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Die Grenze des Ewigen

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Man hat das Hochtal des Wallis im Herzen der Alpen einmal einem steinernen Sarg verglichen, aber keiner von den bedeutenden oder weltkundig namhaften Toten, die dieser „steinerne Sarg“ birgt, ist ein Walliser. Keiner — jedenfalls in neuerer Zeit — stammte aus dem alemannischen Walliser Volkstum, das seit den Kelten von altersher hier siedelt. Alle sind sie Fremde — gewesen, darf man sagen, und sind ihm eigen geworden. Denn alle Töten leben ja mit den Lebendigen mit. Und die beiden Grabhügel in meiner Walliser, Nachbarschaft, auf die ich an diesem Tage einen Blick werfen will, bezeichnen,-wie es landläufig heißt, nur die Stätte, an der das ruht, was unter ihnen sterblich an den Toten war, während ihr geistiges Leben sich weltweit ausgebreitet hat und in seinen Wirkungen weder die Wasserscheide der Pässe noch die Grenzen der politischen Geographie kennt.

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Man hat das Hochtal des Wallis im Herzen der Alpen einmal einem steinernen Sarg verglichen, aber keiner von den bedeutenden oder weltkundig namhaften Toten, die dieser „steinerne Sarg“ birgt, ist ein Walliser. Keiner — jedenfalls in neuerer Zeit — stammte aus dem alemannischen Walliser Volkstum, das seit den Kelten von altersher hier siedelt. Alle sind sie Fremde — gewesen, darf man sagen, und sind ihm eigen geworden. Denn alle Töten leben ja mit den Lebendigen mit. Und die beiden Grabhügel in meiner Walliser, Nachbarschaft, auf die ich an diesem Tage einen Blick werfen will, bezeichnen,-wie es landläufig heißt, nur die Stätte, an der das ruht, was unter ihnen sterblich an den Toten war, während ihr geistiges Leben sich weltweit ausgebreitet hat und in seinen Wirkungen weder die Wasserscheide der Pässe noch die Grenzen der politischen Geographie kennt.

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Ungleich der Grabstätte vieler sterblicher Menschen nun, deren Geist über die irdische Lebenszeit hinaus Leben und Wirkung beschieden gewesen ist, die aber in Kreuz oder Denkmal nicht mehr vermelden als: wer unter ihnen ruht und von wann bis wann er gelebt hat, haben Rainer Maria Rilke wie Rudolf Kassner ihrem letzten Ruheort gleichsam Angaben aus der geistigen Topographie ihres Lebens, man kann sagen: Losungen, verliehen, die über das irdische Leben in ihren irdischen Tod reichen und aus diesem irdischen Tod wieder in ein neues, höheres, ewiges Leben weisen.

Viel ist schon orakelt worden über Rilkes orphischen Grabspruch auf dem Friedhof von Raron; noch niemand aber hat den Grabspruch gewürdigt, den Rudolf Kassner sich erfand und der in dem Bild, das er sich entwirft, eine einzigartige ver-innerlichte Deutung der christlichen Existenz des Menschen in dieser neuen Welt und Zeit gibt. Auf der großen Steinplatte über Rudolf Kassners Grab auf dem Friedhof von Siders stehen die Sätze:

Vielleicht war es früher so, daß ein Mensch einfach bis zur Grenze ging, und dort starb er dann, und das ewige Leben begann. —i Seit Jesu Christo aber geht die Grenze mit, und so weiß niemand im Grunde, wann und wo das ewige Leben beginnt.

