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Meine Jugendzeit

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Ich wurde geboren im Jahre 1875 in Lübeck als zweiter Sohn des Kaufmanns und Senators der Freien Stadt Johann Heinrich Mann und seiner Frau Julia da Silva-Bruhns. Während mein Vater Enkel und Urenkel Lübecker Bürger war, hatte meine Mutter in Rio de Janeiro als Tochter eines deutschen Plantagenbesitzers und einer portugiesisch-kreolischen Brasilianerin das Licht der Welt erblickt und war mit sieben Jahren nach Deutschland verpflanzt worden. Sie war von ausgesprochen romanischem Typus, in ihrer Jugend eine .vielbewunderte Schönheit und außerordentlich musikalisch. Frage ich mich nach der erblichen Herkunft meiner Anlagen, so muß ich an Goethes berühmtes Verschen denken und feststellen, daß auch ich „des Lebens ernstes Führen“ vom Vater, die „Frohnatur“ aber, das ist die künstlerisch-sinnliche Richtung und — im weitesten Sinne des Wortes - die „Lust zu fabulieren“, von der Mutter habe.

Meine Kindheit war gehegt und glücklich. Wir fünf Geschwister, drei Knaben und zwei Schwestern, wuchsen auf in einem eleganten Stadthause, das mein Vater sich und den Seinen erbaut hatte, und erfreuten uns eines zweiten Heims in dem alten Familienhause bei der Marienkirche, das meine Großmutter väterlicherseits allein bewohnte und das heute als „Buddenbrook-Haus“ einen Gegenstand der Fremdenneugier bildet. Die lichtesten Zeite meiner Jugend aber waren die alljährlichen Sommerferienwochen in Travemünde mit ihren Badevormittagen am Strande der Ostseebucht und ihren Nachmittagen... zu Füßen des fast ebenso leidenschaftlich geliebten Kurmusiktempels gegenüber der Hotelanlage. Die gepflegte, geschützte und unbildenlose Idyllik dieses Aufenthalts mit vielgängigen Table-d'hote-Mahlzeiten sagte mir unbeschreiblich zu; sie leistete meiner natürlichen, viel später erst leidlich korrigierten Neigung zu träumerischer Trägheit Vorschub, und wenn die anfangs unabsehbaren vier Wochen zu Ende waren und es nach Hause in den Alltag ging, so war meine Brust von dem weichlichen Schmerz der Selbstbemitleidung zerrissen.

Ich verabscheute die Schule und tat ihren Anforderungen bis ans Ende nicht Genüge. Ich verachtete sie als Milieu, kritisierte die Manieren ihrer Machthaber und befand mich früh in einer Art literarischer Opposition gegen ihren Geist, ihre Disziplin, ihre Abrichtungsmethoden. Meine Indolenz, notwendig vielleicht für mein besonderes Wachstum; mein Bedürfnis nach viel freier Zeit für Müßiggang und stille Lektüre; eine wirkliche Trägheit meines Geistes, unter der ich noch heute zu leiden habe, machten mir den Lernzwang verhaßt und bewirkten, daß ich mich trotzig über ihn hinwegsetzte. Es mag sein, daß der humanistische Lehrgang meinen geistigen Bedürfnissen angemessener gewesen wäre. Zum Kaufmann bestimmt — ursprünglich wohl zum Erben der Firma —, besuchte ich die Realgymnasialklassen des „Katharineums“, brachte es aber nur bis zur Erlangung des Berechtigungsscheines zum einjährig-freiwilligen Militärdienst, das heißt, bis zur Versetzung nach Obersekunda.

