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Naturwissenschaft und Glaube

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„ ... Gott ist unendlich. Er ist allmächtig, allwissend, allgegenwärtig und ewig . . . Die Welt ist endlich und darum begreiflich. Wer sie aber begreift, der sieht, daß sie eine Welt des Leidens ist. Gewiß sind Raum und Zeit die Träger ihrer Ordnung. Aber wer bis auf den Grund erfahren hat, was räumliche Trennung, was ungewisse Zukunft und unwiederbringliche Vergangenheit bedeuten, wer den Tod kennt, der kennt auch die Sehnsucht nach einem Reich, in dem die Sdiranken der Endlichkeit nicht mehr gelten. Dieses göttliche Reich lehrt und verkörpert Christus. Es überschreitet die Schranken der Endlichkeit in seiner Forderung und in seiner Erfüllung. Seine Forderung ist unbedingt: ,Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel.' Erst diese Forderung macht deutlich, in welchem Maße die endliche Welt nicht nur eine Welt des Leidens, sondern eine Welt der Schuld ist. In der Erkenntnis seiner unentrinnbaren eigenen Schuld erfährt der Mensch seinen Abstand von Gott noch tiefer als im Erlebnis seiner Leiden. Aber Gott ist auch in der Gnade unendlich. Die Erlösung beginnt damit, da der Mensdi sich der Gnade nidit mehr verschließt, und sie besteht darin, daß er an der Fülle Gottes Anteil gewinnt. Jede Haltung, die der Mensch sich selbst geben kann, begrenzt ihn; Gottes Gabe ist es, daß in ihm die unbegrenzte Liebe zur Herrschaft kommt . . .“

Diese Sätze geben in ihrer sachlichen Kürze ein konkretes und reines Bild wesentlicher Teile des christlichen Glaubensinhaltes. So knapp sie sind, so richtig sagen sie, was gar nicht leicht zu sagen ist. Vielleidit fühlt man beim Durchlesen dieser Sätze eine gewisse Kühle; vielleicht spürt man, daß sie nidit einem Bekenntnis, sondern einer Abhandlung entnommen sind. Aber ebenso deutlich spricht aus ihnen hohe Achtung, ja Ehrfurcht vor dem, was sie behandeln.

Und nun: keiner theologischen Abhandlung entstammen diese Sätze, kein religiöses Lehrbuch ist hier zitiert, sondern — eine naturwissenschaftliche Zeitschrift. Man könnte vielleicht denken: nun gut, eine nicht nur sachlich, sondern auch menschlidi vornehme naturwissenschaftliche Zeitschrift bringt ihren Lesern, Physikern und Ingenieuren, Chemikern und Biologen, eben dann und wann auch eine Arbeit aus anderen Gebieten oder wenigstens Beridite darüber; so wie ja auch gute Tageszeitungen bestrebt sind, den Leserkreis über den Stand der Wissenschaft zu unterriditen. Dieser Gedanke liegt nahe, ja die zitierten Sätze lassen zunädist keinen anderen Sdiluß zu. Es soll gleich gesagt werden, daß dem nicht so ist: es handelt sich hier um eine naturwissenschaftliche Arbeit, die den Titel trägt: „Die Unendlichkeit der Welt. Eine Studie über das Symbolische in der Naturwissenschaft.“ Diese von Professor Dr. C. F. Freiherr v. Weizsäcker verfaßte Arbeit ist im Jänner 1944 in der Zeitschrift „Die Chemie“ erschienen. (57. Jg., Nr. 1/2 und 3/4.)

Trotzdem wollen wir zunächst annehmen, daß die naheliegende Vermutung riditig sei. Angenommen also, die „Chemie“ will ihren Lesern ein sachliches Bild des Christentums geben. Warum will sie das? Wie kommt sie überhaupt auf diesen Gedanken? Unter den die Zeitschrift führenden Männern muß es dann welche geben, die dem Christentum eine Bedeutung auch für die Naturwissenschaft beimessen. Und da in der Schriftleitung sicher geschäftstüchtige Leute sitzen, muß angenommen werden können, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Leserschaft Interesse an Themen hat, die sich mit religiösen Fragen befassen.

