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Brauchen wir eine andere Wissenschaft?

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Das Schlußreferat von Prof. Illies, aus dem die FURCHE hier A uszüge bringt, war ein Höhepunkt des 10. Salzburger Humanismusgesprächs Ende September 1980. Ein Sammelband aller Vorträge dieser Tagung (Herausgeber: Oskar Schatz) erscheint im April im Verlag Styria.

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Das Schlußreferat von Prof. Illies, aus dem die FURCHE hier A uszüge bringt, war ein Höhepunkt des 10. Salzburger Humanismusgesprächs Ende September 1980. Ein Sammelband aller Vorträge dieser Tagung (Herausgeber: Oskar Schatz) erscheint im April im Verlag Styria.

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Die Wissenschaft hat zwei Gesichter. Die Wissenschaft hat man früher in der klugen alten Zeit in Sapientia und Scientia geteilt; das waren noch Zeiten! Sapientia war das Wissen um Gott, und Scientia war die keineswegs sehr anerkannte, im Grunde etwas überflüssige Kenntnis der sonstigen Dinge, die es da noch so zu wissen gab. Sapientia und Scientia sind die beiden Gesichter der Wissenschaft.

Wir haben heute die unselige Einteilung in reine und angewandte Wissenschaft, oder in angewandte und abge-

wandte, oder wie immer wir das dann unter uns nennen. Aber da hat doch auch etwas von der alten Einteilung mitgeklungen, nämlich dieses „es gibt zwei verschiedene Weisen des Herantretens an die Natur“. Naturkunde und Naturforscher sind eben zwei verschiedene Sachen. Das eine ist das Beschreibende, das demütig Hinnehmende, Anerkennende, das andere ist das Erklärende, Eingreifende, Verändernde, Beherrschende.

„Wissen ist Macht“, das haben wir schon so oft gehört, daß wir meinen, es wäre richtig. Aber durch Wiederholung ist noch nie eine Sache richtig geworden. „Wissen ist Macht“ ist ein Programm,, aber keine unabänderliche Naturwahrheit! Wissen kann Macht sein, und Macht wird meist mißbraucht.

Und insofern ist Wissen dann außerordentlich gefährlich.

Denken wir doch noch einmal zurück an unser deutsches Nationaldrama, das unserer heutigen Jugend kaufn noch bekannt ist, da es noch keine Asterix- Ausgabe davon gibt. Ich meine den „Faust“! Wer ist denn das eigentlich, dieser Faust? Hat Goethe damit den Nationalhelden der Deutschen schaffen wollen, wie Schiller in „Wilhelm Teil“ den für die Schweizer? Ist Faust ein Held, dem zum Olymp nachzustreben wir uns bemühen?

Nein; Faust ist doch eine Warnung an uns alle gewesen. Faust ist ein Unglücklicher und ein Sünder. Faust und auch sein Famulus Wagner, der den Homunculus macht, sind nicht geeignet als Ideale einer ganzen Generation. Nicht, daß es nicht gut wäre, wissen zu wollen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Aber in dem Sinne, daß es auf jeden Fall nicht gut ist, sich, um zu wissen, um Fortschritt zu haben, notfalls auch dem Teufel zu verschreiben …

Neugier ist auch eine Gier, und es hat einmal Carl Friedrich von Weizsäcker so schön gesagt, daß das hemmungslose Ausleben einer Gier nun einmal unmoralisch ist, auch wenn es sich um Neugier handelt. Das haben wir heute leider fast völlig vergessen.

Wenn heute einer mit einem weißen Kittel kommt, sein Notizbuch zieht und sagt: „Ich habe eine wissenschaftliche Befragung durchzuführen“, dann sind die meisten Menschen dazu bereit, ihm ihre Ehepraktiken hinzublättern oder andere Geheimnisse ihrer Intimsphäre, denn es ist ja für die Wissenschaft. Wissenschaftliche Neugier ist heute absolut geheiligt, denn es geht ja um den höchsten Wert des reinen Wissens!

Wie ferne sind die Zeiten, als es noch Kardinale gab, die sich weigerten, in ein Fernrohr zu sehen. Ich habe es schon einmal gesagt, für mich sind diese nicht der Inbegriff der Borniertheit, sondern unter Umständen auch des verantworteten U mgangs mit der eigenen Neugier: Ich will nicht alles wissen, ich will nicht alles sehen, was ich wissen oder sehen könnte!

