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Thomas von Aquin - heute noch aktuell?

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„Die Professoren mögen die Studien der systematischen Philosophie und der Theologie sowie die Ausbildung der Priestenamtskandidaten in diesen Fächarn völlig im Sinne, nach der Lehre und den Prinzipien des engelhaften Lehrers durchführen und diese Prinzipien heilighalten.“ Dies setzte der Codex Iuris Canonici, das kirchliche Rechtsbuch, fest — wobei mit „engelhafter Lehre“ Thomas von Aquin gemeint ist. Die Lehre — oder besser die Lehren

— dieses bedeutendsten Theologen der Hochscholaatik gilt auch heute, 700 Jahre nach seinem Tod, als die christliche Philosophie, wenn auch das II. Vaticanum Professoren und Studenten nicht mit gleicher Ausschließlichkeit wie das AKirchenrecht auf Thomas verpflichtet und nur noch von einem „immerwährend gültigen philosophischen Erbe“ spricht. Neben „Thomas als Meister“ — besonders in der spektakulativen Durchdringung der Heilsgeheimnisse

— sollen nach dem Willen des Konzils die Lehrenden und Lernenden auch „die mit der Zeit fortschreitende philosophische Forschung, besonders soweit sie im eigenen Land Einfluß hat“ berücksichtigen, desgleichen die modernen Naturwissenschaften. „So sollen die Alumnen über die charakteristischen Erscheinungen der heutigen Zeit gut Bescheid wissen und auf das Gespräch mit den Menschen von heute entsprechend vorbereitet werden“, heißt es wörtlich im Abschnitt über die Erneuerung der kirchlichen Studien des Dekretes über die Priestererziehung.

Das „Gespräch mit den Menschen von heute“, die Auseinandersetzung mit der modernen Welt, ist keine „Erfindung“ des jüngsten Konzils, sondern — unter einem bestimmten Blickwinkel — Thema der gesamten Kirchengeschichte. In der Enzyklika Leos XIII., „Aeterni Patris“, vom 4. August 1879, die einem „Regierungsprogramm“ dieses Papstes gleichkommt, wie manche Kommentatoren meinen, ging es vorrangig um eine Auseinandersetzung mit der modernen Welt. Die Kirche wollte eine Antwort geben auf die Probleme, die im Zug der Aufklärung und ihrer „Kinder“, den verschiedenen Revolutionen, die Zeit beherrschten. Die Enzyklika Leos XIII. — mit der Überschrift „Uber die christliche Philosophie, gemäß dem Sinne des heiligen Thomas von Aquin, des engelhaften Lehrers, an den zu errichtenden katholischen Schulen“ — machte die Lehren des Aquinaten zur alleinigen Richtschnur der theologischen Studien. Wer den Lehren des engelhaften Lehrers folgte, wich niemals vom Pfad der Wahrheit ab, wer sie bekämpfte, war immer schon verdächtig. Thomas war es gelungen, nicht nur alle Irrtümer früherer Zeiten zu überwinden, sondern auch zur Überwindung künftiger Irrtümer „unbesiegbare Waffen“ zu liefern. Im besonderen sah man in Thomas den zuverlässigen Gewährsmann zur Überwindung der Revolution, das heißt „jener Prinzipien des .neuen Rechtes', welche der Ordnung und dem öffentlichen Wohl schaden“.

Im Gefolge der genannten Enzyklika setzte eine Thomas-Renaissance ein, die ohne Zweifel bis in unsere Tage andauert, was allein die wahre Flut von Veröffentlichungen über Thomas und den Thomismus beweist. Zwei bedeutende Bewegungen seien genannt: Der „offene“ Thomismus, ausgehend von Löwen, der bemüht war, auch neue Fragestellungen einzubringen beziehungsweise die Lehren des Thomas weiterzuführen. Daneben entwickelte sich eine Strömung, die von Philosophie-geschichtlern Paläothomismus genannt wurde. Diese Richtung beschränkte sich auf Thomas allein und verfiel einer ungeschichtlichen Betrachtungsweise und — so Engelhardt — gerade dadurch unkontrollierten Zeiteinflüssen. So gingen Vertreter dieser Richtung etwa so weit, den Gedanken einer Dogmenentwicklung abzulehnen. Die Exponenten des „offenen“ Thomismus waren oft genug Anfeindungen ausgesetzt.

