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Gott in der Geschichte

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Die Ereignisfülle der Zeit, das Übermaß des Erlebnisses in der Spanne eines einzigen Menschenalters, läßt den modernen Menschen, sofern er überhaupt dem schier so blinden Geschehen denkend standhahen will, mehr als früher nach dem Sinn der Geschichte fragen. Vor allem ist es das Übel, das physische, stärker noch das moralische, dessen dunkle Motorik im Weltenlauf die Geister bedrückt. „Ist die Kultur nur eine Tünche, ein dünner Überwurf, hinter dem die Bestie schlummert?“ (Mager.) Und: Was sollen die sich mehrenden Katastrophen? Folgt der rapiden materiellen Ausdehnung des 19. Jahrhunderts ein zivilisa orisiher Abstieg im 20. Jahrhundert? Oder wiederholt sich die Mär vom Zauberlehrling in weltweitem Ausmaß? Hat man die ethischen Sicherungen vergessen? Oder ist dieser ganze Auflösungsprozeß auf Erden eine Folge der Lbslösungsbewegung vom Himmel? Stehen wir in der Stunde des Gerichts?

Die Antworten sind verschieden. Drei Gruppen heben sich heraus. Die feinen verharren, in der Immanenz und sehen in der Entwicklung der letzten 30 Jahre eine natürliche Entelechie mit dem Endziel einer politischen Weltunion. — Die anderen greifen nach der Transzendenz als dem Richtscheit jenseits des verworrenen Welt- kpäuels und reduzieren alle geschichtsphilosophischen und -theologischen Versuche auf die Frage: Glaube oder Verzweiflung. — Die dritten versuchen eine differenzierte Antwort, geschöpft aus der Schichtenstruktur der Wirklichkeit, in der sich göttliches und geschöpfliches, gefallenes und begnadetes, verklärtes und verdammtes Sein begeg-

Die immer noch nicht genügend „gebrannten Kinder des Fortschritts“ (Pflieg- ler) bauen auch die Katastrophen positiv in ihre Weitsicht ein. Eugen Diesel meinte einmal, daß große Konflikte den Geschichtsprozeß verkürzen. Guglielmo Ferrero sieht in den Zusammenbrüchen einen der wirksamsten Wege zur geschichtlichen Einheit der Welt. Schon der erste Weltkrieg habe erst- mals die ganze bewohnte Erde in eine bewußt und gesammelt handelnde Gemeinsamkeit gebracht. Endlich lasse die Technik die Kontinente und Ozeane immer näherrücken. Die Welt werde von Monat zu Monat kleiner.

Aber, so dürfen wir gegen diese recht plausible, jedoch ziemlich summarische Betrachtungsweise vielleicht einwenden oder auch behutsam ergänzen: die im besagten Konzentrationsprozeß befindlichen Völker und Kulturen fallen immer wieder in die Besonderung, ja in die Zerstreuung zurück. Beispielsweise feiert der extreme Nationalismus, befeuert von der Vernichtungstechnik und der totalen Organisationskunst, weithin seine Auferstehung, während das wiederentdeckte organische Prinzip, der romantische Entwicklungszweig des nationalen Gedankens, in der einst so ehrwürdigen Mitte der Alten Welt einer luziferischen Perver- sion erlegen ist. Das Gericht ist auf dem

Fuß gefolgt: eines der größten und geschichtsmächtigsten Völker und eine der reichsten Kulturlandschaften sind in Nacht und Unheil gesunken. Corruptio optimi pessima. — Diese Art von Geschichtsunterricht ist ihdes noch nicht zu Ende. Der zweite der neuzeitlich-punischen Vernichtungskriege wurde mit halbem Ergebnis abgebrochen. Der berühmte britische Premier meinte sogar in einem drastischen Vergleich, daß man sich im Gegner vergriffen habe. An Stelle des verbürgerlichten Kollektivs mit seiner Mischtechnik ist das Urbild des Leviathans in seiner gnadenlosen Unver- hülltheit getreten. Das „Recht der jungen Völker" wird vom „Vormarsch der fortschrittlichen Völker" abgelöst.