Schon das kennzeichnet eine ganz andere, ganz neue Situation! Vor zwanzig, ja noch vor zehn Jahren wäre es überhaupt unmöglich gewesen, daß in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift über Religion ein Wort verloren wird. Natürlich hat es auch in den Jahren der größten Verbreitung des wissenschaftlichen Materialismus Wissenschaftler gegeben, die eine über der Welt herrschende Macht zuließen, einzelne davon haben gewiß einen persönlichen Gott angenommen. Ja, es hat auch immer Christen unter den Forschern aller “Wissenszweige gegeben. Aber eine solche Meinung war eben „Privatangelegenheit“; mit der Wissenschaft hatte sie nichts zu tun. Auch der eine Christ unter Hunder- * ten von Skeptikern und Materialisten konnte sich als “Wissenschaftler nicht mit etwas abgeben, das so weit von allem entfernt war, was die “Wissenschaft an Denken und Arbeiten verlangte. Die Religion stand nicht gültig über der Wissenschaft, sie war auth nicht Randgebiet für sie, sondern sie war durch Arbeitserhos und Fortschrittsglaube, durch das mediamstisdie “Weltbild und die technische Praxis aus dem Arbeitsund “Wissensbereich und auch aus dem Gesichtsfeld des ernsten Forschers hinausgedrängt. Mehr noch: weitgehend war man der Meinung, daß die Wissenschaft daran sei, die Religion ganz allgemein und end“ gültig zu liquidieren. Denn die klassisch Naturwissenschaft fühlte sich berufen, alie Fragen und Rätsel zu lösen, alle Geheimnisr*. zu erklären. Sie glaubte, daß der Mensch einmal alles wissen werde, wenn nur präzis und geduldig genug gearbeitet und geforscht wird.

Eigentlich „wirklich“ waren darum nur Dinge, die gemessen und gewogen werden konnten. “Wie konnte man dann etwas anerkennen, das dem Nicht-Materiellen die höhere “Wirklichkeit zuspricht; und obendrein das Glaubensbekenntnis der klassischen , Naturwissenschaft grundsätzlich und sdiarf ablehnt?!

Das Leben des Naturwissenschaftlers, der dennoch Gott und Religion oder das Christentum nicht ganz aus seinem Leben verbannen wollte, war darum zu einer fragwürdigen Doppelgeleisigkeit verurteilt: die Religion gehörte, wie Musik oder Verse, nur dem Gemüt an, dem die ernste Arbeit gegenübersteht.

Besser, als es viele “Worte sagen könnten, zeigt der einfache Vergleich dieser Meinung mit dem anfangs angeführten Zitat aus der „Chemie“ vom Jänner 1944 den ungeheuren Wandel. Die Naturwissensdiaft hat das Lächeln über die Religion verlernt, sie betrachtet es nicht mehr nur als Zeitverlust oder unter ihrer Würde, sich mit Fragen und Antworten, wie sie die Religion überhaupt und im besonderen das Christentum stellen und geben, zu befassen. Sie weiß, daß im diristlichen Glaubensgut — in Dogmen und Geboten wie in allen Teilen der Schrift — eine tiefe und für jede Zeit gültige “Weisheit verborgen ist. Sie weiß auch, daß die christliche Weltordnung des Mittelalters nur bedingt als das große Hindernis für die Entwicklung der Naturwissenschaft angesehen werden kann. Denn die ersten Gedanken über den Bau der Welt und über die Bahnen der Sterne, die die entscheidende “Wende vom Mittelalter zur Neuzeit kennzeichnen, sind ja aus der christlichen Mystik gewachsen. Die Vorläufer dieser neuen Zeit, wie Nikolaus von Cues oder Giordano Bruno, gehen nidit nur von bewußt religiösen Ansdiauungen aus, sondern sie wollen gar nichts anderes als Gott versinnbildlichen. Wie das andere durdi Dome oder Psalme taten, versuchten sie es durch mathematische Symbole, aus denen sich dann die eigentliche Mathematik und die Naturwissenschaften entwickelten.

Nun aber ist das Zitat nicht einem Randbericht über Religionsgeschichte oder christliche Lehren entnommen, sondern einer „Studie über das Symbolische in der Naturwissen ichaft“. Das Christentum, als Haltung wie als Weisheit, hat also nicht nur Bedeutung für die Naturwissensdiaft und die Menschen, die sie betreiben und weiterführen, sondern es muß auch in einem sachlichen Bezug zur Wissensdiaft stehen; in einem solchen Bezug, daß es nötig sein kann, sich in einer naturwissenschaftlichen Arbeit eingehend damit zu befassen.

Es ist von einer entscheidenden und heute wohl noch gar nicht ganz zu ermessenden Bedeutung und muß daher ganz klar erkannt werden: die Abkehr der Naturwissenschaft vom Materialismus und die Schwenkung in einem gewissen Sinn zur Religion hin ist nicht geschehen, weil sich namhafte Forscher oder ganze Generationen „bekehrt“ hätten, zu Glaube und Kirche zurückgekehrt wären, sondern sie entwickelte sich aus der Naturwissenschaft selbst. Die konsequente 'Weiterführung naturwissenschaftlicher Methoden — theoretisch und experimentell — hat zu Ergebnissen und Erkenntnissen geführt, die den Materialismus wie den Fortschrittsglauben wissenschaftlich einfach unmöglich gemacht haben.

