sie gleich zu Beginn ausdrücken, um auch dem Leser zu helfen? Oder sollte ich jegliche Reflexion unterlassen, bloß erzählen, jetzt, jetzt, jetzt. IcK spielte alles durch, verwarf, weil jedesmal, wenn ich ihn Mörike nannte, die Wörter einen Hof um den Namen bildeten und ihn zum Begriff machten. Der Mörike. Ihn einfach Eduard zu nennen, wagte ich nicht Aus der zufälligen Namensgleichheit würde eine Anbiederung. Dazu käme als Anspielung der Eduard aus den „Wahlverwandtschaften". Nein, das durfte ich mir nicht erlauben. Ich erlaubte es mir dennoch. Wahrscheinlich aus Verzweiflung. Ich blieb mit der Arbeit von neuem stecken. Die Gestalt widersetzte sich. Er mißfiel mir, ich verhöhnte ihn, schmeichelte ihm, suchte ihn zu vergessen, zu verdrängen, ging allmählich vertrauter mit ihm um und landete doch beim scheinbar vertraulichen Eduard. Ich schreibe „scheinbar vertraulich", da zwischen dem Eduard, der ich bin, wenn ich mich denke, und dem Eduard, der er ist, wenn ich ihn lese und denke, die Spannung in gewisser

Hinsicht erfahrener und erträglicher geworden ist: Eduard und Eduard.

Ich will Dich nicht weiter mit Eduardinischem belästigen. (Um Dich auf dem laufenden zu halten, lege ich das erste Kapitel bei. Hast Du Einwände, stößt Du auf Widersprüchliches, laß es mich, bitte, wissen — womöglich kann ich Dich so zu ausführlicherer Post verleiten.)

Eine Art Irrfahrt

Seit einer Woche ließ er den Wecker regelmäßig um halb sieben schellen, frühstückte weniger ausführlich als sonst, legte rascher die Zeitung beiseite und setzte sich an die Arbeit.

Der Schwung des ersten Kapitels trug ihn nicht weiter, wie er fest angenommen hatte. Er blieb stecken. Die Gestalt Mörikes wirkte plötzlich wie abgeschlossen. Der Zwanzigjährige, mit dem er sich, nicht ohne Widerstände, verbündet hatte, enthielt wie eine Hülse bereits den Sechzigjährigen. Genau genommen gab es gar keine Entwicklung. Er war mit zwanzig ebenso fertig oder unfertig wie mit sechzig. Seine Angewohnheiten, Ängste, Neigungen, Phobien änderten sich kaum.

Er schrieb auf den Alten zu. Der zog ihn an, sein Eigensinn und seine Gabe, mit der Einsamkeit fertig zu werden. Das Ornament als Barrikade. Einer der sich hinter Kauserien verschanzt. Der gefiel ihm. Der Junge jedoch, anfällig und übermäßig hysterisch, ging ihm auf die Nerven.

Allerdings hatte ihm das erste Kapitel auch klar gemacht, daß er ohne eine knappe Schilderung der Anfänge, der Kindheit in Ludwigsburg, nicht auskommen würde. Der Vater, das Haus am Markt, die Arztpraxis, die Geschwister und die kräftige Ruhe der Mutter und das Klärchen Neuffer. Er schrieb: Das Klärle war so alt wie er. Er strich das „er" durch, und der Satz griff ihn förmlich an, als er statt dessen schrieb: Das Klärle war so alt wie Eduard.

Da geriet etwas durcheinander. Es stimmte, nicht mehr, da Bilder aus seiner Kindheit überhand nahmen und fiktive oder überlieferte nicht mehr duldeten.

Ciaire, die sich telefonisch nach dem anderen Eduard erkundigte, ärgerte sich über seine gewundenen Auskünfte. Arbeitest du überhaupt noch an dem Manuskript oder spinnst du dir einfach was zusammen?

Beides, erwiderte er.

Mit solchen Zweideutigkeiten, solchen wachsweichen Ausflüchten hast du mich und die Kinder schon immer auf die Palme bringen können, sagte sie leise.

Du hast ja recht, er nickte, den Hörer gegen das Ohr gepreßt, sich im Garderobenspiegel zu. Aber dieses Mal —

Sie ließ ihn nicht ausreden. Es war, wenn ich mich genau erinnere, immer dieses Mal.

Na gut, sagte er. Ich bin an der Arbeit. Was sagst du zum ersten Kapitel?

Ich hab's erst gestern bekommen und noch keine Zeile lesen können.

