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Nikolaj Berdjajev

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„Das letzte Wort des Christentums ist nicht Golgatha, sondern die Auferstehung.” So rief derjenige aus, der nun in Clamart, einem Vorort von Paris, von uns ging, mit einem Bleistift in der Hand bei seinem Arbeitstisch sitzend, während er gerade über das nachdachte, was sein letztes Buch hätte werden sollen: über den Versuch einer neuen Mystik.

Er ist in der Karwoche gestorben. Er, , der in der „Objektivierung” das Zeichen des Sündenfalles und des Bösen sah, der so tief existentiell, so klar erleuchtet über den Un-Sinn der Vergänglichkeit der Zeit war, er hatte zweifellos innerlich, zum letztenmal auf Erden, inmitten der Katholiken, die er liebte und wirklich verstand, diese Leidenswoche Christi miterlebt, obwohl sie dieses Jahr auf der Ebene der menschlichen Berechnungen nicht mit der Karwoche der Schwester Roms zusammenfiel, der Kirche des Ostens, der Berdjajev sein ganzes Leben hindurch treu blieb und die er so reinen und tatkräftigen Herzens liebte, daß er ihr niemals auf historischer Grundlage die Warnungen einer leidenschaftlichen Kritik ersparte.

Berdjajev ist tot. Er ist nun gegen das gestoßen, was er selbst in diesem letzten Augenblick des Erdenlebens „das erstaunlichste Paradox” nannte, diesen „Paroxys- mus des Bösen und des Schreckens, diese Verneinung der Freiheit und der Ewigkeit, in die trotzdem jeder Mensch seine letzte Hoffnung setzt”. Ich möchte gerne glauben, daß einen Augenblick lang Berdjajev für uns alle gebetet hat, um seinen lebendigen Gott zu bitten, die gegenwärtigen Prüfungen unserer Welt zu erleichtern oder vielmehr zu verklären, in denen er, der auf den ersten Anschein erstaunlich sich Widersprechende, laut einem seiner letzten Worte „das Zeichen einer Dekadenz und die Ankündigung eines . Fortschrittes” sah. Ich möchte auch gern glauben, daß Berdjajev stärker als jemals vom Glauben an die Rettung der Welt für alle und für alles durchdrungen gestorben ist, der der Grundton seiner Schriften und seines Lebens gewesen ist. „Die Hölle bedeutet nicht den Sieg Christi, sie bedeutet den Sieg Satans”, sagte Nikolaj Berdjajev. Endlich möchte ich glauben, daß er,. als er uns verließ, im äußersten Fall diese Hölle für sich gelten ließ, für sich allein, da sich das ganze Bewußtsein seines Lebens in der schmerzlichen Überzeugung ausdrückte, daß er selbst weder ein „Gerechter” noch ein „Guter” sei. Aber dieses Bewußtsein, das andere bis zu der höchsten Anmaßung entwickelt hätten, wußte Berdjajev zu durchgeistigen und zu verklären und daraus jede Selbstzufriedenheit zu entfernen, um darin nur das sehr schwere Kreuz einer vermehrten Verantwortlichkeit zu finden. „Das menschliche Gewissen begann mit der göttlichen Frage: Kain, was hast du. aus deinem Bruder Abel gemacht? Es wird durch jene andere Frage sein Ende finden: Abel, was hast du aus deinem Bruder Kain gemacht?” (Über die Bestimmung des Menschen.)

Wie Kierkegaard begriff Berdjajev nicht Christus. Er glaubte an ihn. Und wie für den großen Dänen bedeutete für ihn Glauben an Christus den Glauben an das Göttliche im Menschen. Niemand erkennt den Vater, wenn nicht durch den Sohn, aber wer den Sohn kennt, erkennt auch den Vater. Diese grundlegende evangelische Wahrheit war seine Wahrheit, die Wahrheit, von der , er ausging. Denn Berdjajev war ein erstaunlicher Philosoph, er suchte nicht die Wahrheit, sondern er ging von ihr aus. Und auf diesem Weg, dem allergefährlichsten, vollbrachte er das Paradoxon, ein leuchtender und heftiger Gegner jedes Fanatismus zu sein, ohne jemals der Typus eines akademischen, in seine Grundsätze befangenen Philosophen zu werden. Berdjajev hinterläßt uns kein System; er hatte philosophische Systeme nicht gern, er betrachtete sie sogar als schädlich, der Freiheit der Wahl und der freien Entfaltung jeder Eigenpersönlichkeit entgegengesetzt, die für ihn den höchsten Wert der Welt bedeutete. „Ich glaube an die Freiheit des Geistes, ich glaube an den freien Menschen. Mein christlicher Glaube ist nicht die Folge einer Erbschaft von überlieferten Gebräuchen. Ich habe meinen Glauben durch innerstes und qualvollstes Erproben der Freiheit erlangt. Meine Freiheit hat mich zu Christus geführt und ich kenne keinen anderen Weg, um zu ihm zu kommen.”

Der Ausgangspunkt von Berdjajevs Philosophie ist der Gott-Mensch. Das gottmenschliche Mysterium ist das tiefe Zentrum seiner Gedanken und seines Lebens. Es ist eine existentielle Philosophie, obwohl sich Nikolaj Berdjajev nicht gern in eine Schule einreihen ließ und sehr berechtigterweise einen Sonderplatz beanspruchte, den er selbst nur durch eine sehr weitgehende kritische Bezugnahme auf alle Philosophen betonte. Er forderte eine neue Sprache, um in einer, nach seiner Meinung vollkommen neuen historischen Ära — einem neuen Mittelalter — dahin zu gelangen, sein christliches Weltbild, seine Erwartung der Herrschaft des Geistes, auszudrüdcen. Er strebte nach der Gabe des Weissagens, nach dem Rate des heiligen Paulus, den die Christenheit kaum gehört zu haben scheint. Schon in den zwanziger Jahren veröffentlichte er in Frankreich sein prophetisches Buch „Ein neues Mittelalter”, in dem er die verhängnisvollen Folgen der Renaissance hervorhob, welche die Menschheit dazu brachte, auf Gott zu verzichten und durch den Aufstieg des Maschinismus vom organischen zum organisierten Leben überzugehen. Aber er erwies der Renaissance das ihr gebührende Lob. Er erkannte in ihr und von ihr ausgehend eine blühende Epoche, die dem Menschen die Möglichkeit gab, die ihm innewohnenden Kräfte auf das Glanzvollste zu erproben. Der Krieg 1914 bedeutete für Berdjajev das Ende dieses glücklichen Zeitabschnittes, er war der beginn einer neuen Ära menschlicher Ohnmacht und nicht mehr menschlicher Macht. Er kündigte in diesem Buch die Katastrophen an, die die Welt zwanzig Jahre später kennenlernen sollte. Er war der Prophet und nicht der Wahrsager. Seine Hauptsorge war es nicht, die menschliche Zukunft zeitlich vorauszusagen, sondern die ewige Wahrheit zu enthüllen, die folglich zweifellos auch die gültige Wahrheit für alle Zeiten, für unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft ist. Er war der bejahende christliche Prophet, denn die Voraussage der menschlichen und geschichtlichen Zukunft ist in seinem Werk nur die, wenn auch untrennbare, Folgeerscheinung der aus sich selbst geschöpften Erleuchtung in der tiefen Existenz des Subjekts. Er bestand auf der in der Schule Dostojewskys gelernten Tatsache, daß der Mensch ein irrationales, zweifaches und polar entgegengesetztes Wesen sei, das zwei Welten zugehöre. Berdjajev, den die sozialen Probleme leidenschaftlich beschäftigten und der sein ganzes Leben lang für den Triumph der Wahrheit und der sozialen Gerechtigkeit kämpfte, war weder Soziologe noch Psychologe im klassischen Sinn des Wortes. Er war als Nachfolger Dostojewskys und Kierkegaards der größte Anthropologe und Pneumatologe unserer Zeit. Ursprung und Ende des Menschen, die Wahrheit über den Geist, Freiheit und Geist sind die Hauptthemen seiner Betrachtungen. „Ich habe mich nie zu dieser, noch zu einer anderen Welt gehörig gefühlt”, gesteht er uns im Vorwort zu einem seiner Bücher (Über die Sklaverei und die Freiheit des Menschen.) Aber dieser von, wenn auch nur scheinbaren, Widersprüchen erfüllte Philosoph beeilt sich, hinzuzufügen:

