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BEGEGNUNG MIT DEM DICHTER

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Am 12. September 1966 jährte sich zum zehntenmal der Todestag des Dichters Hans Carossa. Vor zehn Jahren ging nur folgende kurze Notiz vom Ableben des großen deutschen Dichters durch die Presse: „Der Dichter Hans Carossa ist in der Nacht zum Mittwoch im Alter von 77 Jahren in seinem Heim in Riittsteig bei Passau plötzlich verstorben. Des Verstorbenen dichterisches Schaffen erhielt aus seinem Wirken als Arzt seine entscheidenden Impulse. Fast alle Werke Carossas sind Lebensgedenkbücher.“ Eine beschämende Tatsache, diese paar dürftigen Worte, wenn man bedenkt, daß Carossas Werke auch in den schwierigsten Zeiten für viele Menschen ein Trost und ein wertvoller innerer Besitz waren. Wenn man bedenkt, daß jede von diesem Dichter geschriebene Zeile auch heute volle Gültigkeit und Veröffent- keitsrecht hat! Und wenn man die menschliche Haltung bedenkt, die der Dichter bis zu seinem Tode bekannt und bewahrt hat! Carossa wurde wider Willen zum Präsidenten der deutschen Gründung „Europäische Schriftstellervereinigung“ nominiert, aber er verstand es, durch Auslandsreisen und andere Vorwändie nie diesen Vorsitz führen zu müssen, der notgedrungen einem Sekretär übergeben werden mußte. Carossas Name und Ruf über die Grenzen hinaus waren eine Vorspiegelung der damaligen Machthaber zugunsten der in Mißkredit geratenen deutschen Literatur. Carossa verließ nicht sein Vaterland, obwohl es für ihn schwer war, darin zu leben. Er verriet nie das Wort, er schuf dem Wort eine Herberge auch in jenen Jahren, wo das wahre, das wirkliche, das menschliche Wort ein mißachtetes und gefährdetes Dasein fristen mußte.

Ich hatte das große Glück, Hans Carossa persönlich kennengelernt zu haben. Und das kam so: Der damalige Schriftleiter der Zeitung „Vorarlberger Tagblatt“, Dr. Hans Nägele, fragte mich, ob ich gewillt sei, die Wochenbeilage seiner Zeitung, genannt „Feierabend“, mit einer Serie von Dichterporträts zusammenzustellen. Ich sagte zu, hatte jeweils acht Seiten zur Verfügung, also eine ganz stattliche Wochenbeilage. Die Auslese wurde mir überlassen. So wählte ich unter anderen Heinrich Suso Waldeck, Josef Weinheber, Felix Tlmmermans, Rainer Maria Rilke und eben Hans, Carossa. Die Gestaltung dieser „Feierabende“ war so, daß darin eine Charakteristik des Dichters erschien, dann Ausschnitte aus seinen Werken, ein Dichterbdldnis, Faksimiledrücke, andere passende Bildbeilagen, ferner Stimmen der Kritik und ein Werkverzeichnis. Für den „Carossa-Feier- abend“ wünschte ich mir ein noch unveröffentlichtes Gedicht. Ich schrieb also kurzerhand nach Rittsteig bei Passau, teilte Carossa Absicht und Zweck mit und bat um ein Gedicht — und wartete. Lange Zeit kam keine Antwort. Endlich, am 26. Mai 1937, erreichte mich eine Karte aus Italien, aus Terracina, auf der mir Carossa schrieb:

„Zu meinem großen Bedauern ist es mir im Augenblick nicht möglich, Ihren Wunsch zu erfüllen: ich bin auf der Reise und habe im Augenblick kein wirklich gültiges Gedicht zur Verfügung. Mit freundlichem Gruß, Ihr aufrichtig ergebener Hans Carossa."

Ich hatte Hochachtung vor diesen Zeilen, denn sie dokumentierten die große Verantwortung des Dichters, der nur Gültiges aus den Händen gab. Ich erinnerte mich da an einen Briefwechsel Carossas mit Hugo von Hofmannsthal, in dem ein Gedicht Carossas zur Frage stand, und der über ein halbes Jahr dauerte. Ein Gedicht, eingesehen, durchleuchtet und zurechtgerückt durch die Einfühlsamkeit Hofmannsthals, bis die lyrischen Zeilen reife Form und Kraft gewannen. Und heute? Wie wird denn heute „gedichtet“? Hingeschleudert in kürzester Zeit, aus anderen Quellen stammend als aus berufenen — und da steht es dann, verkrüppelt, seelenlos, blind und taub, verworren, so wie einst der Herr die Sprachen beim Turmbau in Babel verwirrte. Nein, Carossa war ein Behüter des Wortes! — Also mußte ich aus seinen erschienenen Gedichten auswählen, und ich fügte dem „Feierabend“ die beiden Gedichte ein: „Der alte Brunnen“ und „Empfängnis '. Ai der „Feierabend" am 84. Juli 1837 er schien, sandte ich einige Exemplare an Hans Carossa und erhielt schon am 28. Juli 1937 seine „Gedichte“ — die kleine Insel-Ausgabe — mit der Inschrift zugesandt:

„Wir aßen Brot, wir tranken Wein,

Sturm schlug uns ins Gesicht.