Die Technik, die in ihrer neuzeitlichen Form von der klassischen Naturwissenschaft und dem mechanistischen Weltbild auf den Plan gerufen wurde, hat der Physik auf allen Gebieten Werkzeuge und Geräte geliefert, die der Forschung in jeder Beziehung ungeahnte Möglichkeiten eröffneten. So entstanden die ungeheuren Teleskope, die den Astronomen gestatteten, immer weitere, immer gewaltigere Räume zu überblicken, auch entfernteste Sonnen und Milchstraßen immer genauer zu untersuchen. Da tauchten Ergebnisse auf, die im Zusammenhang mit theoretischen Überlegungen (vor allem im Anschluß an die Relativitätstheorie) schließlich zum Zweifel an der Unendlichkeit dieser irdischen Welt führte. Der „Raum“ ist gewiß nicht unabhängig von den Sternen, die in ihm wandeln, wahrscheinlich ist er erst durch sie so geworden, wie er sich jetzt zeigt, und er wird nicht mehr sein, wenn sie untergehen. Darum kann die Unendlichkeit des Raumes sehr wohl als „Symbol“ bezeichnet werden — im ganz richtigen, im präzisen Sinn. Genauer und heute schon mit voller Sicherheit kann die Zeit als Eigenschaft der Welt bezeichnet werden. Die „absolute Zeit“ der klassischen Physik, die immer schon da war und ohne Veränderung und Ende weiter abrollen wird, gibt es nicht. Vielmehr ist die Zeit mit dieser Welt und diesem Raum entstanden und wird mit ihnen verschwinden. Was vorher war und nachher sein wird, ist jenseits einer menschlich faßbaren „Zeit“, es entzieht sich dem Urteil der Physik. Hiefür ist die Physik einfach nicht mehr zuständig, was sie auch freimütig zugibt.

Das führt zu einer besonders wichtigen Tatsache: die Physik und mit ihr die gesamte Naturwissenschaft hat die Grenzen ihrer Möglichkeiten, ihre Bedingtheit und Beschränktheit erkannt. Mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden, mit Messen, Wägen und Rechnen, sei es noch so fein oder gewaltig, so einfallsreich oder bewunderungswürdig durchdacht, werden wir nie „alles“ in Erfahrung bringen können. Nein, im Gegenteil: die Physik hat gezeigt, daß die Natur selbst es unmöglich macht, sich genau erkennen zu lassen. Die berühmte Unbestimmtheitsrelation gibt genau die Grenzen der Ungenauigkeit an, die notwendigerweise mit jeder Messung verbunden ist.

Auch die Materie selbst verhüllt sich nicht nur, sondern scheint sich zu verflüchtigen. Die neuesten Forschungen zeigen, daß die Grenzen zwischen Stoff und Licht, zwischen Atom und Welle nicht exakt faßbar sind; daß alles ein sonderbares Doppelwesen führt: einmal zeigt materielle Eigenschaften, was sich ein andermal wie Licht benimmt. Die submikroskopischen kleinen Kügelchen, aus denen der platte Materialismus sich die Materie höchst einfach aufgebaut dachte, sind schon lange ins Reich der Fabel verwiesen. Aber auch die atomaren Planetensysteme, die um den Atomkern kreisenden Elektronen, können die Rätsel des Aufbaues und Zerfalls der Elemente nicht erklären. Der Kern selbst wird ein immer komplizierteres Gebilde und es kann nicht entschieden werden, ob seine Bestandteile, ebenso wie die freien Elektronen, Wellen oder Teilchen sind.

Und — dies ist wohl das Merkwürdigste — diese Teilchen oder Wellen haben so etwas wie einen eigenen Willen. Es ist zwar höchst wahrscheinlich, daß sie den bekannten Gesetzen folgen, aber es ist nicht unbedingt sicher. Wenn sie „wollen“, so kann auch einmal etwas anderes geschehen als das nach dem Gesetz zu Erwartende.

So scheint alles zu zerfließen, nichts mehr sicher zu sein. Alles ist Rätsel, ja Geheimnis. Das Entscheidende und Erregende dabei ist der exakte Beweis, daß wir vor Geheimnissen stehen. Alles dies darf aber nicht den falschen Glauben erwecken, daß die Physik resigniert feststellen muß, sie hätte nichts mehr zu sagen, sie könne nichts mehr erkennen und müsse es daher aufgeben, nach der Wahrheit zu suchen. Nein — sie will und wird weiter suchen, aber nicht, um „alles zu wissen“, um zu sein „wie Gott“. Sie weiß, daß es Dinge gibt, die von ihren Methoden und Ergebnissen gar nicht berührt werden, sondern hoch darüber stehen. In diesem Sinn hat sie sich auf dem klaren Weg der Forschung eine echte Demut errungen.

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