„…in historisch bewegten Zeitabschnitten, in Epochen der geistigen Revolution, kann der Philosoph nicht in seinem Arbeitsraum verschlossen bleiben, ohne am Kampfteilzunehmen… Der Mensch darf sich nicht nur erheben, er muß auch hinuntersteigen können…Der Hauptwiderspruch in meinen Gedanken über das soziale Leben liegt in dem Nebeneinanderbestehen zweier Elemente innerhalb dieses Gedankens: der aristokratischen Auffassung von der Persönlichkeit, der Freiheit und der schöpferischen Kraft einerseits, und auf der anderen Seite von der Anerkennung der menschlichen Würde, des Rechtes zu leben für alle Menschen einschließlich des Letzten. Es ist ein Konflikt zweier Gefühle: Anlehnung an eine höhere Welt, Streben nach Höhe und Mitleid für eine niedrigere, für eine leidende Welt.,. Wenn die nivellierende Tyrannei meine Auffassung von der menschlichen Würde, meine Liebe für die Freiheit und die schöpferische Kraft verletzt, lehne ich mich gegen sie auf und bin bereit, diese Auflehnung in heftigster Form zum Ausdruck zu bringen. Aber wenn ich die Parteigänger der sozialen Ungerechtigkeit schamlos ihre Privilegien verteidigen sehe, wenn ich sehe, wie der Kapitalismus die arbeitenden Klassen unterdrückt und die Menschen in Dinge verwandelt, so empfinde ich dasselbe Gefühl, denselben Drang zur Auflehnung. In einem wie in dem anderen Fall verneine ich die Grundlagen der modernen Welt.” (Ober die Sklaverei und die Freiheit des Menschen.)

Das Problem de Weltunterganges spielt in Berdjajevs Philosophie eine wichtige Rolle, „denn der Sinn verbindet sich immer mit dem Ende”. Aber die apokalyptische Deutung ist für ihn nicht Gegenstand objektiver Forschung („objektivierend”, wie er selbst sagte), in der sich das diskursive Denken vor lauter Abstraktionen verlieren müßte. Für Berdjajev fällt das Ende der Welt mit einem eigenen Ende zusammen. So erlebt er es in der Tiefe des existentiellen Gedanken . Seine Ideen sind, wie wir schon betont haben, scheinbar widersprechend: was er auf der einen Seite verwirft, nimmt er irgendwo anders auf und überwindet schließlich seine Widersprüche nur jenseits einer bis zu den letzten Grenzen vorgetriebenen Logik durch einen Akt des Glaubens. (Er ist das Gegenteil eines Fanatikers.) „Der Fanatiker”, sagt er, „ist nicht imstande, mehr als einen Gedanken auf einmal zu erfassen. Alle Ideendegenerieren schließlich zu einer Quelle fanatischer Besessenheit. Und wenn sich diese Degeneration vollzogen hat, verschwindet der lebendige Gott, verschwinden Vollendung, Gerechtigkeit, Freiheit, die lebendige Liebe, denn alles Lebendige besteht nur in der Fülle des Lebens, in der harmonischen Wechselbeziehung zwischen dem Ganzen und den Teilen, und jede zum Idol erhobene Idee wird Lüge.”