Es eilt ja auch nicht. Sie läßt ihn schrumpfen, und er kann sich nicht wehren. Spürt er deswegen plötzlich das Herz, die Knoten und Risse an diesem wunden Muskel?

Du, ich fahre nach Tübingen, des Buches wegen. Ich will Anschauungen sammeln, verstehst du? Prima, sagte sie.

Sie hat, wie meistens, gegen ihn und zu früh aufgelegt.

Er wartete noch einen Tag, ehe er nach Tübingen fuhr. In der „Krone" hatte er sich für drei Tage ein Zimmer reserviert, mit angerauhtem Gewissen, denn der Preis war gesalzen.

Er schrieb keinen Satz, schlich um den Schreibtisch herum, rannte manchmal, wenn er Geräusche im Treppenhaus gehört hatte, zur Wohnungstür, doch niemand wollte ihn besuchen. Mittags fuhr er mit der Straßenbahn hinauf nach Möhringen und aß im „Adler". Er bemühte sich geradezu stumpfsinnig, Sätze, die ihm eingefallen waren, in seinen Gedanken zu ordnen, redete vor sich hin, stellte Wörter um, traute keinem Satz mehr und empfand von neuem die Angst, die Krankheit könnte sich wiederholen, wieder würden, nach einem Herzkrampf, die Ströme im Gehirn irregeleitet und die selbstverständliche Fähigkeit, in Sätzen zu denken, außer Kraft gesetzt sein.

Wieder zu Hause, legte er den Giovanni auf, den Fritz Busch 1937 in Glyndebourne dirigiert hatte. Diese Musik machte ihn unersättlich. Das unerhörte, drängende Brio der Rezita-tive, dieser wirkliche und unüberhör-bare Pulsschlag der Erzählung, und die wunderbar furchtlose Stimme Peter Brownlees. Und auch dieses Mal traten ihm, als Koloman von Pataky die große Arie des Ottavio sang, Tränen in die Augen. Es gibt, sagte er sich, um seiner Verlegenheit zuvorzukommen, Stimmen, die umittelbar jenes schwingende Nichts, das wir als Seele bezeichnen, anschlagen. Diesen Schmerz genießen wir dann als Lust. Wie Eduard, dachte er, der vieles von Mozart singen, auf dem Klavier spielen konnte. Sang er Tenor? War er dem Bariton näher? Bestimmt kein Baß. Er blätterte in dem kleinen Mörike-Bildband nach der Photographie des Alten, dieses Kleinbürgers, der seinen Dämon blitzen läßt, und schaute ihn gewissermaßen stimmprüfend an: Nein, Baß sang der nicht, viel eher einen in den Höhen ängstlichen Tenor.

Er stapelte die Bücher, die er nach Tübingen mitnehmen wollte, am Ende jedoch legte er nur die Gedichte Mörikes in den Koffer.

Ein Brief an Ciaire, 14.1.1978

Liebe Ciaire, Du fragtest mich vorgestern, weshalb ich von mir aus kaum mehr anriefe, immer auf Dein Telefonat wartete, und ich entschuldigte mich mit meiner Schreiberei.

Die Gestalt bleibt mir zu historisch, bewegt sich nicht aus dem literarischen Rahmen. Ich will mich doch in ihr einsiedeln. Sie soll mir helfen, mich gegen die Ängste, die sie längst eingeübt hat, zu wappnen. Jetzt, vor dem Umzug (Tübinger Freunde schrie-"ben mir im übrigen, sie wüßten" in Lustnau eine geeignete Wohnung für mich, ich könnte sie im Juni beziehen — also doch noch länger hin, falls ich nicht vorher ein besseres Angebot bekomme), renne ich ständig gegen meine Schwerfälligkeit an. Er ist beweglicher gewesen, er konnte flüchten. Ich möchte es ihm nachmachen, diesen Impuls haben wie er — das wäre schon etwas, dann könntet ihr alle nicht mehr nach mir greifen, mich nicht einengen, mir nichts vorschreiben. Vielleicht lernte ich, Einsamkeit aushalten. Nein, Dir wird es bald nicht mehr genügen, mich einen Spinner zu schelten. Das ist schlimmer. Ich verstoße nicht nur gegen Deine Vorstellungen einer anständigen Existenz, ich drohe asozial zu werden. Dabei habe ich einen durchtriebenen, alle Winkelzüge des Egoismus kennenden Helfer: „Menschlichen Sprachen schon entfremdet, bequemt sich das unsterbliche Organ des Abgeschiedenen noch einmal zu reden."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung