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Das Sterten eines heiligen Papstes

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Wie blitzartig schnell kam däs Ende Pius’ X. Nach dem Influenzaanfall von 1913, der sicher großenteils auf Rechnung der außerordentlichen Arbeitslast zu setzen war, kam Pius X. wieder zu Kräften. Er war nie so krank, wie die Leute auf Grund der übertriebenen Meldungen der Tagespresse zu glauben geneigt waren. Ja, er war in der ganzen Zeit seiner Krankheit und Rekonvaleszenz so voll Leben, daß es nicht gelang, ihn zu überreden, untätig zu sein. In den Tagen, die er im Bette verbrachte, sagte er immer wieder scherzend: „Wäre es nicht der trefflichen Aerzte wegen und könnte ich nach meinem Geschmack handeln, wäre ich schon wieder auf den Füßen und in Bewegung!“ Oft sah ich, wie er sich energisch aufrichtete, um ein Schriftstück, das ich ihm reichte, zu unterzeichnen. Seine Hand ausgestreckt haltend, rief er lächelnd: „Eminenz, schauen Sie, meine Hand zittert nicht!“ und gab dann mit gewohnter Festigkeit die Unterschrift.

Als er seine gewohnte Lebensweise wieder aufnahm, schien es ihm viel besser zu gehen, als ich ihn seit vielen Jahren gesehen hatte. Seine Tätigkeit steigerte sich noch. Es sah aus, als ob er neue Kraft gewonnen und von der Last der Jahre sich ein wenig erleichtert fühlte, die Last des Alters weniger auf ihn drücke. Alles ließ vermuten, der Heilige Vater werde noch einige Jahre am Leben bleiben. So konnte er seine Arbeit fortsetzen bis zum August 1914, als der große Krieg ausbrach. Die Kunde von der furchtbaren Tragödie erschütterte ihn tief. Er hatte ja seit langem den europäischen Brand vorausgesehen und ausdrücklich vorausgesagt. Trotzdem waren das Entsetzen und die Qual, die er empfand, als das Geahnte Wirklichkeit wurde, heftig. Tag und Nacht quälte das schreckliche Schauspiel des entsetzlichen Kampfes seinen Geist.

Der Einfall in Belgien und die Nachrichten von den ersten Schlachten erfüllten ihn mit bitterem Schmerz. Aengstlich wartete er auf amtlich belegte Beweise für alle Vorfälle, um darnach die Linie seines Einschreitens festlegen und ohne Furcht seine gewichtige Stimme zur Verteidigung der heiligen Grundsätze der Gerechtigkeit und des Friedens erheben zu können. Allein der Ruf des göttlichen Meisters ließ ihm kaum Zeit, die vom 2. August datierte und im „Osservatore Romano“ veröffentlichte bekannte „Esorta- zione“ (Ermahnung) zu erlassen. (Acta Apost. Sedis VI 1914 p. 373.)

Nach dem Feste Mariä Himmelfahrt am 15. ‘August traten beim Heiligen Vater Zeichen leichter Unpäßlichkeit auf. Aber weder er noch seine Umgebung legten dem leichten Unwohlsein übermäßige Bedeutung bei. Man schien es hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, der außerordentlichen Flitze jener Tage zuschreiben zu müssen. Ich selbst war etwas leidend und konnte am Dienstagmorgen, den 18. August, mich nicht zum Heiligen Vater begeben. Daher beauftragte ich den Substituten des Staatssekretariates, Monsignore Canali, Seiner Heiligkeit über die dringendsten Angelegenheiten Bericht zu erstatten. Er kam zurück und meldete, der Heilige Vater weise kein Krankheitssymptom auf, er habe ihm den Auftrag gegeben, mir zu versichern, es fehle ihm nichts: „Monsignore, sagen Sie dem Kardinal, er solle es sich gut gehen lassen, denn wenn es ihm schlecht geht, geht’s auch mir schlecht.“

Die Aerzte legten dem Unwohlsein wenig Gewicht bei und gaben das Gutachten ab, ein Tag Ruhe genüge zur Erholung. Auch seine Schwestern, die gewöhnlich verängstigt waren, sobald sie ein kleines Zeichen von Unpäßlichkeit bemerkten, waren nicht im geringsten aufgeregt. Bei ihrer Rückkehr in die Wohnung sprachen sie bei mir vor, um mir mitzuteilen, es liege nichts Beunruhigendes vor; ich würde den Heiligen Vater am nächsten Morgen ganz wohl antreffen.