Nein, Faust ist eine Warnung! Und wer ist der echte Wissenschaftler, der uns in diesem großartigen Stück vorgestellt wird? Ich meine, es ist Lynkeus, der Türmer. Der treibt „reine“ Wissenschaft. Und - nicht ganz unwichtig - der ist glücklich. („Ihr glücklichen Augen,“ was je ihr gesehn.“)

Was unterscheidet denn den Lynkeus, den Türmer, „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“, vom Faust? Er steht auf einem festen Turm. Fast hätte ich gesagt - ich bin nun eben Protestant - auf einer „festen Burg“, und er dient einem König. Alles ganz klar: für sich „guckt“ er nicht, sondern im Auftrag, und er hat festen Boden unter den Füßen.

So kann man als Wissenschaftler sogar glücklich sein, was immer die Augen auch gesehen haben, denn Sehen an sich ist ein ungeheuerliches Wunder, das Wahrnehmen ist eine ungeheuerli- che Gnade. Er steht auf seinem festen Turm, aber, um das Bild fortzuführen, wenn der Herr Dr. Faust kommt, dann läßt der es nicht beim Turm, sondern steigt als erstes einmal in einen Fesselballon.

Nun gut, das mag noch gehen! In der Tat, je höher man steigt, umso besser sieht man, umso weiter wird der Horizont des Wissenschaftlers. Aber denken wir doch einmal über die Weisheit unserer Sprache oder unserer Technik nach, die einen Fesselballon „fesselt“, damit er etwas taugt.

Diese metaphysische Nabelschnur, die den Beobachter da oben in seiner Kanzel mit der Erde, mit der Heimat, mit dem Auftrag, mit seinem Menschsein verbindet, ist eine Fessel - und Faust schneidet die natürlich durch: Freiheit der Wissenschaft, wir lassen uns doch nicht fesseln, wir lassen uns doch nicht etwa gar rückbinden, was auf lateinisch religio hieße und uns in fürchterliche Nöte brächte. Nein, wir schweben frei!

Nun lassen Sie uns im Bild verfolgen, wo denn so ein abgeschnittener, freier Fesselballon hintreibt? Selbst ein Faust im Ballonkorb nützt da nichts. Sehr bald wird er nichts mehr erkennen, weil die Nebel, die Dünste die Sicht verschleiern. Die Menschen dort unten werden ihm zum statistischen Gewimmel - lauter „Zigeuner am Rande des Universums“, lauter Zufallsprodukte in Brownscher Molekularbewegung, über die nur noch eine soziologische Wärmelehre allgemeine Aussagen macht. Im übrigen kommt er in die dünne Luft und erfriert, und wenn die Hülle endlich reißt, stürzt er tot herunter.

Nun, das Ganze ist nur ein Bild, aber ich hoffe, Sie haben verstanden, was es uns sagen soll. Für die unabhängige Wissenschaft ist Wissen der letzte und höchste Wert. Die Suche nach Wahrheit legitimiert sie zu jedem Handeln, denn Wahrheit und die Suche danach ist der höchste Wert, und das, was sie sucht, nennt sie Wahrheit, folglich ist sie legitimiert zu jedem ihr genehmen Handeln.

Dies ist die eine Seite der Wissenschaft. Hier liegt unser Grauen begründet vor den Gen-Manipulationen, vor den Atombombenexplosionen, hier gründet unser Zukunftsschock, der nicht ein Zeichen von Ängstlichkeit, von Zimperlichkeit unserer Generation ist, sondern ein Zeichen von Spürsinn. Denn wenn es so weitergeht, geht es nicht mehr weiter. Das spürt man, und dazu braucht man keine wissenschaftliche Ausbildung, im Gegenteil, die vermindert in diesem Falle die Sicht. Wenn das Triumphieren, das Funktionieren des menschlichen Geistes den höchsten Wert darstellt, dann ist die Welt so, wie sie ist, und dann spüren wir Grauen, und dann rufen wir mit letzter Kraft nach der anderen Wissenschaft.