Bei den Lehrern schadete mir sehr, daß ich „dichtete“. Ich war in dieser Hinsicht nicht diskret genug gewesen, wahrscheinlich aus Eitelkeit. Eine Romanze auf den heroischen Tod der Arria, „Paete, non dolet“, mit der ich mich vor einem Mitschüler gebrüstet und die dieser, halb aus Bewunderung, halb aus Bosheit, dem Ordinarius eingehändigt hatte, machte schon in Untertertia den Vorgesetzten meine dienstwidrige Absonderlichkeit klar. Begonnen hatte ich mit kindischen Dramen, die ich mit meinen jüngeren Geschwistern vor Eltern und Tanten zur Aufführung brachte. Es folgten Gedichte an einen geliebten Freund, der unter dem Namen des Hans Hansen im „Tonio KrögerV ein gewisses symbolisches Leben gewonnen hat, persönlich aber sich spät:r dem Trünke ergab und in Afrika ein trauriges Ende nahm. Was aus der braunbezopften Tanzstundenpartnerin geworden ist, der weitere Liebeslyrik galt, kann ich nicht sagen. Viel später erst gelangte ich zu erzählerischen Versuchen, sogar erst nach Zurücklegung einer kritisch-essayistischen Phase. Denn in einer wenig schulgemäßen Schülerzeitschrift, betitelt „Der Frühlingssturm“, die ich in Sekunda zusammen mit einigen revolutionären Primanern herausgab, glänzte ich hauptsächlich als philosophisch-wühlerischer Leitartikler.

Mein Vater starb an einer Blutvergiftung in verhältnismäßig jungen Jahren, als ich fünfzehn zählte. Er war dank seiner Intelligenz und seiner formalen Ueberlegenheit in der Stadt ein höchst angesehener, populärer und einflußreicher Mann gewesen, hatte aber an dem Gang seiner Privatgeschäfte seit Jahren schon nicht mehr viel Freude gehabt, und nach seiner Beerdigung, die an Ehrenpomp und Teilnahme alles überbot, was seit langem in dieser Art gesehen worden war, liquidierte die mehr als hundertjährige Getreidefirma. Auch das Stadthaus wurde verkauft, wie es mit dem großmütterlichen schon früher geschehen war, und wir vertauschten das weitläufige Heim, in dessen parkettiertem Ballsaal die Offiziere der Garnison den Töchtern des Patriziats den Hof gemacht hatten, mit einem bescheideneren, einer Gartenvilla vor dem Tore. Bald aber verließ meine Mutter überhaupt die Stadt. Sie liebte den Süden, die Berge, München, das sie auf Reisen mit meinem Vater kennengelernt hatte, und siedelte mit den jüngeren Geschwistern dorthin über, indem sie mich zum notdürftigen Abschluß meiner Schulstudien bei einem Gymnasialprofessor in Pension zurückließ, zusammen mit mecklenburgischen und holsteinischen jungen Adligen und Gutsbesitzersöhnen, die in Lübeck die Schule besuchten.

Ich habe diese Zeit in heiterer Erinnerung. Die „Anstalt“ erwartete nichts mehr von mir, sie überließ mich meinem Schicksal, das mir selbst durchaus dunkel war, dessen Unsicherheit mich aber, da ich mich trotz alledem gescheit und gesund fühlte, nicht zu bedrücken vermochte. Ich saß die Stunden ab, lebte aber im übrigen sozusagen auf freiem Fuß und stand mich gut mit den Pensionskameraden, an deren verfrühten Studentenkommersen ich zeitweise mit leutseligem Uebermut teilnahm. Dann, nach Erreichung des Schulbildungszieles, mit dem ich mich beschied, folgte ich den Meinen in die bayerische Hauptstadt und trat dort, das Wort „vorläufig“ im Herzen, als Volontär in das Büro einer Feuerversicherungsgesellschaft ein, deren Direktor früher ein derartiges Geschäft in Lübeck geleitet hatte und mit meinem Vater befreundet gewesen war.

Eine sonderbare Episode. Unter schnupfenden Beamten kopierte ich Bordereaus und schrieb zugleich heimlich an meinem Schrägpult meine erste Erzählung, eine Liebesnovelle mit dem Titel „Gefallen“, die mir den ersten literarischen Erfolg brachte. Nicht nur, daß sie in derselben sozialistisch-naturalistischen Kampfzeitschrift, M. G. Conrads „Gesellschaft“, die schon während meiner Schülerzeit ein Gedicht von mir gedruckt hatte, veröffentlicht wurde und jungen Leuten gefiel; sie trug mir auch einen warmherzigen und ermutigenden Brief Richard Dehmels ein, ja wenig später sogar den Besuch des bewunderten Dichters.

