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Die letzte Viertelstunde

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Angenommen, man fragte einen Durchschnittsmenschen, was er kurz vor seinem Tode, also in seiner letzten Viertelstunde, zu sagen hätte, er würde gewiß etwas verlegen sein. Sein betretenes Schweigen würde jenem Schweigen gleichen, das man gewöhnlich mit der Majestät des Todes in Verbindung bringt. Denn in jenem Grenzbereich, den wir im Sterben betreten, verdunkelt sich unser irdischer Sinn, und was immer wir an dieser Grenze zwischen hier und „drüben“ erfahren mögen, es bleibt unsere eigenste, unsere einsamste Erfahrung, die absolut unmittelbar, unüberlieferbar ist. Daher kommt die Frage, was man in seiner letzten Viertelstunde sagen würde, einem Spiel gleich, das etwas von jener vermessenen Neugierde und Ungeduld an sich hat, die uns einst, am Anfang unserer Geschichte, das Paradies hat verlieren lassen, wie Franz Kafka einmal gesagt hat.

In Frankreich freilich, wo man in den letzten Jahren eine eigene Literatur der extremen Situation hat entstehen sehen, nimmt man diese Frage auch nicht so ernst; man faßt sie ausdrücklich als ein Spiel auf, das man einem sensationslustigen Publikum gerne bereitet. Und mari ha*“ sich auch nicht geirrt, da an diesem Fragespiel Dichter und Wissenschaftler, Gelehrte und Schriftsteller aller Art gerne und willig mitgewirkt haben. Unter den 21 Befragten finden sich so respektable Namen wie Paul Claudel, Francois Mauriac, Louis de Broglie, Andre Maurois; ihre Antworten, gleichsam ihr spirituelles Testament, wurde von der Plattenfirma Pathe-Marconi aufgenommen und in der Wochenschrift „Am“ abgedruckt. Es ist dabei ein recht typisches Inventar aller möglichen Antworten zustande gekommen, die freilich nichts vom letzten Ernst und von der Majestät des Todes aussagen, dafür aber auf die geistige Situation unserer Zeit ein um so helleres Licht werfen.

Die möglichen geistigen Positionen lassen sich kurz so zusammenfassen: Da ist vor allem die agnostische Antwort, die sich keiner Sache sicher weiß und die eigentlich keine Antwort, sondern ein großes Fragezeichen ist. Ferner die 1 osition des ästhetischen Menschen — sie kommt etwa in der Antwort C o 1 e 11 e s zum Ausdruck, die sehr eigentlich ein Verlangen nach Amüsement ist. Dann ist da die Position des Wissenschaftlers, der entweder wie der Physiker Prinz de Broglie die Frage nach den letzten Gründen des Da-, seins, also die Frage nach der Transzendenz offen lrßt; oder der, wie der Biologe Jean Rostand es tut, auf eine individuelle Sinngebung in Anbetracht der Gesamtentwicklung stoisch-stolz verzichtet. Der gläubige Mensch, von Paul Claudel und Francois Mauriac repräsentiert, weiß freilich, daß sein Ja zum Leben und sein Ja zum Tod begründet ist. Und so enthält die Botschaft der beiden großen französischen Dichter nichts anderes, als was man auch schon im kleinen Katechismus lesen kann, die Hoffnung nämlich auf Auferstehung und Verwandlung alles Irdischen. Gane im Irdischen hingegen bleibt die existentialistische Antwort Alexander Arnaux', die in der Anweisung gipfelt: engagiere dich ohne Zurückhaltung in dieser Welt der Massen, wo es keinen Platz mehr für ein isoliertes Dasein gibt.

Wenn man also das Ignoramus des Kriminalschriftstellers Simenon als Rat- und Ant-wortlosigkeit auf die große Daseinsfrage dahingestellt sein läßt; wenn man die ästhetischen oder existentialistischen Auskünfte als eine charmante Abwandlung des großen Nichtwissens beiseite läßt, so bleiben die beiden großen Antworten: die des Wissens, d. h. der Wissenschaft, und die des Glaubens als die beiden großen Grundpositionen der Gegenwart übrig, die einer Betrachtung wert sind.