Thomas selbst schon hätte freilich nicht für alles, was er schrieb, das „Imprimatur“ der Autorität bekommen. So waren etwa 1277 bei einer Verwerfung von 219 Sätzen, denen Rationalismus und Naturalismus vorgeworfen wurde, 21 Texte des großen Albertschülers Thomas betroffen. Thomas, der eine hervorragende Kenntnis der Patristik hatte — seine Qualitäten als Exegete waren durch Unkenntnis des Hebräischen, manche meinen auch des Griechischen, beeinträchtigt — gelang es, die christliche Tradition, die Aristotelische Philosophie, den Neuplatonis-mus und die Schrift zu einem theologischen System zusammenzufügen. Das trug ihm schon zu Lebzeiten den Vorwurf von „zu wert gehenden Konzessionen an die heidnische Philosophie“ ein. Aber mit der Heiligsprechung des Aquinaten im Jahre 1323 wurde nicht nur Thomas selbst, sondern auch seine Lehre von jedem Vorwurf gereinigt. Der „Thomismus“ — wenn es auch schwer sein dürfte, seine vielfältigen Erscheinungsformen mit einem einzigen Namen zu erfassen, denn das Gemeinsame besteht letztlich nur noch in der Berufung aller Schulen auf Thomas — wurde zur offiziellen Lehre der Kirche und durch „Aeterni Patris“ als solche sanktioniert.

Man kann heute gelegentlich die Ansicht hören, Thomas sei nicht mehr „aktuell“, seine Lehren seien bloß noch für Philosophie- und Theologiegeschichtier interessant und ähnlich wie die Dinosaurier der Urzeit zu studieren. Für heutige Fragestellungen habe Thomas nichts zu „bieten“, kann man auch von Theologen zu hören bekommen. Demgegenüber sei, sozusagen als „Anwtlt“ für Thomas, ein Name genannt, der wohl nicht den Verdacht erregen dürfte, kirchliche Interessen zu verfolgen: Vitezlav Gardavsky, Marxist und Atheist, schreibt in seinem 1968 in deutscher Sprache erschienenen Buch „Gott ist nicht ganz tot“ über die thomistische Philosophie: „Selber eine der Früchte der scholastischen Gelehrsamkeit, gerät sie zwischen deren Mahlsteine und wird von diesen so zermahlen, daß sie ganz unverdaulich wird. Schon scheint es, daß sie am Ende sei. Und dennoch nimmt ihr Einfluß noch jahrzehntelang sowohl innerhalb wie außerhalb der römisch-katholischen Kirche zu. Sie wird mit dem hehren Namen ,Philosophia perennis' geehrt, einer Philosophie, die die Zeiten überdauert und geeignet ist, zum geistigen Rückhalt für alles und alle zu werden. Ihr streng in sich geschlossenes gotisches System enthält mehr als die späteren, nach allen Seiten auseinanderstrebenden Pilo-sophen wahrhaben wollen; aber doch wiederum nicht so viel, daß die Erdbeben der Zeitläufe nicht auch ihr Gewölbe bedrohen. Für die Humanisten des vergangenen Jahrhunderts gehörte Thomas restlos zu jener Zeit ,ehe es hell wurde'; sie betrachten seine Philosophie als eine Leiche mit geschminkten Wangen, auf denen man die Spuren des Todes verwischt hatte, so daß sie gleichsam lebendig erschien, obwohl sie schon stank.“ Doch selbst die Marxisten, fährt Gardavsky fort, begegneten ihr immer wieder als sich wandelnd und deshalb lebendig.

Man wird dem Atheisten Gardavsky auch darin folgen können, daß Thomas nicht alle Fragen gestellt habe, auf die wir eine Antwort suchen, weiters darin, daß uns Heutige mehr die Anordnung der von Thomas gestellten Fragen interessiert als die Richtung, in die seine Antworten zielen. Gardavsky kritisiert: „Dem Thomismus fehlt die Aufgeschlossenheit. Er wird stets ein Hindernis für die Art von Glauben sein, der einen lebendigen Sinn für das Los der Menschen hat.“ Vielleicht deckt sich diese Kritik mit dem, was ein Theologe sagt: „Die Anfechtung hat in der Theologie des Thomas keinen Platz.“

Doch deswegen ist Thomas nicht für heute „unbrauchbar“, in seinen Lehren sind Dinge enthalten, die r— wie große Kunst — wenn schon nicht für Ewigkeit, so doch für lange Zeit Gültigkeit haben. So klingt es geradezu modern, wenn man bei Thomas liest: „...und daher ist es die äußerste Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis von Gott, daß der Mensch weiß, daß er von Gott nichts weiß, insofern er erkennt, daß das, was Gott ist, alles überschreitet, was wir von ihm erkennen“ oder auch „... daß wir von Gott nicht wissen können, was er ist, sondern nur, was er nicht ist.“

Thomas von Aquin — heute noch aktuell? Nach dem Urteil Gardavskys hat Thomas zu seiner Zeit begriffen, was not tut. Was heute not tut, müssen gewiß die Menschen von heute begreifen — Thomas könnte dazu eine Hilfe sein.

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