Berdjajev fordert uns zur Toleranz auf, aber zu einer Toleranz, die nicht Gleichgültigkeit gegenüber Gut und Böse bedeuten darf. Sie muß „Freiheits- und Menschenliebe” sein, eine Toleranz, die „die menschlichen Seelen auf ihrem stets schwierigen und qualvollen Lebensweg mit liebender Sorgfalt umgibt”. Er weiß, daß die Freiheit, die das Mitleid ignoriert, und vielleicht auch die Liebe dämonisch wird. Er ist in gewisser Hinsicht der Apostel des Nichtwiderstandes gegen das Böse und jedenfalls des Nichtgewaltanwendens, aber er haßt und bekämpft das Böse, das für ihn eine alltägliche Wirklichkeit ist. Die christliche Moral ist aristokratisch im geistigen Sin des Wortes, sagt er. Nur diejenigen, die das Christentum nicht innerlich kennen, nennen es „eine Moral für die Schwadien”. Denn sie ist „die der Starken im Geist und nicht der Schwachen … Sie hat sich gegen die Sklavenpsychologie der Beleidigung erhoben und ihr die adelige Psychologie der Schuld entgegengestellt. Sie hat uns gelehrt, daß es ein edles, aristokratisches Gefühl ist, sich seiner Schuld bewußt zu sein, während die Erinnerung an eine Beleidigung und der damit verbundene Wunsch nach Rache bedeutet, daß man sich von einem erniedrigenden, plebejischen Gefühl beherrschen läßt.”

Nikolaj Berdjajev lebte seit 1924 in Frankreich. Er hatte Rußland im Alter von 47 Jahren verlassen, das war auf zwei Jahre genau das Alter von Mahatma Gandhi, als dieser aus seinem Exil zurückkehrte, um sich wieder nach Indien zu begeben. Die indische Seele empfing ihren Propheten, sie öffnete und überließ sich ihm, nährte sich von seiner Lehre, seiner Wahrheit, seinem Beispiel und wurde ihm auch zur Triebkraft. Sie allein war imstande, diesem großen Einsamen der Massen die Unterstützung seines Geistes zu geben, sie allein konnte aus diesem reinen Weisen das historische, moralische, soziale und politische Genie machen. Ebenso hätte nur die rassische Seele, die Seele Rußlands, auf der Stelle die Lehre des aus seinem Schoß entsprossenen christlichen Propheten aufnehmen und in die Praxis Umsetzen, aus ihm einen historischen Menschen machen können. Aber die geschichtliche Zufälligkeit hat Nikolaj Berdjajev, dem Philosophen der Geschichte — Historiosophen, wie er sich selbst nannte — nicht erlaubt, gleich in seinen Heimatboden zu säen. Er ist so gestorben, wie Ghandi gestorben wäre, wenn sich ihm nicht im Alter von 45 Jahren die Pforten Indiens geöffnet hätten.

Innerhalb von drei Monaten, an der Schwelle der härtesten Prüfungen, ist unsere Welt auf grausame Art ärmer geworden. Der große Orient hat seinen Propheten verloren, der Okzident hat den verloren, dessen Stimme in der Wüste rief. Die Paradoxe Nikolaj Berdjajevs, die sich uns nun in der neuen Mystik öffnen, deren letzte Worte er zu schreiben im Begriff war, bekräftigen das Herannahen eines neuen Zeitabschnittes für das Christentum, die Herrschaft des Heiligen Geistes, die Offenbarung der schöpferischen Kräfte des Menschen.

„Ein neuer Tag beginnt für das Christentum. Vom sozialen Gesichtspunkt kann ihm nur ein personalistischer Sozialismus . entsprechen, der die Allgemeinheit mit der Persönlichkeit verbindet. Die Stunde naht, da man nach einem schrecklichen Kampf, nadi einer tiefen Entchristlichung der Welt, die ihre eigenen Reserven aufgebraucht hat, das Christentum in all seiner Reinheit aufgehen sehen wird. Dann werden wir genau wissen, was das Christentum verteidigt und gegen was es ankämpft; es wird wie die letzte Zuflucht der Menschheit erscheinen; wir werden verstehen, daß es für den Menschen der wahre Humanismus ist, für den Wert und die Würde des einzelnen, für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, für die Befreiung der Völker wie des einzelnen, für Erleuchtung und Verklärung, für die Erschaffung eines neuen Lebens; dann werden wir endlich wissen, daß das Christentum allein sie verteidigt.” (Schicksal des Menschen in der heutigen Welt.)

Übersetzung des französischen Manuskripts von Maria Razumovsky.

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