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Mehr-Sein kommt vor Mehr-Haben

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„Wovon werden wir morgen geistig leben?“ lautete das Thema des Salzburger Humanismusgespräches 1986. Die Kernfrage: Hält der moralische Fortschritt mit dem technischen mit?

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„Wovon werden wir morgen geistig leben?“ lautete das Thema des Salzburger Humanismusgespräches 1986. Die Kernfrage: Hält der moralische Fortschritt mit dem technischen mit?

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Der historische Gegensatz zwischen Wissenschaft und Glaube, der mit dem Kennwort Galilei gemeint ist, gehört der Geschichte an. Daß dem so ist, hat nicht zuletzt das Oberhaupt der katholischen Christenheit, Papst Johannes Paul II., bei seinem Besuch in Deutschland und seiner Rede im Kölner Dom vor den Vertretern der Wissenschaft deutlich unterstrichen. Der Papst wies damals auf jene berühmten Konflikte hin, die „aus dem Eingriff kirchlicher Instanzen in den Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis entstanden sind“ und deren sich die Kirche heute „mit Bedauern“ erinnere. Sie wisse heute um die Irrtümer und Mängel dieser Verfahren.

Oder der andere Satz: „Wir fürchten nicht, ja wir halten es für ausgeschlossen, daß eine Wissenschaft, die sich auf Vernunftsgründe stützt und methodisch gesichert fortschreitet, zu Erkenntnissen gelangt, die in Konflikt mit der Glaubenswahrheit kommen.“

Während meiner fünfzehnjährigen Tätigkeit als Präsident des römischen Sekretariates für Nichtglaubende hatte ich im April 1978 die Ehre, prominente Vertreter; der Naturwissenschaften und der Theologie zu einem Gespräch als Gäste der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu laden. Die Tatsache, daß eine Akademie der Wissenschaften einem Symposion unter dem Titel „Glaube und Wissen“ Gastrecht gewährte, war für unsere Zeit neu.

Gesprächspartner zum Thema „Wissenschaft und Glaube“, so meinte der Präsident der Akademie, würden heute nicht mehr im Sinne diametralen Gegensatzes gesehen. Es gehe heute um eine Komplementarität, wie der Ausdruck im atomaren Bereich der Physik verwendet wird. Die Eigenständigkeit der einzelnen Wissensgebiete, wie auch der Theologie, würde davon nicht berührt. Auf dieser neuen Gesprächsebene, wie sich gerade in München zeigte, bewegen sich heute Wissenschaft und Religion.

Beide Teile eines solchen Gespräches müssen sich heute direkt oder indirekt dem Mißtrauen gegen Wissenschaft und Ratio stellen. Die Frage der Umweltschäden, die Bedrohung der Schöpfungsordnung, die Frage ethischer Normen für wissenschaftliche Forschung, die positiven und negativen Auswirkungen derselben, laden Wissenschaft und Glauben ein, sich aus der Sicht unserer Zeit zum Dialog, zum Gespräch zu begegnen — mit flem Blick auf das Welt- und Menschenbild in seinen veränderlichen und unveränderlichen Strukturen. Die Hinweise des Nobelpreisträgers für Physik, Max Planck, tauchen am Horizont auf: Gott, so meinte er, steht am Anfang der Religion und am Ende der Wissenschaft.

Der englische Nobelpreisträger Sir Arthur Stanley Eddington beschreibt in seinem Buch .Philosophie der Naturwissenschaften“ diese Situation mit den Worten: „Das Ende unserer Reise ist nach so vielen Anstrengungen einigermaßen enttäuschend. Statt uns auf einem einsamen Gipfel em-porzukämpf en, finden wir uns auf einem Lagerplatz von Gläubigen, die uns sagen: ,Das ist es, was wir seit Jahren behauptet haben'.“...

Es ist nicht nur die Frage, ob der Fortschritt, dessen Urheber und Förderer der Mensch ist, das menschliche Leben auf dieser Erde in jeder Hinsicht menschlicher und menschenwürdiger macht. Das ist ohne Zweifel in vielfacher Hinsicht der Fall. Aber die Zusatzfrage lautet: Wird der Mensch wenigstens als Mensch in Verbindung mit dem vieldiskutierten Fortschritt wirklich besser, das heißt geistig reifer, verantwortungsvoller, aufgeschlossener für den Mitmenschen und seine Not? Geht der moralische und geistige Fortschritt des Menschen mit dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt Hand in Hand?...