Meine Bürotätigkeit, in der ich von Anfang an ein reines Verlegenheitsprovisorium erblickt hatte, endete schon nach Jahresfrist. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts, der meine Mutter beriet und Vertrauen zu mir gefaßt hatte, gewann ich die Freiheit. Unter seiner Zustimmung erklärte ich, „Journalist“ werden zu wollen, ließ mich an den Münchener Hochschulen, der Universität und dem Polytechnikum, als Hörer eintragen und belegte Vorlesungen, die geeignet schienen, mich auf jenen etwas unbestimmten Beruf allgemein vorzubereiten: historische, nationalökonomische, kunst- und literar-geschichtliche Unterweisungen, die ich zeitweise regelmäßig und nicht ganz ohne Nutzen besuchte.

Als Student lebend, ohne es rite zu sein, machte ich in der akademischen Lesehalle die Bekanntschaft von Angehörigen des „Akademisch-dramatischen Vereins“ und wurde Mitglied einer theatralisch und dichterisch bestrebten Kaffeehauskumpanei, in der ich als Verfasser von „Gefallen“ ein gewisses Ansehen genoß.

Mein vier Jahre älferer Bruder Heinrich, der spätere Verfasser bedeutender und einflußreichster Romandichtungen, lebte damals, abwartend wie ich, in Rom und schlug mir vor, zu ihm zu stoßen. Ich reiste, und wir verlebten, was wenige Deutsche tun, einen langen, glutheißen italienischen Sommer zusammen in einem Landstädtchen der Sabiner Berge, Palestrina, dem Geburtsorte des großen Musikers. Den Winter, mit seinem Wechsel von schneidenden Tramontana- und schwülen Sciroccotagen, verbrachten wir in der Ewigen Stadt als Untermieter einer guten Frau, die in der Via Torre Argentina eine Wohnung mit steinernen Fußböden und Strohstühlen innehatte. Wir waren Abonnenten eines kleinen Restaurants namens „Genzano“, das ich später nicht wiederfand und wo es guten Wein und vorzügliche „Croquette di Polio“ gab. Abends spielten wir Domino in einem Cafe und tranken Punsch dazu. Wir verkehrten mit keinem Menschen. Hörten wir Deutsch sprechen, so flohen wir. Wir betrachteten Rom als Herberge unserer Unregelmäßigkeit, und wenigstens ich lebte dort nicht um des Südens willen, den ich im Grunde nicht liebte, sondern einfach, weil zu Hause noch kein Platz für mich war. Die historisch-ästhetischen Eindrücke, welche die Stadt zu bieten hat, nahm ich ehrbietig auf, nicht eben mit dem Gefühl, daß sie meine Sache seien und mich unmittelbar zu fördern vermöchten. Die antike Plastik des Vatikans hatte mir mehr zu sagen als die Malerei der Renaissance. Das „Jüngste Gericht“ erschütterte mich. Mit Vorliebe besuchte ich San Fietro, wenn der Kardinal-Staatssekretär Ram-polla in pompöser Demut die Messe las. Er war eine außerordentlich dekorative Personliehkelt, und aus Schönheitsgründen bedauerte ich es, daß seine Erhebung zum Papst diplomatisch verhindert wurde. -

Unsere Mutter, als Nutznießerin eines mittleren bürgerlichen Vermögens, dessen Erben nach dem Testament wir Kinder waren, gab uns Brüdern monatlich je hundertsechzig oder hundertachtzig Mark, und dieser Wechsel, der sich in italienischer Währung besser ausnahm, bedeutete uns viel: die soziale Freiheit, die Möglichkeit, „abzuwarten“. Bei bescheidenen Ansprüchen konnten wir tun, was wir wollten, und das taten wir. Mein Bruder, der ursprünglich gern Maler hatte werden wollen, zeichnete damals viel. Ich verschlang im Qualm unzähliger Drei-Centesimi-Zigaretten skandinavische und russische Literatur und schrieb. Erfolge, die sich allmählich einstellten, freuten mich, ohne mich zu überraschen. Meine Lebensstimmung setzte sich aus Indolenz, schlechtem bürgerlichen Gewissen und dem sicheren Gefühl latenter Fähigkeiten zusammen. Ein Brief Ludwig Jakobowskis, der damals in Leipzig die „Gesellschaft“ redigierte und dem ich eine Novelle geschickt hatte, begann mit dem Ausruf: Was sind Sie für ein begabter MenschI“ Ich lachte über sein Erstaunen, das ich sonderbarerweise als naiv empfand.