Was nun in der folgenden Nacht vor sich ging, kann niemand von uns angeben. Der getreue Kaplan des Papstes, Monsignore Bressan, schlief . in einem der . anstoßenden Zimmer, das mit dem des Papstes in Verbindung stand. Er bemerkte aber nur, daß der Heilige Vater schlaflos war, sonst nichts. Als der Papst aber an jenem Morgen nicht zur gewohnten Stunde aufstand, ging er zu ihm und fand ihn fiebernd und leidend. Sofort wurden die Aerzte gerufen, die bei der Untersuchung die Lunge angegriffen fanden. Er war demnach schwer krank. Um acht Uhr brachten sie mir diese Nachricht. Ich war bestürzt und mir, sofort klar über den Ernst der Lage und die Gefahr einer Herzkrise. Ich sagte auch Dr. Marchiafava, ich glaube, das Ende sei nahe, da der Heilige Vater infolge der durch die Ereignisse jener Tage hervorgerufenen Eindrücke zu sehr niedergeschlagen sei. Doch sowohl Dr. Marchiafava als Doktor Arnici neigten dazu, mich für pessimistisch zu halten. Laut Diagnose handle es sich zwar um einen ernsten, jedoch nicht hoffnungslosen Fall, am Nachmittag würden sie in der Lage sein, sich ein endgültiges Urteil u bilden.

Die Nachricht von der schweren Erkrankung Pius’ X. verbreitete sich rasch in der Stadt, und viele Leute eilten in meine Wohnung, um Bescheid zu erhalten. Alle, die ihn wenige Tage vorher in voller Gesundheit gesehen, konnten nicht glauben, daß er im Sterben liege. Um zehn Uhr vormittags trat eine heftige Krise ein Ich eilte ans Krankenlager des Heiligen Vaters und fand ihn mühsam atmend. Die Aerzte kamen in aller Eile in den Vatikan und brachten unter Beihilfe eines Barmherzigen Bruders alle möglichen Heilmittel in Anwendung. Der Heilige Vater drückte mir fest die Hand. „Eminenz, Eminenz!“ war aber alles, was er sagte.

Die unmittelbare Gefahr eines Zusammenbruches (Kollaps) legte es uns nahe, ihm ohne Verzug die heiligen Sakramente zu spenden. Seine letzten Worte waren: „Ich ergebe mich ganz (in Gottes Willen).“ Hernach verlor er den Sprachgebrauch, blieb aber vollkommen bei Bewußtsein. Er schaute bald den einen, bald den anderen an und gab deutlich zu erkennen, daß er sich seiner Lage bewußt war. Die Wegzehrung und die letzte Oelung wurden ihm vom Sakristan der Apostolischen Paläste, Monsignore Zampini, in ganz ein-

facher Form gespendet. Ein kleiner Tisch neben dem Bett, mit einem Altartuch bedeckt, ein Kreuz und zwei brennende Kerzen waren das einzige Zeichen der Zeremonie in jenem unvergeßlichen Augenblick voll Angst und Kummer. Angesichts der so einfachen Art, wie dem Heiligen Vater die Sterbesakramente der Kirche gespendet wurden, drängte sich mir der Gedanke auf, wie froh er sein mußte, alle öffentlichen Feierlichkeiten, die sonst das Totenbett eines Papstes umgeben, vermieden zu sehen. Es sah aus, als ob man dem Vorgang im bescheidenen Heim eines sterbenden Arbeiters beiwohne, ohne allen Pomp und Glanz. Seine geliebten Schwestern standen neben ihm und beteten in stiller Trauer. Wir waren überhaupt nur wenige, da das Ende so schnell gekommen war. Plötzlich erklangen die tiefen Töne der großen Glocke von St. Peter „Pro Pontífice agonizante“ — für den sterbenden Papst. Auf dieses Zeichen hin begann in den Patriarchalbasiliken die Aussetzung des Allerheiligsten mit besonderen Gebeten.

Der drückende Schirokko jenes Tages, das Gemurmel der Menge, das vom Petersplatz heraufdrang, das Flüstern der Prälaten und anderer Leute sowie der düstere Glockcnton machten den Eindruck eines traurigen Traumes. Und als Hintergrund der eindrucksvollen Szene die kritische I.age Europas und der Weltkrieg.

Zu Unrecht wurde behauptet, der Gesundheitszustand des Heiligen Vaters sei schon mehrere Tage besorgniserregend gewesen. Sein physisches Befinden war normal bis zuletzt. Beweis dafür ist die Abreise mehrerer Kardinäle aus Rom in die Sommerferien, die gerade in jenen Tagen erfolgte. Auch ich hatte mich lediglich wegen des Kriegsausbruches noch nicht aus dem Vatikan entfernt, um einige Wochen auf dem nahen Monte Mario zu verbringen, wie ich es auf Drängen des Heiligen Vaters alljährlich nach dem Jahrestag seiner Krönung am 9. August zu tun pflegte.

Kaum war die plötzliche Verschlimmerung im Befinden des Heiligen Vaters eingetreten, wurden sofort die in Rom anwesenden Kardinäle benachrichtigt, die auch bald darauf voll Angst und Sorge in die päpstliche Wohnung eilten, als erster Kardinal Bisleti. Den von Rom abwesenden Kardinälen wurde alsbald vom Staatssekretariat aus telegraphiert. Der Camerlengo der Heiligen Römischen Kirche, Kardinal Deila Volpe, traf am nächsten Tage in Rom ein.