Wie geht dieses Drama im Licht der immanenten Betrachtung weiter? Wird am Ende der numerisch und intensiv beispiellosen Konvulsionen wirklich ein Imperium mundi stehen, und zwar nicht als Suprematie der stärksten obsiegenden Macht, sondern als eine neue Recht9gemeinschaft der Völker, wodurch die alte, seit Jahrzehnten nun schon verlorengegangene Schöpfung des vorigen Jahrhunderts, der Rechtsstaat, mittels einer Weltunion überhöht und gesichert wird? Oder müssen wir einen ähnlich mühsamen Weg beschreiten, wie er von der Niederringung Karthagos zur Errichtung der Pax Romana führt? Werden auf die nationalen Kriege imperiale und sogjale Kämpfe von Weltausmaß folgen? Wie weit und wie lange werden sich die farbigen Rassen, deren Mittelalter, ja Altertum jetzt jäh zu Ende gegangen ist, der vorderhand immer noch turmhoch überlegenen westlichen Technik und Organisation sowie der demokratischen Räson der weißen Zivilisation beugen?

II.

Am Ende einer immanenten Geschichtsbetrachtung in einem Katastrophenzeitalter steht ein Geschlecht ohne Hoffnung. Ein „Sinn der Geschichte" läßt sich da kaum ermitteln. Viele selten das freilich nicht. Aber auch ein nur geringes aufrichtiges Nachdenken führt gar bald hinter den Schleier der Dinge an die Sinnfrage heran. E a pocht es dann bald mächtig ans innere Ohr. Auch der allen Katastrophen zum Trotz wiedererstandene weltansdiauliche Freisinn vermag das auf die Dauer nicht zu übertönen. Die seelische Tiefenverfassung unserer Tage, vielleicht noch überwiegend unbewußt, ist eine existentielle. Darum kommen wir, mögen wir nun unseren Bedarf an Welt geschichte für hinreichend eingedeckt erachten oder nicht, an der Sinnfrage des Weldaufs nicht vorbei; auch nicht am unausweichlichen Endpaar dieser uns aufgenötigten Entscheidung: Glaube oder Ver zweiflung. Die Zwischenpaare sind überholt. Wir haben nichts mehr „am farbigen Abglanz de Lebens“. Wenn auch das Gesetz der „historischen Interferenz“, wie es Wilhelm Röpke nennt, zäh und breit verharrt, wonach die Masse, zumal ihre Bildujigsorgani- sation, immer noch von der aufklärerischen Ideenfracht und den nun schon angeschimmelten relativistischen Lagervorräten von gestern lebt, während längst schon die Keime aufgegangen sind, welche prophetische Geister in den letzten Generationen gelegt haben.