Wichtiger war, daß eine schon in München beendete Erzählung, „Der kleine Herr Friedemann“, im Hause Fischer in Berlin eingeschlagen hatte. Noch während des römischen Aufenthalts erschien mein erstes, kleines Buch, ein Novellenband, der den Titel jener Erzählung trug. Ich/durfte „mich“ in den Auslagen römischer Librerien liegen sehen.

Schon in Palestrina hatte ich, nach eifrigen Vorarbeiten, „Buddenbrooks“ zu schreiben begonnen. Ohne viel Glauben an die praktischen Aussichten des Unternehmens, mit jener Geduld, die meine natürliche Langsamkeit mir auferlegte, einem Phlegma, das vielleicht richtiger bezähmte Nervosität zu nennen wäre, führte ich die Erzählung in der Via Torre Argentina fort und nahm ein schon bedenklich angeschwollenes Manuskript mit nach München, wohin ich nach ungefähr einjähriger Abwesenheit denn doch zurückkehrte. Ich wohnte anfangs bei meiner Mutter, später in kleinen Junggesellenwohnungcn, die ich teils aus Familienbeständen, teils auch auf eigene Hand möblierte. Das Manuskript von „Buddenbrooks“ aufgeschlagen auf meinem feierlich mit grünem Stoff behangenen Ausziehtisch, verbrachte ich ganze Tage, indem ich Korbfauteuils, die ich in rohem Zustande eingekauft, auf den Knien liegend mit rotem Lack bestrich.

Kor Hz Holm, mir von Lübeck her bekannt und befreundet, wo er, der gebürtige Balte, die Prima absolviert hatte, gehörte zu jener Zeit dem Verlagshause Langen an, dessen Chef, wegen Majestätsbeleidigung verfolgt, im Auslande lebte, wie Wedekind. Von der Straße weg, bei einer Begegnung, engagierte Holm mich mit einem Monatsgehalt von hundert Mark für die Redaktion des „Simplicissimus“, und etwa ein Jahr lang, bis Langen von Paris aus den Posten kassierte, arbeitete ich in den eleganten Büroräumen der Schackstraße als Lektor und Korrektor, hatte namentlich die erste Auswahl unter dem Novellenmanuskript-einlauf für den „Simplicissimus“ zu treffen und von der übergeordneten Instanz, Dr. Geheeb, dem Bruder des Landschulpädagogen, die endgültige Entscheidung über meine Vorschläge einzuholen. Diese Tätigkeit hatte guten Sinn. Ich liebte das Blatt, hatte es von Anfang an weit über Georg Hirth „Jugend“ gestellt, deren Lebfrischheit mir philiströs erschien, und war sehr glücklich gewesen, als schon in zwei seiner ersten Nummern eine frühe Erzählung von mir, „Der Wille zum Glück“ gedruckt worden war, für die der junge Jakob Wassermann mir das Honorar in Gold eingehändigt hatte. Mein Bruder und ich hatten den Geist der Langenschen Gründung, ihre literarische Karikaturistik, ihren pessimistisch-phantastischen Humor gewissermaßen antikisiert in einem Bilderbuch, das wir mit sonderbarem Fleiß in Palestrina hergestellt und höchst unpassenderweise unserer zweiten Schwester zur Konfirmation verehrt hatten.