Das Wort Blaise Pascals taucht auch hier wieder auf: Le coeur a des raisons que la raison ne connait pas. Das heißt, das Herz, die Gesinnung, des Forschers reicht über den persönlichen Bereich hinaus. Dazu meint der Gründer des Club of Rome, Aurelio Peccei, in einem pessimistischen Ausblick: „Die schockierende Entdek-kung, die wir noch dazu machen müssen, besteht darin, daß der Mensch mit all seiner Wissenschaft, seiner Macht, seinen Plänen, Strukturen, Systemen und Werkzeugen sein Schicksal nicht ändern kann, wenn er sich nicht selbst ändert.“

Wenn die Zukunftsangst, die sich heute in vielfältiger Form äußert, die Menschheit in ihren klarsichtigen Vertretern beunruhigt, daß die Welt nicht mehr lange auf diesem Weg weitergehen kann, dann drängt sich eine Uberzeugungauf, die heute die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Religion aus der Sicht unserer Zeit unmittelbar berührt — es ist die Uberzeugung vom Vorrang der Ethik über die Technik, vom Primat der Person gegenüber der Sache, von der Überlegenheit des Geistes gegenüber der Materie. Es geht—nochmals sei es gesagt—um das Mehr-Sein, nicht um das Mehr-Haben. Es besteht die Gefahr, daß dem Menschen die Fäden entgleiten, mit denen er die Welt beherrscht.

Aus den negativen Erfahrungen des technischen Fortschrittes werden wir heute hingeführt zu der Erkenntnis vom Vorrang der Ethik vor der Technik. Das ist eine erste Feststellung, die Religion und Wissenschaft auf je verschiedene Weise unmittelbar heute besonders angeht.

Eine zweite, ebenso wichtige Feststellung schließt sich unmittelbar an. Es ist die in der innerwissenschaftlichen Diskussion aufgetauchte Frage nach den Grenzen der Wissenschaft, nach einem wissenschaftlichen Welt-und Menschenbild. Es ist ein Vortragender auf diesem Symposion,

■„Schrecklichere Dinge als Konzentrationslager und A-Bombe können passieren“ der Physiker und Biologe Alfred Gierer, Leiter der Abteilung für Molekularbiologie am Max Planck-Institut in Tübingen, der in seinem letzten Buch (Die Physik, das Leben und die Seele, 1985) auf solche Fragen eingeht. Er stellt fest: „So leistungsfähig die moderne Wissenschaft für die Erklärung der Natur ist, ihre eigenen Voraussetzungen kann sie nicht vollständig erfassen. Daher läßt sich auch auf der philosophischen und .metatheoretischen' Ebene die Rätselhaftigkeit, die Mehrdeutigkeit der Welt nicht aufheben.“

Oder: „Der Geltungsanspruch der modernen Physik ist umfassend, er schließt Atome und Moleküle ein. In ihren Formen ist alles an Information über künftige Zustände enthalten, was überhaupt aus Messungen geschlossen werden kann — alles, aber auch nicht mehr; denn sie enthalten andererseits auch keinerlei Daten, die sich im Prinzip nicht objektiv

feststellen ließen in dieser

Hinsicht ist der Anspruch der modernen Physik relativ bescheiden.“

Dies sind die Feststellungen eines bekannten Physikers und Biologen. Die Frage nach dem Jenseits der Grenzen der physikalischen und biologischen Wissenschaft interessiert heute ebenso den Vertreter einer christlichen Theologie, einen jeden Menschen, der nach dem Hin und Her seines Weges fragt.

Eine dritte Feststellung schließt sich unseren Überlegungen an: Es ist die Verantwortung der wissenschaftlichen Forschung für die Zukunft des Menschen, seine Umwelt, das ganze Universum. Was die Technik heute kann oder was gemacht Werden könnte, geht nicht nur den einzelnen, sondern ebenso den Staat, die Parteien, die Welt-Offentlichkeit an. Wer ist heute imstande, die Möglichkeiten der Naturwissenschaft und Technik zu überschauen, die Reichweite ihrer positiven und negativen Folgen abzuschätzen?

