Weltgebetstreffen - © Foto: gettyimages / Patrice PICOT / Kontributor

Karl-Josef Kuschel: Frieden UND Gewalt im Namen Gottes?

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Über die "Doppelgesichtigkeit der Religionen" sprach der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel in seinem Eröffnungsvortrag der "Ouverture spirituelle" der Salzburger Festspiele am 18. Juli 2021. Die FURCHE bringt seine vielbeachtete Rede im Wortlaut.

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Über die "Doppelgesichtigkeit der Religionen" sprach der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel in seinem Eröffnungsvortrag der "Ouverture spirituelle" der Salzburger Festspiele am 18. Juli 2021. Die FURCHE bringt seine vielbeachtete Rede im Wortlaut.

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Mit einer Mischung aus Verlegenheit und Enttäuschung spreche ich zu Ihnen und versuche, mit Ihnen meine Gedanken zu teilen. Zwei Gründe bestimmen diese bedrückende Mischung:

Frieden im Namen Gottes

Ein halbes Leben lang habe ich mich für Frieden unter Menschen verschiedener Konfession und Religion eingesetzt. Ich habe dieses Ideal hochgehalten, habe dafür geworben und dafür an der Basis gearbeitet, ob an der Universität, in Gemeinden oder Schulen. Ungezählte Vorträge habe ich zu diesem Thema gehalten, vieles publiziert, darunter Grundlagenstudien im Religionsvergleich. Wie auch anders? Es war und ist für mich Teil meiner selbstverständlichen Glaubensüberzeugung: Frieden im Namen Gottes. In jedem Gottesdienst erfolgt der Ruf: Geht in Frieden, schafft Frieden. Pacem in Terris - dieses Schlüsselwort von Johannes XXIII. habe ich nie mehr vergessen.

Kuschel

Karl-Josef Kuschel

Geboren 1948, war er von 1995-2013 Professor für „Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs“ an der Universität Tübingen (Schwerpunkt Judentum, Christentum, Islam sowie „Religion und Literatur“). Kuschel ist ein vielfach ausgezeichneter Forscher, Vortragender und Publizist, u.a. wurde er 2019 mit dem „Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen“ ausgezeichnet. Zudem ist er Präsident der „Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft e.V.“. Zuletzt erschien von ihm „Goethe und der Koran“ (Patmos 2021).

Ich war 15 Jahre alt, als die Enzyklika dieses Papstes unter diesem Titel erschien: 1963. Eine Theologie des Friedens auf der Basis der Menschenrechte! Das hatte es zuvor nicht gegeben. Wie gebannt habe ich mit ungezählten Christen die Ereignisse des 2. Vatikanischen Konzils verfolgt, das dieser Jahrhundertpapst, der nur fünf Jahre wirken durfte, einberufen hatte. Denn das Konzil hatte in drei entscheidenden Zukunftsfragen eine für die katholische Kirche geschichtlich beispiellose Kehrtwende vollzogen und durch epochale theologische Dokumente katholische Christen auf dreierlei verpflichtet: 1. auf die Beachtung der Menschenrechte, darunter vor allem die Religions- und Gewissensfreiheit für jeden Menschen, 2. auf Ökumenismus, vor allem mit den Kirchen der Reformation - und 3. auf Dialog, vor allem mit der nichtchristlichen Welt, seien es der neuzeitliche Humanismus oder die großen Religionen.

Das waren die Zauberworte, die mich und Ungezählte in Bann schlugen und mit denen wir – Losungen gleich – die in Ideologien, Konfessionen und Religionen zerrissene Welt etwas bewohnbarer machen wollten: Menschenrechte, Ökumenismus und Religionsdialog. In ihren Wirkungen auf einen Religionsfrieden gar nicht zu unterschätzen: Die innovative Theologie des Konzils hatte uns katholische Christen von unserem Antiprotestantismus und unserem Heils-Exklusivismus befreit, demzufolge man nur durch Eintritt in die alleinseligmachende katholische Kirche „in den Himmel“ kommt.

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Unvergessen, was in der Konzilserklärung über das „Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ steht:

„Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in den Religionen wahr und heilig ist. ... Deshalb mahnt sie, dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“ (Nostra Aetate 2)

Erregung ergreift mich jedes Mal, wenn ich diesen Text lese. Mehr als 50 Jahre ist er alt, aber nichts an ihm ist veraltet, nichts überholt, er strahlt und funkelt mit unverbrauchter Energie. Als Glut in der Asche verbrauchter Hoffnungen. Warum aber dann meine prekäre Mischung aus Verlegenheit und Enttäuschung?