Da ist vor allem die Auskunft des Physikers Louis de Broglie. Er bringt das Kunststück fertig, in einer Viertelstunde das wissenschaftliche Weltbild der Gegenwart in seinen Grundzügen zu entwickeln. Mit der klassischen Klarheit eines Descartes zieht er aus der wissenschaftlichen Summe unserer Zeit jene Fragen heraus, die zugleich die großen Fragen der Philosophie sind. Da ist die Frage nach dem Ursprung des Lebens, den Broglie in einem elan mysterieux sieht, dessen Wesen uns trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte bisher unbekannt geblieben ist. Wohl wissen wir, daß sich die lebendigen Formen auseinander entwickelt haben, daß aus einfachen und einfachsten Gestalten immer höhere und komplexere Gestaltungen entstanden sind; aber w i e diese „Entwicklung“ vor sich gegangen ist, ob kontinuierlich oder diskon-

tinuierlich, ob in gradweisen Uebergängen oder in Sprüngen, das wissen wir nicht. Das zweite große Wunder dieser Entwicklung, die de Broglie mit Jean Rostand das „Abenteuer des Protoplasma“ nennt, ist die Aufgipfelung des Lebens im menschlichen Bewußtsein. Mit diesem Bewußtsein ist ein Moment in die Welt gekommen, das der strikten und mechanischen Determination widerspricht. Zeigen schon manche Lebensreaktionen einen gewissen Anflug von Autonomie und Spontaneität, das menschliche Bewußtsein kann auch gegen die Determinationen, gegen die Daseinszwänge an. Vor allem aber kann es über das Universum hinaus denken und jene Entwicklung schaffen, die mehr als Entwicklung, nämlich Geschichte ist.

Freilich ist für den Naturwissenschaftler die menschliche Geschichtsmäßigkeit primär eine Sache der physischen Verwandlung der Welt mit Hilfe von Wissenschaft und Technik. Aus der bloßen Evolution wird so eine Progression, deren Ende wir noch nicht absehen können. Wer weiß, so fragt de Broglie, ob nicht eines Tages durch einen menschlichen Eingriff der geschichtliche Mensch zu jenem Uebermenschen mutieren wird, von dem Friedrich Nietzsche fabuliert hat. Und doch, selbst wenn es dem Menschen gelingen sollte, sich zu einem Uebermenschen hinaufzuzüchten, selbst wenn ihm der Uebertritt in andere, außerhalb der Erde gelegene Bereiche unseres Sonnensystems gelingen sollte: das System unserer Sonne ist ja nur ein winziges System, ein Staubkörnchen innerhalb von Myriarden von Systemen. In Anbetracht der die menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Größe von Zeit und Raum fällt der Mensch in Trauer und Verzweiflung; so daß trotz aller scientifischen Hoffnungen das Wissen um die Endlichkeit bleibt, das Wissen darum, daß der Mensch sich an das Maß halten muß, das ihm Zeit und Raum vorschreiben.

Es ergibt sich also die Frage nach dem Wert der endlichen Existenz mit einem unendlichkeitsdurstigen Bewußtsein. Auf diese Frage gibt es nur zwei Antworten: die der Religion und die eines agnostischen Existentialismus. Denn wie immer wir den Mechanismus der Evolution erklären werden, wie hoch wir auch immer die Chancen der menschlichen Progression veranschlagen, Wissenschaft und Technik müssen vor der Wertfrage kapitulieren. Vor dieser Frage gibt es nur die Kapitulation oder eine Hoffnung, die wir aber nicht der Wissenschaft, auch nicht der Philosophie entnehmen können.