Was für etwas Seltsames ist dieses letzte Wort, das ein Mensch sich selber über den Stimmverlust der eigenen irdischen Person nachruft und das er stellvertretend für sich selber und seines Lebens Sinn und Erfahrung ins Gedächtnis der Nachwelt einkehren wissen will! Will er etwas berichtigen? Oder will er etwas bestätigen und befestigen? Oder will er ganz einfach im Buchstaben und Wort festhalten, was er in der Zone des irdischen Erkennens als Letztes gesehen hat, bevor ihm die Augen übergingen? Weder bei Rilke noch bei Kassner ist es ein aus der Heiligen Schrift entliehenes Wort, in der schon so mancher die Summa der eigenen Erkenntnisfähigkeit ein für allemal offenbart gefunden hat. Es ist ein selbst und aus dem tiefsten, eigentlichen Ich, das bald vor seinen Schöpfer hinzutreten hat, artikuliertes Wort. Das eigenste Ich ist es, das ein Bild zum Gleichnis seiner selbst entwirft. Ich meine: hier vollzieht der Philosoph Kassner die Menschwerdung Gottes in sich selbst mit und schafft seinem Denken ein neues Kriterium. Man staunt über den Mut zum Worte, wo das Unsagbare der Todeserfahrung schon angefangen hat, und über die Gewißheit dessen, der es gesetzt hat: daß eben das, was über dem Grab steht, einmal vorweggenommene Bilanz des Lebendigen gewesen sei. Aber noch erstaunlicher will der Mut zum Widerspruch dünken. Denn wenn es „früher so war, daß ein Mensch einfach bis zur Grenze ging und starb und daß dann das ewige Leben begann“, ist damit gesagt, daß das Ewige — im Gegensatz zur überlieferten Meinung — eine Grenze habe, wo es grenzenlos sein sollte, wenigstens nach dem Bereich des Irdisch-Menschlichen hin. Und die wandernde Grenze, die ins Innenmenschliche möglich gewordene Verrücktheit dessen, was bis dahin immer als menschlichem Bereich und Zutun entrückt definiert worden ist, wird wiederum einem Menschen: dem Gottmenschen Jesus Christus zugedacht.

Theologie, welcher Konfession auch immer, kann und wird darin nur den Liebesbeweis Gottes an seine Menschheit erkennen können. Das Göttliche ist, mit Recht, immer als das Außer- und Übermenschliche betrachtet worden. Rudolf Kassner aber gibt ihm eine christliche Deutung als etwas Innenmenschliches, als mit einer jeden menschlichen Existenz sich Wandelndes, Bewegliches und Fortzeugendes! Denn seitdem Christus Leben in Menschengestalt und Geschichte geworden ist, hat das „ewige Leben“, hat „die Ewigkeit“ zum Bereich des Menschlichen hin Gestalt und Grenze bekommen und wandert seitdem im Grunde in jeder menschlichen Existenz mit. Und niemand weiß, sagt Kassner voraus, wann und wo das ewige Leben (in Christus) beginnt, für das es vor der Geschichtlichkeit Gottes in Jesus Christus nur den dogmatisch definierten Augenblick der Auferstehung gegeben hat, der aber schon nicht mehr Augenblick und Zeit, sondern schon Umbruch der Zeit in die Ewigkeit sein kann: ein (oder einen) Moment der Lehre, aber nicht des Lebens. Ein geheimnisvolles Gott mit uns, wie es früher einmal, als Kassner noch jung war, so fälschlich anders auf Koppelschlössern gestanden hat. Ein Gott mit uns, weil Christus, ausgegangen vom göttlichen Vater, mit seinem Eintreten in diese Welt zugleich Mensch in uns geworden ist, Zeit, Schicksal, Geschichte — geborgen in Ewigkeit. Und dieses unser Leben, begonnen im Mutterleib, beginnt schon von

Anfang an sein Ende in der Ewigkeit und ist, eben unter zeitlichen Wehen geboren, von allen Anfang an ins ewige Leben gebunden und gerettet. Es gibt keinen Augenblick mehr, da es sich müde niederkauert und stirbt und einschläft in der ungewissen Hoffnung, ohne Leid und Last zu erwachen, sondern das Ewige lebt von Anfang an ohne erkennbare -Grenze in ihm fort, weil durch Christus jene große, heilsame Unruhe in die Welt gekommen ist, die in jedem personal gewordenen Glauben das Ewige schon ins Zeitliche zu ziehen vermag. Und die stille Teilhabe am Reich Gottes, die nach den alten Kategorien zweidimensionalen Denkens unverrückbar die Ablösung der Seele von ihrem Leib zur Voraussetzung hatte, ist seit der Menschwerdung Gottes in Christus nicht mehr unbedingt ein Jenseits, sondern kann in und mit Christus schon im Diesseits Ewigkeit sein!