Mit anderen Worten: Das technische Können steht vor der Frage, wie weit können wir, wie weit dürfen wir in der Forschung gehen? Welche Auswirkungen sind für die Kern- und Gentechnologie zu bedenken? Wer trägt die Verantwortung? Gibt es allgemeine ethische Normen wie zur Zeit des hippokratischen Eides? Wenn der Dekalog, die Bergpredigt, die Weltordnung des Christentums nicht mehr binden, wo sind dann letzte Normen?

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang an die Feststellung des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg erinnern, der in einem seiner Bücher (Der Teil und das Ganze) schreibt: „Wenn man in dieser westlichen Welt fragt, was gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu verdammen ist, so findet man doch immer wieder den Maßstab des Christentums ... Wenn einmal die magnetische Kraft ganz erloschen ist, die diesen Kompaß gelenkt hat.... so fürchte ich, daß sehr schreckliche Dinge passieren können, die über die Konzentrationslager und die Atombombe noch hinausgehen“...

Der Präsident der österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Molekularbiologe Hans Tuppy, hat erst kürzlich zur Frage Ethik und Wissenschaft ausführlich Stellung bezogen. Er wies darauf hin, daß es dabei nicht nur um die Freiheit der Forschung geht, sondern ebenso um den Schutz der Würde und der Rechte der menschlichen Person. Eine Veränderung der menschlichen Grundwerte greife ja auch unmittelbar in das Zusammenspiel von Gesetzgebung und Politik hinein.

Das Menschenbild der Genesis (1,27) gewinnt heute neue Aktualität: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn.“ Oder des Psalms (8): „Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst. Des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere... Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde.“

Diesen Teil abschließend, füge ich einige Hinweise an, die mir für ein weltoffenes Christentum—aus der Sicht unserer Zeit und in Verbindung mit den Problemen und Auseinandersetzungen der Wissenschaft von heute — erwägenswert scheinen.

1. Eine bloß apologetische Einstellung der christlichen Theologie ist heute überholt. Nicht Selbstverteidigung steht im Vordergrund, sondern Aufgeschlossenheit gegenüber den vielen Fragen einer um eine menschenwürdige Zukunft ringenden Gesellschaff und Wissenschaft ist notwendig. Das II. Vatikanum enthält in seiner Pastoralkonstitution „Kirche und Welt“ orientierende Hinweise...

2. Der Mensch, sein Wesen, sein Weg und Ziel, befindet sich auf je verschiedene Weise nicht nur im Mittelpunkt des Glaubens, der christlichen Theologie, sondern heute auch der Wissenschaft im allgemeinen, der Naturwissenschaft im besonderen. Der Dialog, die Komplementarität auf dieser neuen Ebene lösen einerseits verschiedene Schwierigkeiten und Spannungen, andere tauchen aber auch wieder auf: die sprachlichen Mißverständnisse zwischen Wissenschaft und Religion, Schwierigkeiten mit den Medien und einer vereinfachten Form der Berichterstattung, die Relativität mit der Ausklammerung der Wahrheitsfrage, der Egoismus in vielen Lebensbereichen.

3. Die vergleichende Religionsgeschichte hat interessante Gesichtspunkte hinsichtlich der religiösen Anlage des Menschen eröffnet. Sie hat aber die monotheistischen Religionen, das Christentum im besonderen, in ihrer Eigenart in mißverständliche Zusammenhänge hineingestellt. Nicht eine allgemeine und unverbindliche Sehnsucht des menschlichen Herzens ist die Grundlage des christlichen Glaubens. Es ist die wissenschaftlich-kritische Grundlage, die sich verbindet mit einer persönlichen Entscheidung im Vertrauen auf das Wort Gottes, die Offenbarung, wie es die Propheten und Christus uns mitgeteilt haben.

Aus dem von Erzbischof Karl Berg, Salzburg, verlesenen Manuskript des erkrankten ehemaligen Wiener Erzbischof s für das Salzburger Humanismusgespräch 1386.

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