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Um Denk- und Lehrfreiheit innerhalb der Kirche

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Im Lärm und Staub des Alltages entgehen der Aufmerksamkeit mitunter Ereignisse, deren Auswirkung im stillen von größter Bedeutung ist. Ein solches war die Ansprache, die der Heilige Vater Papst Pius XII. am 17. Oktober 1953 an die Gregorianische Universität anläßlich des 400jährigen Bestandes dieser päpstlichen Hochschule hielt1.

Um zu verstehen, worum es da geht, muß man sich folgendes vor Augen halten. Es ist für uns eine selbstverständliche Sache, daß in einem katholischen System der Philosophie und Theologie Wissen und Glauben, Autorität und Freiheit, Ueberlieferung und Fortschritt dauernd miteinander ringen. Die genaue Grenzlinie zwischen beiden gleichwesentlichen Komponenten ist aber oft schwer zu ziehen. Aber sie sind und bleiben ein Ganzes, auf das wir stolz sind.

Die genannte Papstrede bedeutet nun den vorläufigen Abschluß eines Kampfes um jene gerechte Denk- und Lehrfreiheit, die in den letzten vierzig Jahren einigermaßen bedroht war, und eine Grenzziehung zwischen Autorität und Freiheit zugunsten der letzteren. Es sei mir gestattet, darüber kurz zu berichten und einige persönliche Erinnerungen daranzuknüpfen, da ich in diesen Kampf einigermaßen verwickelt war.

Genau vor vierzig Jahren, als ich im Jahre 1916 nach meinen Wiener Studien die philosophische Lehrtätigkeit an der systemi- sierten theologischen Diözesanlehranstalt in Brixen begann, war kurz vorher folgendes geschehen. Am 29. Juni 1914 war das Motu- proprio „Doctoris Angelici“ erschienen, das alle Professoren an kirchlichen Hochschulen verpflichtete, sich bei Forschung und Unterricht streng an die Methoden, Lehren und Grundsätze des hl. Thomas zu halten. Es wurde dann bei der Studienkongregation angefragt, was man unter den Grundsätzen zu verstehen habe, und man erhielt als Antwort: die bekannten 24 Thesen. Sie wurden zwar schon 1915 nicht als verpflichtend, sondern als glaubensungefährliche Leitlinien erklärt. Aber vielfach wurden sie trotzdem als verpflichtend gedeutet, und wer ihnen theoretisch oder praktisch einen anderen Charakter gab, hatte damals einen schweren Stand. Damit schienen andere Lehrsysteme. Schulen und Thesen ausgeschaltet und die kirchliche Wissenschaft auf einen integralen Thomismus festgelegt.

Mein damaliger Bischof Franz Egger war der Verfasser weitverbreiteter und wertvoller philosophisch-theologischer Lehrbücher und außerdem eines Buches über absolute und relative Wahrheit der Heiligen Schrift. In diesen seinen Werken erwies er sich als treukirchlicher konservativer, ja teilweise überkonservativer Theologe. Nichtsdestoweniger regte ihn der Mißbrauch, der mit den genannten Verordnungen zugunsten eines einseitigen Thomismus getrieben wurde, in tiefster Seele auf. „Schreiben Sie, schreiben Sie!“ sagte er zu mir. Er, der selbst an der Gregoriana studiert hatte, meinte damit, ich sollte die Freiheit jener Thesen, die bisher unter den Schulen umstritten waren, schriftlich verteidigen. Er nannte mir sogar Zeitschriften, in denen ich das tun sollte.

Leider erwies sich dieser Wunsch damals noch als unerfüllbar. Im Gegenteil, 1917 wurde das genannte Gesetz, das auf Thomas verpflichtet, als Kanon 1366, § 2, kodifiziert. Das schien eine neue Stütze des integralen Thomismus zu sein. Dieser selbst war damals nur ein Ausschnitt aus dem integralen Katholizismus, der als Reaktion gegen den Modernismus sein Haupt erhob und seinerseits ebenso weit über das Ziel hinausschoß wie der liberale auf der Gegenseite. Auch mein Bischof war ein Opfer geworden. Er wurde in Rom ebenso als modernismusverdächtig denunziert' wie der Erzbischof von

Bologna, Giacomo della Chiesa, der spätere Papst Benedikt XV.

