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Der arme Landpfarrer

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AM SPÄTEN NACHMITTAG des 20. Juli 1903 spielte der Draht in alle Welt die Nachricht, daß Leo XIII. gestorben sei. Im 94. Lebensjahr, nach 26jähriger Regierung. ,

GIUSEPPE SARTO, Patriarch von Venedig, beauftragte gleich nach Erhalt der Todesnachricht seinen Sekretär, ihm eine Fahrkarte nach Rom zu besorgen. Denn er — Sarto — ist Kardinalpriester von San Bernardo alle terme die Diocleziani und zur Teilnahme am Konklave verpflichtet. Er beauftragt seinen Sekretär ausdrücklich, ihm eine Rückfahrkarte zu besorgen, denn dadurch ermäßige sich der Preis um einige Lire.

Diese Rückfahrkarte ist typisch für den Patriarchen von Venedig: sie zeigt, daß er völlig ahnungslos und völlig ohne jeden Ehrgeiz zum Konklave fuhr, aus dem er — sehr zur Überraschung der Welt und noch mehr zu seinem eigenen Entsetzen — als Pius X. hervorgehen sollte. Sie ist aber noch typisch in anderer Weise: zeigt sie doch, was für ein sparsamer Herr Giuseppe Sarto war. Sohn eines Schneiders aus dem venezianischen Dorf Riese, war er in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen und hatte seit frühester Jugend gespürt, wie Armut schmerzen konnte. Zeit seines Lebens war er deshalb ein Freund der Armen, Immer bestrebt, ihnen zu helfen. Jede Lire, die er sidi absparte, verschenkte er. Schon als Pfarrer von Sal-zano hatte er sein Pferd verkauft, um den Erlös den Armen zu geben. Außerdem hatte er so viele Schulden gemacht, um ein Spital erbauen zu können, daß der Bischof ihn abberufen mußte. „Er würde mir noch das letzte Weihrauchfaß veräußern“, soll er geknurrt haben. Nachdem er Bischof von Mantua geworden war, trug er seiner Schwester, die den Haushalt führte, streng auf, ja nicht besser zu kochen als bisher. Der mailändische Priester Adiille Ratti (der spätere Pius XL), der einmal nach Mantua kam und dem der Bischof seine Aufwartung machen wollte, fand im ganzen Palais niemand. Auf sein Rufen kam endlich jemand aus der Küche: es war der hochwürdigste Herr Bischof selbst, der sich gerade den Kaffee kochte und den jungen Priester kurzerhand einlud, mit ihm in der Küche zu frühstücken. Als Patriarch von Venedig — mit. einem großen Einkommen — hatte er in seiner Kasse immer Ebbe. Einmal versetzte er sogar seinen Ring, um zu Geld zu kommen. Auch genierte er sich nicht, bei Juden Geld auszuborgen. Alles nur um der Armen willen. Er würde, wenn er könnte, den Vatikan verschenken, sagte man von ihm, als er schon Papst geworden war. So weit kam es nicht, aber die Schweizer Garde wollte er aus Er-eparungsgründen auflösen. Und nur der Protest der Kantone rettete diese kleine Truppe in der malerischen Renaissanceuniform. Seine Wohnung im Vatikan im dritten Stock war lächerlich einfach eingerichtet. Das große Prunkbett Pius' VII., das man nach seiner Wahl aufstellte, ließ er wieder hinausschaffen, mit dem Bemerken, daß er darauf als Leichnam, doch nicht zu seinen Lebzeiten zu ruhen gedenke. Noch sein Testament zeigt von seiner Sparsamkeit: er verbietet, daß man seinen Leichnam einbalsamiert und wünscht nur einen einfachen Sarkophag.

„Ich bin nur ein armer Landpfarrer“, hatte er nach seiner Ernennung zum Bischof von Mantua zu seinen Seminaristen gesagt.

ICH BIN NUR ein armer Landpfarrer — diese Worte enthüllen am tiefsten den Charakter des Sarto-Papstes. Die Sorge um die Seelen hatte einst den jungen Giuseppe Priester werden lassen. Priester sein war für ihn Berufung. Kein Beruf. Fern lag ihm jeder Gedanke an Karriere, fern jeder Gedanke an Erlangung äußerer Würden. Er kannte nur einen Ehrgeiz: nicht „sein“, sondern das „aariere“ Reich zu suchen.