Welch ein Mut und welche Gewißheit, diesen Blick über die zeitbedingte und zeitbeschwerte — und bei Rudolf Kassner dazu noch über seine so äußerst hinfällige, von unheilbarem Leiden bedrängte — Gestalt des menschgewordenen Seins zu werfen und dieser Gewißheit und diesem Mut über das ewige Schweigen hinaus, das über den Gräbern der Toten liegt, Wort zu verleihen! Sein Grabspruch erscheint bei diesem seinen Mitteilungsdrang im Sagen am reinsten ausschöpfenden Geist als eins seiner bedeutendsten Werke. Die wenigsten seiner Zeit haben ihn zu erfassen vermocht, und sein christliches Menschenbild ersteht nach den mythisch-dialektischen Verformungen weitab von jener fatalen Verflachung und Verkürzung, der wir im Christentum noch allzu häufig begegnen.

Denn Rudolf Kassner hat wie kein anderer erkannt, daß „der Eiserne Vorhang mitten zwischen das bewußte Doppelleben eines Gottfried Benn falle und die Bildkraft (des Menschen) zerstöre, er hat den modernen Menschen als den „Wüstling des Möglichen“ definiert und ihn auf die Schicksalsbegegnung mit dem Ebenbild Gottes in sich selbst verwiesen, damit er wieder angerührt werden könne „von der Überwelt hinter dem östlichen Doppelgesicht wie hinter dem des Westens und in der Betroffenheit wieder zurückfinde zur eigenen Vision.“ Zugleich aber richtet Kassner in Stellvertretung und Zusammenfassung so vieler Ideen, die er gedacht hatte, als er noch in seinem hinfälligen Leibe lebte, über die Grenze seiner irdischen Erscheinung unter uns, die wir ihn einmal gesehen und gekannt haben, unseren Blick auf eine dritte Dimension: nach der Beziehung des Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit und zwischen Mensch und Gott, auf die Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch.

Alle bedeutenden Geister sind in einem unverwechselbaren Sinne Stifter; sind ' Stifter eines neuen Bundes. Und das bewahrheitet sich auch an Rudolf Kässner in seinen letzten Worten über das eigene Grab hinaus. Denn diese Worte sind ein neuer Schlüssel zum Verständnis zwischen Menschen bei aller Ver-ständnislosigkeit einander gegenüber, derer wir uns anzuklagen haben, da die meisten unserer alten Bande und Klammern in der soziologischen Struktur dieses Zeitalters zerstört erscheinen. Denn was Kassner, der Einsame und zugleich im Sinne einer alten Gesellschaftsstruktur so unendlich Gesellige, sich über das eigene Verstummen nachruft, bedeutet ja nicht mehr und nicht weniger als: In jedem Leben neben uns, auf das wir nicht achten, das uns anonym, fremd, ja feindlich sein kann, hat möglicherweise das ewige Leben schon zu einem Teil begonnen, und wir selber, bei aller unserer Befangenheit, könnten dessen nicht gewahr geworden sein!

In seiner Konsequenz bedeutet dieser Grabspruch nicht mehr und nicht weniger als ein neues Ferment aus christlichem Geist im soziologischen Strukturzerfall unserer Gegenwart. Und wieviel Behutsamkeit, um nicht zu sagen Liebe, Nächstenliebe, fordert der Grabspruch des einsamen Denkers im Rhönetal von uns, die wir ihn überlebt haben! Wie tief inne des göttlichen Geheimnisses unsres Lebens — wenn wir Christen sind — weitet er Leben und Wesen eines jeden von uns, die wir „mitten im Leben vom Tod umfangen“ sind, in ein höheres Leben und eine Welt ohne Grenzen, in der Christus und das ewige Leben mit uns mitwandern!

Größeres kann kein Toter vollbringen, als daß er den Zeitlichen um des Ewigen willen zur Liebe in ihrer Lebenszeit rät. Und so ist Rudolf Kassners Leben, in seinem Grabspruch gefaßt, auch im Tode längst nicht zu Ende unter den Lebendigen. Jeder, der seinen Grabspruch erfahren hat, steht fortan an der Grenze des Ewigen gegenüber seinem Mitmenschen unter dem Gericht seines Lebens und seiner Liebe.

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