Aber nun sei es noch einmal ganz deutlich gesagt: Es gibt diese andere Wissenschaft! Sie steht nicht im Rampenlicht, da prasseln keine Nobelpreise, da prasseln keine Stipendien, da prasselt überhaupt nichts, aber es gibt diese Wissenschaft, die reine, anschauende Wissenschaft, und die wollen wir uns nicht vermiesen lassen durch den berechtigten Protest gegen den Mißbrauch der anderen Wissenschaft.

Wissenschaft kann so bescheiden sein, so ehrfürchtig und damit so harmlos, mehr als das: so positiv für den Fortschritt der Welt, wie man nur möchte! Wer hätte Angst vor einer solchen Wissenschaft?

Wer hätte Angst vor einem Naturwissenschaftler, der nach „Physiolo- gus“-Manier die Welt betrachtet, nämlich jedes Stück Schöpfung ehrfürchtig hinterfragt danach, was Gott wohl damit sagen wollte? Da könnten wir uns dann sehr lange darüber streiten (und hätten wunderbar Gelegenheit, noch 1000 Jahre Symposien durchzuführen), was denn etwa im einzelnen der Storch, die Biene, der Efeu oder der Floh uns zu sagen hätten in dieser Welt. Aber die Grundeinstellung wäre plötzlich ganz anders, nämlich wieder vergleichbar der absoluten Gewißheit des Mittelalters: creatio et scriptura sind die beiden großen Formen, in denen Gott mit uns

spricht, seine Offenbarung und seine Schöpfung.

Die Andacht im kleinen, die stille Forscherfreude - schätzen Sie sie nicht zu gering! Es gibt Tausende von Menschen auch heute noch in unserem Lande, die, oft sogar nebenberuflich, diese Art Wissenschaft betreiben und damit ein Stück Kultur schaffen.

Wir brauchten mehr wissenschaftliche Amateure mit oder ohne Planstelle, und wir brauchten weniger Experten, vor allem weniger blinde Expertengläubigkeit.

Was sich heute im Butter- und Margarinekrieg auf der Expertenebene abspielt, ist eine Schande für die ganze Naturwissenschaft, viel schlimmer als der Frosch- und Mäusekrieg der Antike. Der war schließlich nur eine Verspottung der homerischen Helden, aber dies sind ja die homerischen Helden selbst, die hier uns verspotten! Da heißt es dann: doch Butter (Cholesterin!), nein, doch Margarine, und dann kommen die Soziologen und stellen zu unserer Beschämung fest, welche „Lobbv“

hinter welchem Experten steht…

Das alles hat mit der eigentlichen Würde der Wissenschaft nichts zu tun. Und das alles wäre vom Tisch, wenn man statt der faustischen Experten den wissenschaftlich Liebenden, den vom Eros der Wissenschaft angerührten Amateur, den demütigen und daher unabhängigen Lynkeus als den eigentlichen Wissenschaftler anerkennen würde …

Wissenschaft ist gar nicht so unterschieden von Kunst, und auch in der Kunst kommt es nicht darauf an, was man produziert, es kommt auch nicht so sehr darauf an, ob es das letzte und optimale Abbild irgendeiner Wirklichkeit ist, sondern es kommt darauf an, wie man es tut…

Am Ende aber ist alles ganz einfach. Wir sollen uns wandeln, und wenn wir uns wandeln, dann wird sich die Naturwissenschaft und die gesamte Wissenschaft als ein Teil unseres Handelns mitwandeln. Wenn wir uns nicht innerlich wandeln, kriegen wir äußerlich keinen Wandel hin, das ist ganz klar.

Wenn wir uns aber innerlich wandeln, dann können wir uns getrost heute noch unter ein Wort stellen, das seit 2000 Jahren zu allen Menschen gesagt ist und das so leicht mißverstanden werden könnte, das aber vor jedem Mißverständnis gefeit ist, wenn wir uns eben wirklich wandeln. Dann gilt nämlich für die Wissenschaft und für jeden von uns: „Alles ist euer, aber ihr seid Christi!“

Der Autor ist Professor für Zoologie an der Universität Gießen und Direktor des Max-Planck-In- stituts für Limnologie in Schlitz (BRD).

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