Bei seinem Vorgänger Leo XIII., dem Pecci-Papst, noch lagen die Verhältnisse ganz anders: mehr auf Wunsch seiner Mutter, denn aus eigenem Antrieb hatte er die priestliche Laufbahn ergriffen. In allen Briefen, die er während seiner Studienzeit schrieb, ist immer nur von einem die Rede: daß durch sein Priester-tum sein eigener Ruhm und der Ruhm der Familie erhöht werden möge. Nur einmal war dieses irdische Streben unterbrochen worden: als er die Priesterweihe empfing. Plötzlich hatte er erkannt, daß Priestersein doch etwas anderem dienen solle als nur der eigenen Karriere. Aber dieses „Damaskus“ war schnell vorübergegangen. Bald war er wieder besessen davon, Karriere zu machen. Sein Jubel kannte keine Grenzen, als er mit 33 Nuntius von Brüssel wurde. Um jämmerlich zu versagen. Und um abberufen zu werden. 32 Jahre saß er von nun als Bischof in Perugia. 32 Jahre in der Quarantäne. Erst hier hörte er auf, „sein“ Reich zu suchen, erst hier wandelte er sich vom oberflächlichen Karrieresucher zu jenem weisen, gütigen tieffrommen Hirten, als der er der Nachwelt in Erinnerung lebt. Und erst hier, in der „Quarantäne“, als er aufhörte, „sein“ Reich zu suchen, sich nur mehr um das „andere“ kümmerte, wurde ihm plötzlich — ohne Protektion — alles andere hinzugegeben. Bald wurde er Kardinal. Und schon zu Lebzeiten Pius IX. sprach man davon, daß er Papst werden könnte.

Giuseppe Sarto dagegen hatte immer nur das „andere“ Reich gesucht. Und gerade deshalb war ihm bald „alles andere dazugegeben worden“. Nach einigen Jahren Kaplanszeit schon wurde er Erz-priester und Pfarrer von Salzano, mit 40 bereits Domherr von Treviso, dann bischöflicher Kanzler, Spiritual am Priesterseminar, Generalvikar. Schließlich Bischof von Mantua. Dann Patriarch von Venedig, Kardinal. Und sqhließlich Oberhaupt der Kirche. •

ICH BIN NUR ein armer Landpfarrer: die Tätigkeit Giuseppe Sartos als Landpfarrer war es gewesen, auf seine Kapläne zu achten, daß sie eifrige Priester seien, ein tadelloses Leben führten, gute Predigten hielten, die Messe feierlich zelebrierten. Es war seine Aufgabe gewesen, den Kindern Katechismus- und den Brautleuten Brautunterricht zu geben. Um Ehedispensen an den Bischof oder nach Rom zu schreiben. Zu urgieren, wenn die bischöflichen oder päpstlichen Behörden gar zu langsam amtierten. Auf die schöne Ausstattung der Kirche zu achten. Eine gut funktionierende Kirchenmusik zu schaffen, die die Teilnahme an der Messe nicht störte, sondern förderte. Sich um die Armen und Kranken zu kümmern. Vereine zu organisieren und dort selbst kleine Vorträge zu halten. Mit der weltlichen Obrigkeit in Frieden zu leben, so lange sie die Rechte der Kirche nicht antastete. Aber scharfe und energische Scharmützel zu liefern, wenn sie sich Ubergriffe erlaubten.

Sarto blieb diesem Programm immer treu. Nicht nur als Pfarrer. Auch als Generalvikar. Als Bischof. Als Patriarch. Als Papst. Nur mit dem Unterschied, daß sich dieses Programm auf immer größere Gebiete erstreckte.