Jean R o s t a n d, der vielseitige Biologe, bekennt sich zwar zur Unendlichkeit der endlichen Fragen, negiert aber die letzte Frage. Er weiß, daß die Unersättlichkeit des Geistes unser Los ist, und zugleich glaubt er zu wissen, daß dieser unersättliche Geist des Menschen endlich, sterblich ist. Er sieht keine Möglichkeit, dieses ewig fremde Ich, das seinen Ursprung aus zwei winzigen Protoplasmastückchen seiner Eltern genommen hat, unsterblich zu sprechen. Daher hält er auch die letzte Viertelstunde, nach der ihn seine neugierigen Zeitgenossen gefragt haben, für eben dieses Ich als die unwiederbringliche, als die absolut letzte Viertelstunde, da er eine Konservierung des Geistes, ein „Museum der Seele“ wie Rostand die Unsterblichkeit zu benennen beliebt, der Genialität des Ich konträr empfindet. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der letzten Viertelstunde faßt Jean Rostand in dem stoischen Bekenntnis zusammen: „Sterben wird unser letzter großzügiger Akt sein.“

Der Position des „verstandenen Todes“ steht nun das christliche Wissen vom Skandal des Todes gegenüber. Ist daher der christliche Mensch, der sich mit dem Tod nicht abfinden kann, ein kleinlicher, ein ungeneröser Mensch? Seit Nietzsche beantwortet man diese Frage zu leicht und zu leichtsinnig mit ja. Man übersieht dabei, daß die christliche Skandalisierung des Todes nichts mit Angst und Furcht zu tun hat, sondern daß sie vielmehr aus einer Kraft kommt, die nicht geringer ist als die Kräfte der Evolution und des Fortschritts: die Kraft der Liebe.

Daher kann auch Francois Mauriac sein spirituelles Testament mit dem Bekenntnis schließen, „daß das Geheimnis der Schöpfung ein Geheimnis der Liebe ist, und daß die Liebe das letzte Wort sein wird“. Freilich ist die Liebe eine Gnade, so wie das Dasein der Schöpfung aus dem Gnadenakt Gottes kommt, aber diese Gnade muß sich der Mensch im Akt des Glaubens erwerben. Daher ist das Grundgeheimnis des menschlichen Lebens nur aus dem Kampf gegen die Versuchungen, das scheinbar Absurde, zu erklären. Der Existen-

tialist, z. Br Albert Camus, sieht in der Absurdität des Daseins einen zureichenden Grund; der Christ, z. B. Francois Mauriac, wird gerade durch die Ungereimtheit des Daseins zum Glaubensakt angespornt.

Wer wie Paul Claudel über achtzig ist, wer wie er drei Kriege erlebt hat, wer gesehen hat, wie Monstren zu Ansehen und politischer Macht gekommen sind, wer all den Verrat der Geister uhd Herzen miterlebt hat, der muß wirklich über eine Glaubensmacht verfügen, wenn er am Schluß seiner letzten Viertelstunde sprechen kann: Hab keine Furcht: Gott ist da.

In seinem geistigen Testament spricht Claudel nicht als der große Dichter des Glaubens zu uns; es sind vielmehr die schlichten Worte des Diplomaten Claudel, der angesichts so vieler Auf- und Niedergänge, der trotz des Verrats, den Europa an der zivilisierten Welt in zwei schrecklichen Kriegen am Menschen begangen hat, seinen Glauben an den Sinn der Geschichte nicht verloren hat: Die Hoffnung, so sagt Claudel, bleibt; es gibt das Recht, das bleibt. Es bleibt vor uns eine un-

ermeßliche, ganz neue Zukunft, die unserer Mithilfe bedarf.

Damit verliert auch das als Spiel begonnene Unternehmen der Firma Pathe-Marconi seinen willkürlichen Charakter. Die Stimmen, die uns aus dem Plattenspieler entgegentönen, die greise Stimme Claudels, die leise, kaum hörbare Stimme Mauriacs, die Stimme der Eitelkeit oder der lächelnden Bescheidung, alle diese Stimmen sind mehr als ein document humain, sind mehr als der eitle Versuch eines Jahrhunderts, sich der Nachwelt mit dem Persönlichsten, das ein Mensch hat, nämlich mit seiner Stimme zu überliefern. Die Stimmen verwandeln sich mit einem Male zur Stimme des menschlichen Daseins selbst, das jedem Zuhörer zuruft: Entscheide dich, ergreife Partei, wähle! Was immer du auch denken magst, welches Fach du auch immer betreibst, bevor du es treibst und indem du es betreibst, hast du dich auch schon entschieden. Und deine Entscheidung überlebt dich, wirkt weiter, ist das, was die Geschichte, im Guten wie im Bösen, ihrem Ziel entgegenträgt.

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