Meine Beziehungen zu dem außerordentlichen Witzblatt entbehrten also nicht der inneren Legitimität. Während ich bei seiner Redaktion behilflich war, blieb ich direkter Mitarbeiter. Mehrere meiner kurzen Novellen, „Der Weg zum Friedhof“ etwa, auch solche, die ich nicht in meine Gesammelten Schriften aufgenommen habe, erschienen dort zuerst, sogar ein Weihnachtsgedicht. „Der Weg zum Friedhof“ fand den besonderen Beifall Ludwig Thomas, der damals dem „Simplicissimus“ und seinem Verlage schon nahestand. Noch größeren Anklang fand bei Langen und den Seinen die sehr subjektive Schiller-Studie „Schwere Stunde“, die ich 2um hundertsten Todestage des Dichters für den „Simplicissimus“ schrieb.

Ich sagte, meine Beziehungen zu dieser kecken und in Wahrheit künstlerischen Sphäre, dem besten „München“, das es je gegeben hat, seien legitim gewesen. Dennoch war nur ein Teil meiner Natur daran beteiligt, und neben meiner redaktionellen Tätigkeit, für die man mir luxuriöserweise ein eigenes Zimmer mit prächtigem Schreibtisch eingeräumt hatte, lief die Förderung des persönlichen Hauptgeschäftes, die Arbeit an „Buddenbrooks“ her, der nach meinem Ausscheiden aus dem Langenschen Verbände mein Tätigkeitstrieb wieder allein zustatten kam. Bei meiner Mutter, vor Geschwistern und Hausfreunden, las ich zuweilen aus der Handschrift vor. Das war eine Familienünterhaltung wie eine andere, man lachte, und wenn mir recht ist, war die allgemeine Auffassung die, es handle sich bei meinem weitläufig-eigensinnigen Unternehmen um ein Privatvergnügen von geringen Weltaussichten und bestenfalls um eine ausgedehnte künstlerische Fingerübung. Ich wüßte kaum zu sagen, ob ich anderer Meinung war.

Der Roman wurde um die Jahrhundertwende, nach etwa zweieinhalbjähriger, oft unterbrochener Arbeit daran, beendet. Das Manuskript ging an Fischer, dem ich mich seit dem „Kleinen Herrn Friedemann“ verbunden fühlte. Ich weiß noch, wie ich es verpackte: so ungeschickt, daß ich mir heißen Siegellack auf die Hand fallen ließ und eine fürchterliche Brandblase davontrug, die mich lange quälte. Das Manuskript war unmöglich. Doppelseitig geschrieben — ich hatte es ursprünglich abschreiben wollen, aber später, da der Umfang überhand genommen hatte, darauf verzichtet —, täuschte es Über seinen Umfang, stellte aber für Lektoren und Setzer eine starke Zumutung dar. Eben weil es nur einmal vorhanden war, erste und einzige Niederschrift, entschloß ich mich zu einer Postversicherung und setzte neben die Inhaltsangabe „Manuskript“ ein Wertsumme auf das Paket: ich glaube gar tausend Mark. Der Schalterbeamte lächelte.