KAISER FRANZ JOSEPH von Österreich, der den Titel einer apostolischen Majestät führte, ahnte nicht, welch wirkliche apostolische Tat er setzte, als er dem Kardinal von Krakau befahl, im kommenden Konklave das „Exklusive“ gegen den bisherigen Staafsekretär Leos XIII., Rampolla, auszusprechen. Jenes uralte Recht gewisser katholischer Herrscher auszuüben, mit dem sie ihnen mißliebige Kandidaten von der Möglichkeit, Papst zu werden, ausschließen konnten. Denn durch dieses Exklusive des Kaisers — Pius X. hat bald nach seiner Wahl dieses „Recht“ für immerwährende Zeiten abgeschafft — wurde innerhalb des Konklaves die|Frage, welcher Richtung der kommende Papst angehören sollte, ob der bisherigen Linie des Pecci-Papstes oder einer neuen

— zugunsten der letzteren entschieden. Kardinal Giuseppe Sarto wurde im sechsten Wahlgang zum Papst gewählt. Mit ihm bestieg einer der größten kirchlichen Revolutionäre den Stuhl Petri. Die Kommuniondekrete sind ein Beweis dafür.

DIE VERKUNDUNG DER berühmten Kommuniondekrete durch den zehnten Pius im Jahre 1910 ist eine Tat von säkularer Bedeutung. Eine Revolution von ungeahnten Ausmaßen. Denn sie, die bestimmten, daß jeder Katholik, der sich frei von schwerer Sünde weiß und die rechte Intention besitzt, jeden Tag zur Kommunion gehen könne, veränderten dadurch im wesentlichen das Antlitz der Christenheit. Diese Dekrete sind das Ende des Vegetierens innerhalb der Kirche: der Strom der Gnade kann frei und ohne Schleusen sich ergießen. Diese Dekrete sind das Ende der Angst innerhalb der Christenheit: durch Jahrhunderte hatten gnostische Einflüsse dem Christen versucht klar zu werden, daß er fast immer unfohig und unwurdig sei das Sakrament zu empfangen Und hatten ihn dadurch in dlichen Schrekken Wenn auch solche Lehren wie zum Beispiel der Jansenismus verurteilt worden waren unterIrdisch wirkten sie durch Jahrhunderte weiter Diese Dekrete sind das Ende der rein subjetiven Frömmigkeit, die objektive tritt gleichberechtigt an ihre Seite: während noch Leo XIII. gewünscht hatte, man möge während der Messe den Rosenkranz beten, befahl Pius X., nicht in der Messe, „sondern die Messe zu beten“. Das heißt sie mitzufeiern. Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte er schon befohlen, man solle die opernhafte Kirchenmusik abstellen, und statt dessen den gregorianischen Choral wieder in den Kirchen einführen. Um das Mitfeiern der Messe zu erleichtern. Die Kommuniondekrete hatten dieses Mitfeiern vollendet.

Diese Dekrete sind eine der größten Revolutionen innerhalb der Christenheit. Erlassen von einem Manne, der in seinem Herzen ein Kind war. Und ein Heiliger. Wobei vielleicht eines das andere nach sich zog. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ...“

IN DER NACHT, die auf seine Wahl folgte, soll der neue Papst sich ein ganz bestimmtes Reformprogramm für seine Regierung vorgenommen haben. An erster Stelle stand darin: die Neukodifikation des kanonischen Rechts. Seit 1325 war keine amtliche Kodifikation mehr erfolgt. Konzilerlässe waren dazugekommen. Dekrete der Päpste. Das ganze eine monströse Sammlung. Vielfach veraltet. Unklar. Ein Hindernis für die moderne Seelsorge. Als Pfarrer, als Generalvikar, als Bischof hatte er dieses Hindernis besonders kennengelernt. „Seine Schwere und sein Umfang übersteigen die Tragfähigkeit von Kamelen“, hatten sdion 1869 die süditalienischen Bischöfe voll grimmen Humors an Pio Nono geschrieben. Der Ferretti-Papst hatte die Neukodifikation in Angriff nehmen wollen, es war ihm nicht gelungen. Ebensowenig wie dem Trienter Konzil vor ihm. Und dem genialen Leo XIII. nach ihm.