Die Woge griff nach uns herein, wir fürchteten uns nicht."

Die Zeilen Stammen aus seinem Gedicht „Fahrt“, und dazu schrieb er „mit herzlichem Dank und Gruß!“.

Dies war die eigentliche Anbahnung eines schönen Briefwechsels und def‘ persönlichen Bekänntschäftl' Ich durfte Carossa eigene Arbeitet! einsenden, deren Beurteilung für mich außerordentlich wertvoll war. Auch seine Bücher, die von Jahr zu Jahr erschienen, schenkte mir der Dichter mit Widmungen, etwa: „Wir müssen vor dem klaren Licht bestehen“ oder „Wo uns die tiefste Furcht umfängt, ist oft ganz nah der Eingang in ein Seelenreich“. Briefe, mit der Hand geschrieben — wie freute ich mich stets, wenn ich bei den Postsachen einen Carossa-Brief gleich erkannte, mit der edlen, klaren Schrift, mit den langen Ober- und Unterlängen, mit, dem klingenden Rhythmus der Zeilen —, ja, diese Briefe verwahre ich als Kostbarkeiten, die immer wieder dem Herzen wohltun.

Hans Carossa, der Goethe-Preisträger, spricht anläßlich der Preisverteilung am 8. Juni 1938 in Weimar am Schluß seiner hervorragenden Rede „Goethes Wirkungen in der Gegenwart“ den herrlichen, aber damals auch sehr gefährlichen Satz: „Bekennen wir uns, Gehende wie Kommende, zum Orden derer, denen alle Länder und Meere der Welt nicht genügen würden, wenn das Reich des Geistes und des Herzens unerobert bliebe!“ — Im Jahre 1940, am 16. August, war mir das große Glück beschieden, Hans Carossa in Passau treffen zu dürfen. Die Begegnung war in einem Cafė vereinbart. Ich wartete nur kurze Zeit, da trat Carossa — von Rittsteig kommend — zur Türe herein. Wir gingen auf einander zu, ein langer kräftiger Händedruck des Dichters, und Carossa begrüßte mich mit dem Anfang eines meiner Herbstgedichte, das ich ihm vor geraumer Zeit gesandt hatte: „Der sommermüde Strom ruht lächelnd vorbei.v Und schon war — ich möchte sagen — der magische Kreis um zwei Menschen geschlossen. Alles war vertraut, selbstverständlich, so, als wären wir uns schon oft begegnet. Keine Fremdheit, keine Glaswand, nein, alles offen und warm: das Auge, die Gebärde, der Klang der Stimme.

Bald brachen wir auf. Carossa wollte mir Passau zeigen. Er führte mich vor verschiedene Baulichkeiten und blieb dann vor einem einfachen Haus in einer schmalen Gasse stehen und sagte mir in seiner bescheidenen, einfachen Art, daß in diesem Hause die Kranke gelegen habe, von der seine Erzählung „Die Schicksale Doktor Bürgers“ handelt. Ich kannte diese Erzählung gut, so daß plötzlich ein noch innigerer Kontakt mit dem Dichter sich einstellte, weil er mir ein Stück seines Lebens und seiner Dichtung anvertraut hatte. Ziemlich schweigsam schritten wir weiter durch Passau und ruhten nach der kurzen, doch schönen und erlebnisreichen Wanderung in einem Gastgarten aus, der an die Donau grenzte. Hoch oben ragte die gewaltige Feste Oberhaus in den Himmel. Die späte, schräge Sommersonne warf freundliche Lichter in den stillen leeren Gastgarten. In behutsamen Gesprächen streiften wir viele Namen, die ich bald nach dieser Begegnung auf gezeichnet hatte, wie: Rilke, Hofmannsthal, Kubin, Fontane, Heinrich Suso Waldeck, Riemerschmied, Mombert, Felix Braun, Alverdes, Benno von Mechow, Bertram, Kolbenheyer, Ina Seidel, Jakob Schaffner, Friedrich Griese, Oberkofler, Mell, die Fürstin Marie Thum und Taxis, Tummler, Anton Kippenberg, Salminen, Waggerl, Bruno Walter, Ponten, Wiechert, Dörfler, Hesse, Anton Faistauer. Unausbleiblich waren auch politische Namen wie Hitler, Mussolini, Rust, Goebbels, Papen und verschiedene sogenannte „Würdenträger der Kultur“.