Diese Geister haben den lebendigen Gott wiederentdeckt. Keinen Mythos, kein philosophisches System, nicht Gottnatur, absolute Vernunft, werdende Unendlichkeit oder gar Staatsallgöttlichkeit, und wie all die Geistsünden einer titanisch aufgetürmten Metaphysik gegen das zweite Gebot des Dekalogs hießen. Nein: Gott, der ganz andere, der in unzulänglichem Licht Wohnende, der Richtende, der Uranfängliche und Endzeit- liche, stieg vor dem geistigen Auge einer in Technik und Fortschritt verstrickten, in Politik und Wirtschaft verwirrten, in Schöngeisterei und Naturseligkeit vergafften Welt wieder auf. Diese Männer empfinden wieder das alte Mysterium tremen- dum, das Moses die Schuhe von seinen Füßen lösen ließ, und verkündeten mitten im Rausch der neuen Gründerzeit nach dem ersten Weltkrieg die souverän losende Wahl des ewigen Richters und Begnadigen. Barth, Thurneysen, Gogarten, de Quervain, Brunner, Asmussen und andere, vorwiegend deutsche und schweizerische Theologen, meist aus dem reformierten und kalvini- schen Bekenntnis hervorgegangen öder aber dem liberalen Protestantismus entronnen, fanden zurück zum vollen Ernst der refor- matorischen Gläubigkeit und schufen in der „Theologie der Krisis“ jenen Kraftquell, der sich dann in der „Bekenntniskirche’’ so tapfer bewährte. Eine wuchtige, oft düsterernste Theozentrik erhob sich und sprach mitten in die Atempause hinein, als die unmittelbaren Schrecknisse des ersten Weltkriegs abklangen und die neue gewaltige Erregung noch nicht anhub, das Wort vom Verlorensein des Menschen und von der Er- barmung des unbegreiflichen Gottes im Glauben an seinen Sohn. Während nun die einen den scharfen Dualismus Kalvins und auch Luthers erneuerten, wodurch Staat, Nation, Kultur, Recht und Sittlichkeit fast völlig getrennt werden von Kirche, Glauben, Evangelium, Gnade und Sakrament, und somit für die sittliche Durchblutung und religiöse Läuterung des politischen Seins keine Frucht gewannen, ja sich davon abwendeten (Karl Barth) — mildem die anderen die Spannung von Natur und Gnade, von Staat und Reich Gottes zu einem Synergismus, der den erlösenden auch als den allschaffenden Gott sieht, der die gefallene Welt erhält zum Gericht und zur Auferstehung und der durch seine „Ordnungen“ — Denkgesetz, Naturgesetz, Sittengesetz — und durch seine Geschichcs- lenkung — Beruf, Dienst, Gehorsam — die Welt trägt, in der gleichzeitig seine Erbar- mungsordnung wirkt: Gericht, Tod, Gnade — auf daß beide Werke Gottes, das des Vaters und des Sohnes, dereinst vereint werden in der Vollendung, dem Werk des Heiligen Geistes (Emil Brunner).

III.

Subtile Theologie? Nun, aus dieser gläubigen Erneuerung erwuchs eine tiefgründige evangelische Ethik für Kultur und Politik. Die Nachbarschchaft jener synergistischen Systematik zum katholischen Lehrgebäude ist zudem unverkennbar. Sozialethisch gesehen, gehen beide von der Gottesursprünglichkeit des menschlichen Seins aus und zielen auf die normative Gottesordnung in Ehe, Familie, Erziehung, Eigentum, Wirtschaft, Recht, Gemeinwohl. Für beide ist die soziale

Frage nicht minder als das Völkerrecht eine religiöse Aufgabe ersten Ranges. Ja, mit forderndem Ernst erscheint beiden die soziale Bewährung des neuerweckten Evangeliums als Prüfstein für die Echtheit der Wiederbegegnung von überweltlichem Gott und irdischer Gemeinschaft.