Was allen nicht gelang — dem .ahnungslosen Landpfarrer“ — wie ihn ein hoher deutscher Prälat respektlos nannte — gelang auch das. Mit unglaublichem Instinkt fand er in der Person des Monsignore Gasparri den rechten Mann, der seine Idee in die Realität umsetzen sollte. Mit Hilfe eines großen Mitarbeiterstabes. Allerdings — die Welt lächelte über diesen Plan des Papstes. Denn sie hörte Jahre hindurch keine Silbe, ob die Arbeit vorwärtsgehe oder nicht. Und vermutete letzteres. Die neuen Gesetze über die Ehe, die Reform der Kurie, die Wahl eines Papstes, die Pius X. erließ, achtete sie als ein Ausfluß der Ungeduld des Papstes. Sie ahnte nicht, daß es sich um Versuchsballone handelte. Erlassen zu dem einen Zweck, die Lebensfähigkeit der Arbeiten der Kommissionen zu erproben.

In der unglaublich kurzen Zeit von einem Jahrzehnt war die Arbeit geleistet. 2414 Paragraphen in schmucklosem, aber präzisem Latein stellten das neue Kirchenrecht dar. Nicht mehr ein Hindernis für die Seelsorge. Sondern die beste Hilfe.

Der Sarto-Papst erlebte nicht mehr die Fertigstellung der Arbeit. Was seinen Nachfolger sehr bekümmerte, als er 1917 das Gesetzbuch veröffentlichte. Aber er tröste sich bei dem Gedanken, daß Pius X. sich im Himmel über die Fertigstellung freuen werde, sagte er au den Kardinälen.

KAUM WAR LEO XIII. zu Grabe getragen, als eine neue Häresie aufbrach: der Modernismus. Eine monologische Andacht des Menschen zu sieb selbst. Nichts Neues: der autonome Mensch, losgelöst von allen Bindungen. Fern allen Dogmen, jeder Hierarchie. Pius X. griff sie mit den schärfsten Mitteln an. Versuchte insbesondere, jeden Bazillus inerhalb der Christenheit zu ersticken. Mit Recht. Das Unglück war, daß eine Kamarilla am Vatikan sich seiner Erlässe gegen den Modernismus bemächtigte, um eine üble Modemistenriecherei zu entfesseln. Kardinäle, Bischöfe, natürlich der Jesuitenorden wurden von dieser Kamarilla verdächtigt. Die aus Menschen bestand, die selbst an unterdrückten Glaubenszweifeln litten und später prompt abfielen. Oder sich übergangen glaubten. Und' aus gekränktem Ehrgeiz sich auf diese Weise rächten. Der Papst, in seiner Sorge um die Reinhaltung der Kirche, lieh ihnen zeitweilig sein Ohr. Bis die Betroffenen sich energisch zur Wehr setzten. Und der Spuk verflog.

ALS MILLIONEN VON HERZEN zerbrachen, getroffen entweder von tödlichem Blei oder getroffen durch die furchtbare Nachricht, daß ihr Vater, ihr Mann, ihr Kind gefallen sei, zerbrach auch das Herz des Papstes, der immer auf seiten der Armen gestanden war. Lange schon hatte er den Weltkrieg vorausgesagt. Als er dann wirklich ausbrach, hatte dies seinem Herzen den tödlichen Stoß versetzt. Wäre er jünger gewesen, hätte seine Physis vielleicht diese Katastrophe überstehen können und er hätte mit zerbrochenem Herzen weitergelebt. So aber war er alt und seine Natur schon zu geschwächt. Am 2. August 1914, an jenem Tag, da die Deutschen an Frankreich den Krieg erklärten, das britische Kabinett in Permanenz tagte, rief er die Welt noch einmal zum Frieden auf. Die Welt hörte ihn nicht mehr. Am' 20. August starb er, mit einem unendlich verklärten Gesicht. Und dem Wunsch, daß sein Tod der Welt den Frieden erkaufen möge. Die Welt nahm kaum Kunde von seinem Tod. Die Deutschen eroberten an diesem Tag Brüssel, die ersten Granaten schlugen in die Kathedrale von Reims. Paris war in fieberhafter Unruhe. In Serbien und in den wohlhynischen Sümpfen verbluteten die Völker der Donaumonarchie.

.Arm bin ich geboren, arm habe ich gelebt, arm will ich sterben“, stand in seinem Testament. Dem Testament eines Heiligen.

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