Allein schon bei der Kodifikation des Gesetzes (1917) war der Höhepunkt der Thomi- sierung überschritten. Bereits in seinem ersten Rundschreiben (1914) hatte Benedikt XV. gegen integrale Katholiken erklärt, kein Privater solle sich in der Kirche zum Lehrer aufspielen. Das Lehramt übe die Kirche und nur sie aus. Die Studienkongregation billigte ein Schreiben des Jesuitengenerals Wladimir

Ledochovski, daß Gegenthesen zu jenen 24 Thesen im Falle ebenso glaubensungefährlich und wahrscheinlich sein können. Pius XL wandte Benedikts XV. Worte direkt auf den Thomismus und auf den genannten Kanon 1366 an und erklärte: Niemand dürfe von anderen mehr verlangen, als die Kirche von allen verlange, und niemand dürfe anderseits bei Grundsätzen, die unter besser qualifizierten Autoren umstritten sind, gehindert werden, die Meinung zu vertreten, die ihm wahrscheinlicher zu sein scheine (Denz. 2192). Pius XII. wiederholte diese Worte2. Aber die umfänglich ausführlichste und inhaltlich eingehendste Deutung des Kanons gab er letztes Jahr bei seiner Rede an die Gregoriana.

Die Erklärungen der Päpste stellten ebenso viele authentische Interpretationen durch den Gesetzgeber dar. Ihre beständige Wiederholung war keineswegs überflüssig. Denn so willkommen einem integralen Thomismus der Kanon war, so unerwünscht dessen authentische Interpretation. Er gab ihm seine eigene Deutung, hoffte sie immer noch durchzusetzen und damit sein Ziel Zu erreichen. Als ich 1934 auf Einladung ihres weitherzigen und weitschauenden Leiters Alois Mager auf den Salzburger Hochschulwochen ein fünfzehnstündiges Kolleg über „Grundzüge einer Naturphilosophie nach dem Weltbild des hl. Thomas und dem der Gegenwart“ las, äußerte ein Gelehrter: „So etwas unmittelbar vor dem Sieg!“ Er verstand unter Sieg die Alleinherrschaft seiner Schule und das Monopol für ihre Lehrmeinungen. Dieser Sieg schien ihm unmittelbar bevorzustehen und durch meine Vorlesungen gefährdet. Allein dieser Sieg war längst schon eine Illusion, die durch authentische Erklärungen zerstört war. Es folgten weitere. Die ausführlichste von ihnen ist die genannte Rede.

Der' Papst zieht vor allem einen scharfen Trennungsstrich zwischen der Lehre der katholischen Kirche und den verschiedenen Lehrsystemen. Die katholische Lehre mit

Einschluß jener natürlichen Wahrheiten, die von allen katholischen Christen als solche anerkannt sind, ist das eine. Es darf nicht mit einem anderen verwechselt werden, nämlich mit den philosophisch-theologischen Lehrsystemen, die sich in der Kirche finden und die sich untereinander durch die verschiedenen Versuche unterscheiden, jenes eine, die katholische Lehre mit ihren besonderen wissenschaftlichen Mitteln zu erklären. Speziell in der Verkündigung, d. h. in Predigt und religiöser Unterweisung, dürfe niemals der Anschein erweckt werden, als ob ihr Inhalt aus solchen Lehrsystemen fließe und von ihnen abhängig sei.

Keines dieser Lehrsysteme ist seligmachend, noch weniger alleinseligmachend, als ob es die Pforte wäre, durch die oder durch die allein man in die Kirche eintrete.

Es gibt keinen Kirchenlehrer, dessen sich die Kirche als erster Quelle der Wahrheit bediente oder bediene. Auch die größten Lehrer, wie Thomas und Augustin, betrachte sie bei aller Verehrung, die si : ihnen zollt, nicht als unfehlbar. Unfehlbar seien nur die inspirierten Verfasser der heiligen Schriften und die Ueberlieferung in der vom Hei ligen Geist assistierten Deutung, Bewahrung und Uebermittlung durch die Kirche.