Eine ältere Dame trat in den Gastgarten und auf Carossa zu. Er stand auf, begrüßte sie mit bezwingender tyatürilch-

keit, stellte mich vor, sprach einige Minuten mit der Dame, die sich bald freundlich von uns verabschiedete. In dieser Zeit des Beisammenseins flogen Staffeln von Kampfgeschwadern silberweiß hoch im blauen Himmel in feindliche Lande. Carossa sagte: „Es ist furchtbar! Man kann sich doch nicht über Siege freuen! Wieviel Leid bringt jeder Sieg!“ Auch in kleinen Andeutungen Carossas erkannte ich ganz klar, daß er gegen die Vermassung der Gesellschaft war, gegen die Entmündigung der Persönlichkeit, gegen totalitären Machtanspruch, gegen Diktatur, Krieg und Unrecht. Während der ganzen Zeit unserer Begegnung fühlte ich, wie noch bei keinem Menschen vorher, die starke Ausstrahlung seiner schlichten, doch grundsatzfesten Persönlichkeit und warmen Menschlichkeit und eines demütigen Dichtertums. Diese Einstrahlung in mein Wesen war mir ein großes Geschenk, war eine stille Freude, war eine Anreicherung meines Lebens, die bis heute in mir fortbesteht und immer wieder Schönes auslöst.

Bevor wir aufbrachen, schrieb mir Hans Carossa in sein Insel-Buch „Die Schicksale Doktor Bürgers“ den Satz: „Die letzte Tat prägt alle früheren Taten.“ Dann gingen wir eine Straße weiter, er mußte einen bekannten Herrn treffen, mit dem er eben zu dieser späteren Stunde verabredet war. Ich begleitete Carossa dorthin. Die Verabschiedung war sehr herzlich, der Händedruck fest und warm, der Glanz in den Augen des Dichters und sein Abschiedslächeln beglückend.

Er sagte noch: „Wir werden uns Wiedersehen!“ Mit diesem Wort im Herzen ging ich dankbar in die Stadt zurück. Leider habe ich Carossa nicht wiedergesehen.

Seit dieser Begegnung sind manche Briefe und auch Manuskripte und Bücher getauscht worden. — Der Krieg griff nach mir. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1946 gediehen Wortaustausch und Zueignungen im erhöhten Maße, bis kurz vor Carossas Tod. In einem der letzten Briefe, die ich von Carossa erhielt, war mit schöner Handschrift folgendes Gedicht eingeschrieben: Tagelang hab ich den Acker gepflügt, unzählige Furchen achtsam gezogen fürwahr, schnurgerad glaubt ich sie all.

Aber nun schau ich vom Hügel hinunter, da, siehe, die meisten,

leider, gerieten mir krumm, wenige laufen gerad.

Ruhe, mein sorgliches Herz! Die Egge wird alles verebnen, oh, ihre Zähne sind gut, wehren dem Zahn der Zeit! Himmel, erziehe mir du die zarten künftigen Saaten!

Einst, über Krumm und Gerad neigt sich das reifende Korn.

Welche Demut! Welche gläubige Einsicht in die Bemühungen alles Menschlichen! Welches „An-die-Brust-Schlagen“ angesichts der eigenen Leistung! Sind diese Zeilen nicht ein schönes, vertrauensvolles Gebet?

Carossas Einschrift in die „Gesammelten Gedichte“, ein Buch, das mir der Dichter 1950 „herzlich zugeeignet“ hat, zeugt von der tiefen Verbundenheit des Geschöpfes mit der Schöpfung, vom Eingeruhtsein ins Leben und ins Vergehen: Heiliger Berg! Du verwitterst Leise zu Sand.

Auf das Moos der Granite Leg ich noch einmal die Hand.

Umweht von Frühlingswinden Fühl ich im pochenden Blut,

Wie mein schnelles Hinschwinden In deinem langsamen ruht.

In diesem Gedichtband stehen — in der „Abendländischen Elegie“ — auch die Zeilen, in denen sich das Vertrauen zu Europa trotz Einstürzen und unseligen Verdunkelungen aufrichtet:

O Abendland, so reich in der Verarmung,

Blick auf! Laß das Vergängliche vergehn!

Du weißt es doch, daß in der obern Sphäre Nicht alles mitstürzt, was im Irdischen fällt.

Diese „obere Sphäre“ hat der Dichter Hans Carossa in seinem Werk und Leben bis zum letzten Atemzug bewahrt. Wer ihm innerlich begegnen durfte, sei es in seinen Werken, sei es in persönlicher Zusammenkunft, der geht zeitlebens mit jenen Kräften um, die aus den reinen Quellen seiner Worte fließen, denen sich immer wieder Menschen zuneigen und so das Wort erfüllen werden, das am Schluß des Gedichtes „Der alte Brunnen“ von Hans Carossa steht:

O freue dich, du bleibst nicht einsam hier.

Viel Wandrer gehen fern im Sternenschimmer,

Und mancher noch ist auf dem Weg zu dir.

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