Vor allem weiß dieses zugleich fordernde wie ausgleidjende christliche Denken tun die rechte Mitte zwischen Optimismus und Pessimismus. Danach bewegt sich die Geschichte nicht in stetem Fortschritt (Comte), noch in dialektischem Dreitakt (Hegel); die geistigen Kulturen sind keine bloßen Pflanzen, die einander folgend verwelken (Spengler), die Welt geht nicht im zunehmenden Leid unter (v. Hartmann). Es ist aber auch nicht so, daß die Geschichte, wie der gläubige Pessimismus wähnt, unaufhaltsam einem apokalyptischen Ende entgegeneilt (Bemanos) oder daß das Reich Gottes, wie andererseits der gläubige Optimismus sagt, unwiderstehlich obsiegen werde in diesem Äon. Eine der prophetischen Stimmen unserer Tage, zum Schluß im KZ verstummt, meinte sogar, daß der Sieg des homo faber über den homo sapiens unserem Wandelstern die Bestimmung nehme; sie postuliert daher die kosmische Tilgung des verworfenen Erdballs; denn für Maschinen oder best- angepaßte Intelligenztiere kabe Gott diesen Planeten nicht gebildet (Reck-Malleczewen in „Das Ende der Termiten“). — Nein: Gott bejaht die Weltgeschichte als das aib- gebildete Reich seiner eigenen Freiheit. Er ist der große Partner in allem. Selbst die unheimliche und seit dem ersten Abfall unablässig fortwirkende Möglichkeit der gegengöttlichen Entscheidung ist in ihm aufgehoben durch die gottmenschliche Versöhnungstat. Jedoch ist auch hier nichts ein- lienig: der liebende Gott ehrt nicht minder als der richtende die menschliche Freiheit. E er Weizen und das Unkraut wachsen mitsammen .auf, sie haben in dieser Weltzeit die gleiche — Chance. Wie Maritain sagt: In der Geschichte sind immer Gottes Schöpfung und Lenkung und des Menschen Irren und Wirren verwoben mit der Macht und Finsternis der Dämonen. — Nur das Christentum macht die Weltgeschichte begreiflich, es ist das „Spektrum des Weltverständnisses“ (Wenzl): der Sinn der Geschichte ist die Verkündigung der Heilsbotschaft, die Auswirkung ihrer Kraft, das Reifen des Weizens. Aber während dieser Sinn sich erfüllt, indem zugleich alle weltlichen, irdischen, menschlichen und mensch- heitlichen Möglichkeiten sich entfalten, schießt auch das Unkraut in die Höhe und steigert sich die Dtfmonie im Reich des Fürsten dieser Welt.

So wird es auch verständlich, daß in Entscheidungszeiten die Konturen des Weltlaufs einander näherrücken und dramatisch Zuspitzen. Darin sieht die oben unter I gezeichnete immanente Haltung richtig. Donoso Cortes hat es vor hundert Jahren schon voraiusgesagt: Am Ende des freisinnigen Zeitalters und des nachfolgenden Aufstands der Massen treten sich zwei Endmächte gegenüber: Christentum und Kollektivismus, Freiheit und Staatsallheit. Vielleicht bewahrheitet sich auch eine zweite Prognose, nämlich die ahnungsvolle Erwartung einer Periode des Friedens nach Abklingen der großen Entscheidungskämpfe um die Mitte unseres Jahrhunderts. Seit Leo XIII. kündet sich eine, tiefe Sehnsucht nach Frieden in den Kundgebungen der Päpste an. Die Väter der Christenheit richten, zumal in feierlichen Augenblicken, beispielsweise bei den Weltweihen, ihr. Auge auf eine allgemein kommende Weltzeit des Friedens. — Endlich, und das ist wohl das stärkste Signal einer weltanschaulichen Wende: die „neue Genieperiode der Naturwissenschaft", in der wir stehen, entwickelt sich zu einem fortschreitenden theistischen Bekenntnis. Die geistige Elite der Welt kehrt zurück zum Gott der Väter. Die Physik führt wieder zur Metaphysik. Und nach alter sozial-sittlicher Regel folgt die Gesellschaft der Wissenschaft binnen einem oder zwei Menschenaltern nach. Dann dürfte sich auch endlich die verhängnisvolle Versippung lösen, die zwischen dem sozialen Aufstiegskampf des Vierten Standes und dem materialistischen Weltbild des Freisinn vor drei Generationen eingegangen wurde und die heute unseren alten Erdteil zu überwältigen droht. Ja: weder Unglaube noch Atombombe sind das letzte Wort der Weltgeschichte. Wissen und Glauben, in den führenden Geistern längst versöhnt, werden sich wieder verschwistern und eine neue, geistgeprägte Epoche der Menschheit bescheren.

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