Die sorgenvollen Beratungen im Hause Fischer über mein unförmiges Angebot fielen in meine Militärzeit. Ich hatte „mein Jahr zu dienen“, das sich jedoch, da meine Tauglichkeitserklärung ein psychologischer Irrtum gewesen war, auf drei Monate reduzierte. Ein-oder zweimal war ich wegen Brustschmalheit und Herznervosität zurückgestellt worden, hatte aber offenbar jetzt eine Jugendblüte erreicht, die den diensttuenden Stabsarzt Über meine Qualifikation zum Soldaten irreführen konnte. Ich wurde angenommen, meldete mich beim Infanterie-Leibregiment und ließ mir bunte Kleider anmessen. Erst einige Wochen lebte ich im Dunstkreis der Kaserne, als meine Entschlossenheit, mich zu befreien, bereits einen tödlichen und, wie sich erwies, unwiderstehlichen Charakter angenommen hatte. Geschrei, Zeitvergeudung und eiserne Schmuckheit quälten mich über die Maßen. Körperlich zog ich mir beim Parademarsch eine schwere, äußerst schmerzhafte Sehnenscheidenentzündung im Fußgelenk zu. Ich kam ins Revier, dann ins Lazarett, und als ich dort vierzehn Tage lang mit einem Wasserglasverband gelegen hatte, war der Ausbildungsanschluß verlorengegangen — genau wie einst in der Schule. Uebrigens kehrte das Fußübel nach wiederaufgenommenem Dienst, wenn auch in leichterem und überwindbarem Maße, sofort. zurück. Ich hielt mich daran. Der Hausarzt meiner Mutter war mit dem zuständigen Oberstabsarzt bekannt. Ich wurde vorläufig beurlaubt und zu Neujahr enty lassen. Ich unterschrieb einen Verzicht auf geldliche Vergütung erworbenen Leibesschadens — wie gern! Die Oberersatzkommission, der ich überwiesen worden, teilte mich bei erneuter Untersuchung dem „Landsturm mit der Waffe“ zu, Was praktische Lossprechung bedeutete. Ich habe in keinem militärischen Verhältnis mehr gestanden. Auch der Krieg ließ von meiner physischen Person die Hand, einfach weil der erste Stabsarzt, dem ich vorgeführt wurde, ein Leser war, mir die Hand auf die bloße Schulter legte und erklärte: „Sie sollen Ihre Ruhe haben.“ Die folgenden unterwarfen sich seinem Befunde.

Die scheinbar nur zu berechtigten Skrupel und Zweifel, die unterdessen das Verlagshaus in Berlin meines Romans wegen geplagt hatten, waren überwunden worden — zum Teil wohl durch einen Brief, den ich aus dem Garnisons-lazarett mit Bleistift an Fischer geschrieben und worin ich, in Abwehr des Verlangens nach eingreifenden Kürzungen, dem Umfang des Buches für eine wesentliche und nicht anzutastende Eigenschaft desselben erklärte. Der Brief, mit fliegendem Stift in großer Sorge geschrieben, war bewegt und notgedrungen geschickt; er verfehlte nicht seine Wirkung. Fischer entschloß sich zum Druck, und Ende 1900 (mit der Jahreszahl 1901) kamen „Buddenbrooks“ heraus, in zwei gelbbrosehi'er-ten Bänden zum Preise von zusammen zwölf Mark.

Man darf nicht glauben, daß das Buch sogleich leichtes Spiel hatte. Die Befürchtungen des Verlegers schienen sich zu erfüllen. Niemand hatte Lust, für das ungefüge Produkt eines obskuren jungen Verfassers so viel Geld anzulegen. Die Kritik fragte mißgelaunt, ob etwa die mehrbändigen Wälzer wieder Mode werden sollten. Sie verglich den Roman mit einem im Sande mahlenden Lastwagen. Freilich wurden bald aus dem Publikum und in der Presse auch andere Stimmen laut. Immerhin wurde im Laufe eines Jahres die erste Auflage von tausend Exemplaren verkauft, und jetzt erhielt der Roman die Gestalt, in der er seine erstaunliche, am wenigsten von seinem Autor vorausgesehene Laufbahn beginnen sollte, Dringlichen Ratschlägen zugänglich, deren Spender sich auf den voraufgegangenen Bucherfolg von Frenssens Jörn Uhl“ beriefen, veranstaltete der Verlag die einbändige Fünf-Mark-Ausgabe mit Wilhelm Schulzens biedermeierlicher Umschlagzeichnung, und alsbald, während die preisenden Pressestimmen, selbst In ausländischen Blättern, sich mehrten, begannen die Auflagen einander zu jagen. Es war der Ruhm. Ich wurde in einen Erfolgstrubel gerissen, wie ich ihn später noch zweimal, binnen weniger Jahre, an meinem fünfzigsten Geburtstag und bei der Verleihung des Nobelpreises, jedesmal mit gemischten Gefühlen, voller Skepsis und Dankbarkeit, erlebt habe. Meine Post schwoll an, Geld strömte herzu, mein Bild lief durch die illustrierten Blätter, hundert Federn versuchten sich an dem Erzeugnis meiner scheuen Einsamkeit, die Welt umarmte mich unter Lobeserhebungen und Glückwünschen...

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