Die Bulletins der beiden Aerzte wurden an den verschiedenen Eingängen des Palastes angeschlagen und am Abend des 19. August, der der letzte sein sollte, im „Osservatore Romano“ und allen anderen Zeitungen veröffentlicht. Die energischen Maßnahmen der Aerzte taten übrigens • ihre Wirkung, so daß der Heilige Vater sich zu erholen schien. Tagsüber blieb er ganz still und ruhig im Bett sitzen, auf die Kissen gestützt. Eine neue Krise, die sein’ heiteres Aussehen hätte trüben können, trat nicht ein. Kein Zeichen der Erregung wir bemerkbar, noch kam irgendeine Klage über seine Lippen. Wohl war er der Sprache beraubt, erkannte aber seine Umgebung gut. Von Zeit zu Zeit machte er langsam das Kreuzzeichen,

Die Stunden schienen nicht zu vergehen und der lange Sommertag kein Ende nehmen zu wollen. Wir saßen im Nebenzimmer, um freie Luftzirkulation zu ermöglichen, und warteten schmerzgebeugt auf seinen Heimgang in die Ewigkeit. Etwa um halb zwölf trat ich in sein Zimmer. Sofort wandte er sich mir zu und heftete, während ich midi anschickte, mich ans Fußende seines Bettes zu stellen, seinen durchdringenden Blick auf mich. Er hob den Arm wie zum Gruß, und ‘ als ich mich nahe zu ihm setzte, ergriff er meine Hand und drückte sie so stark, daß ich erstaunt war. Wie gerne hätte ich in diesem Augenblick seine Gedanken gelesen und seine Stimme gehört, während wir beide mit den Augen miteinander sprachen!

Dachte der Heilige Vater an die langen Jahre, die ich in vertrautem Verkehr mit’ ihm stand, und an alles, wäs wir zusammen gelitten? Wollte er durch seinen letzten Gruß mich trösten in meinem Herzeleid, das ich zu verbergen suchte? Gott weiß es! Er hielt mich so bei der l and, mehr als vierzig Minuten. Alle Augenblicke ließ er mit dem Handdruck nach, um mich zu streicheln, ergriff aber gleich aufs neue meine Hand. Endlich war er müde, legte das Haupt auf die Kissen und-schloß die Augen. Es schien mir, Pius X, habe von mir Abschied genommen.

Nie werde ich die letzte Stunde unserer Trennung vergessen! Sie steht auch heute noch so lebhaft vor meinem Geiste, wie in jener denkwürdigen Nacht. Es kam mir vor, ich wiederholte die Worte des heiligen Laurentius, die wir erst vor einigen Tagen im Brevier gelesen hatten: „Quo progrederis sine filio, Pater? Quo, Sacerdos sancte, sine Ministro properas?“ (Wohin gehst du, Vater, ohne den Sohn? Wohin eilst du, heiliger Priester, ohne den Diener?)

Kurz nachher gab mir Dr.. Marchiafava, der Im anstoßenden Zimmer das letzte offizielle Bulletin über den Gesundheitszustand des Heiligen Vaters schrieb, mit der Hand ein Zeichen, zu ihm zu treten, und ersudhte mich zu meiner Ueberraschung, ihm bei der Zusammenstellung des Textes behilflich zu sein. Als ich fragte, wie ich ihm in. einer ganz außer meiner Kompetenz liegenden Sache helfen könne, erwiderte er: „Ich habe, seine wirkliche Absicht ja erraten.“ Er wünsche nämlich, daß ich noch ein Wort zum Heiligen Vater spreche, das eine Idee gäbe von der außerordentlichen Klarheit seines Geistes angesichts des Todes. „Beobachten Sie ihn doch, ist es nicht wundersam?“

Im Laufe des Tages, besonders nachmittags, hatten nicht nur die in Rom anwesenden Kar-- dinäle, sondern auch , verschiedene Prälaten und einige wenige Vertraute den großen Trost, die Hand des sterbenden Papstes zu küssen und seinen letzten Segen zu empfangen. Einige berührten mit dem Rosenkranz, einer Medaille oder einem kleinen Kreuz die Hände des Heiligen Vaters. Die Damen Sarto verließen das Zimmer des Papstes nicht mehr. Es sah aus wie ein kleines Heiligtum im Trauerschmuck, aber • durchweht vom mystischen Hauch des Geistes Gottes.

Gegen Mitternacht zog ich mich zurück, um etwas zu ruhen, in der sicheren Ueber- zeugung, Seine Heiligkeit werde noch einige Stunden leben. Eine Stunde später wurde ich ‘eilig herbeigerufen. Allein, ehe ich ins Zimmer Pius’ X. kam, war er sanft hinübergegangen, um den ewigen Lohn zu empfangen.

Seine auserwählte Seele war bei Gott!

Aus „Pius X.", Thomas Morus Verlag, Basel

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