All die verschiedenen von der Kirche zugelassenen Lehrsysteme müßten mit dem übereinstimmen, was von Anfang der Kirche in Philosophie und Theologie an Wahrheiten erkannt worden ist. Dieses konstante und allgemeine Wissens- und Glaubensgut habe nun freilich niemand trefflicher dargestellt als Thomas von Aquin, ob es nun die Natur der Erkenntnis, das Wesen der Wahrheit, die metaphysischen Grundsätze, den persönlichen Gott, den Schöpfer aller Dinge, die. Natur des Menschen, die Unsterblichkeit der Seele, die Würde der Persönlichkeit oder die Pflicht, die Sittengesetz und Natur uns auferlegt, betreffe.

Erscheint so das Wesen des Thomismus als das allen Systemen gemeinsame Glaubensund Wissensgut in der Form, in der es Thomas dargestellt hat, so ist das, was nicht zum Wesen gehört, folgendes. Es ist erstens alles das, dessen Wahrheit unter bestqualifizierten Kommentatoren und Schülern des hl. Thomas noch umstritten ist. Zu den ersten nach Thomas wird dabei ausdrücklich schon vorher Franz Suarez genannt. Er scheidet ferner alles das aus, dessen Zugehörigkeit zur Lehre des hl. Thomas oder dessen Deutung strittig ist. Das gleiche gilt drittens von hinfälligen Folgerungen aus einem mangelhaften naturwissenschaftlichen Weltbild und viertens natürlich von diesem Weltbild selbst.

Zum Schlüsse gibt der Papst drei wichtige Erklärungen ab. Erstens sei das der Sinn des Kanon 1366, der auf Thomas verpflichtet. Zweitens sei das der Sinn jener hoch einzuschätzenden Freiheit, die der Forschung gebührt, die große Gelehrte und Professoren der Gregoriana immer mit der Treue zu Thomas zu verbinden wußten und die von den Päpsten, insbesondere von Leo XIII. und seinen Nachfolgern, immer sichergestellt wurde.

Drittens sei es infolgedessen jedem Professor unbenommen, unter den genannten Voraussetzungen irgendeiner Schule anzuhangen, die sich in der Kirche Heimatrecht errungen habe. Aber jeder solle dabei die Wahrheiten, die von allen gemeinsam festzuhalten sind, von dem unterscheiden, was Schuldoktrin ist, und auf diesen Unterschied im Unterricht hinweisen. Damit ist die immer wieder bezweifelte und verdächtigte Freiheit der verschiedenen Gelehrtenschulen sichergestellt.

Es ist eine Zeit vorüber, die für alle Beteiligten schwer war, für jene, die sich verpflichtet fühlten, alle anderen zu ihrer Schulmeinung zu bekehren, für jene, die sich im Gewissen gebunden meinten, sich dazu bekehren zu lassen, und für jene, die unter diesen, mitunter recht unsanften Bekehrungsversuchen äußerlich litten und sich innerlich in ihrer Gewissensfreiheit und wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit bedroht fühlten. Niemand hat also etwas verloren. Alle haben dabei gewonnen.

Wenn diese Weisungen ernst genommen werden, dann wird sich das vor allem auch bei der Ernennung von Professoren auswirken. Es wird nicht mehr darauf ankommen dürfen, ob einer ein hieb- und stichfester Vertreter einer gewissen Schulrichtung sei (welcher immer), sondern darauf, ob er auch dann, wenn er eine Schule vorzieht, die Freiheit eines kritischen Thomismus im Sinne der Kirche anerkennt und vor allem, ob er wissenschaftliche Qualifikation besitzt und Leistungen aufweist.

Dann wären die Voraussetzungen für wissenschaftlichen Fortschritt gegeben, insbesondere für eine Synthese der bleibenden Werte des Thomismus mit den seit 700 Jahren gewonnenen neuen Erkenntnissen und damit für eine Restauration des Thomismus, die für Kirche und Wissenschaft gleich fruchtbar und vorteilhaft wäre. Nichts könnte mehr im Sinne des hl. Thomas sein als das.

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