Gewalt im Namen Gottes

Der zweite Grund:Als ich Ende der sechziger Jahre mit dem Studium der Theologie beginne, weht uns der „Zeitgeist“ scharf ins Gesicht. „Religion“? Wozu heute noch? Nach 200 Jahren Religionskritik. War nicht zu viel an „Aufklärung“ geschehen, Aufklärung über den Verbrauch und Missbrauch der Religion? Wie kann man nach all dem, was die philosophischen „Meisterdenker“ der europäischen Moderne von Voltaire und Feuerbach bis zu Marx, Nietzsche, Freud und Sartre an Religion als Machwerk menschlicher Einbildung, als Instrument zur psychischen und politischen Unterdrückung, als Ideologie zur Vertröstung auf ein Jenseits und zur Rechtfertigung von Terror und Kriegen zu durchschauen lehrten, wie kann man nach all dem noch ernsthaft, das heißt intellektuell redlich, „an Gott glauben“ wollen und somit sein Leben und Sterben auf eine transzendente Wirklichkeit gründen? Mit dem Massentod der beiden Weltkriege im sogenannten „christlichen Europa“ im Rücken?

Im Wissen um Verdun, Stalingrad und Auschwitz und wie die Schandorte der Geschichte alle heißen, an Gott glauben?

Im Wissen um Verdun, Stalingrad und Auschwitz und wie die Schandorte der Geschichte alle heißen, an Gott glauben? Wer dies „heute“ immer „noch“ tut, der steht wahrhaftig unter Rechtfertigungszwang. Wer sich gar öffentlich zu einer Religion bekennt, der gerät unter Peinlichkeitsverdacht. Wie viel Gewalt psychischer und physischer Art durch die Vertreter der Religionen! Gerade auch im sogenannten christlichen Abendland, dessen Geschichte besonders entsetzlich ist: Angefangen von den Kreuzzügen, über die Scheiterhaufen der Inquisition gegen Ketzer und „Hexen“ bis hin zu dem 30jährigen Konfessionskrieg und den Gewaltexzessen gegen Indios in Lateinamerika und gegen Juden im Herzen Europas. Welch eine Geschichte von Blut, Tränen und Massentod. Und alles „im Namen Gottes“.

Und weil ich das weiß, habe ich viele Jahre gebraucht, um eine für mich glaubwürdige Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit finden und ein Ja zu Gott in intellektueller Redlichkeit sprechen zu können. Dabei habe ich auch gelernt, dass die defensive öffentliche Lage der Religionen heute gerade in ihrer verkirchlichten Form vor allem ein Phänomen Europas ist. Es ist viel Eurozentrismus am Werk, wenn man Religion für „überholt“ erklärt, in den Raum des Privaten verweist und den Säkularismus überall auf dem Vormarsch sieht. In West- und Nordeuropa vor allem ist die öffentliche Bedeutung von Religion in ihrer verkirchlichten Form auf eine geschichtlich beispiellose Schwundstufe gesunken, aus eigenen nachvollziehbaren Gründen.

Die Persistenz der Religionen weltweit

​​​​Aber Europa ist nicht die Welt. Schaut man sich um, so scheinen mir für eine Religionsdiagnose der Gegenwart einige Beobachtungen unabweisbar. Ein eurozentrischer Blick reicht dafür nicht aus, die Perspektive muss heute global sein. Empirische Untersuchungen zeigen das - und ich verweise exemplarisch auf Veröffentlichungen des Sozialwissenschaftlers Hans Joas (Glaube als Option, Freiburg/Br. 2012, S.192-200).

Im Gegensatz zu bestimmten soziologischen oder ökonomischen Zeitdiagnosen, welche den öffentlichen Einfluss der großen Religionen aus religionskritischer Voreingenommenheit in der Regel ignorieren, erkennt man immer stärker: Von Europa abgesehen, hat Religion in allen Kontinenten dieser Erde auf hunderte Millionen Menschen nach wie vor mächtigen Einfluss. Viele regionale Krisen sind ohne diesen Einfluss gar nicht zu verstehen, weder im Nahen und Mittleren Osten noch im indo-pakistanischen Raum. Die dort seit Jahrhunderten verankerten Religionen spielen direkt oder indirekt eine wichtige Rolle mit Wirkungen auf Weltgesellschaft und Weltpolitik. Daraus folgt:

  1. Alle in den sechziger und siebziger Jahren noch vertretenen neomarxistisch oder rationalistisch beeinflussten Prognosen vom Absterben der Religion im Zuge von Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung haben sich nur partiell bewahrheitet. Alle sogenannten „Säkularisierungs“-Vorhersagen von der Auflösung, Privatisierung oder Ersetzung der Religion, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts plausibel zu sein schienen, müssen hundert Jahre später teils zurückgenommen, teils relativiert werden. Sie treffen nur für einen Teilbereich der Weltgesellschaft zu, vor allem auf Nord- und Westeuropa. Sie können nicht auf die Menschheit als Ganze hochgerechnet werden. Nord- und Westeuropa haben – was die öffentliche Schwundstufe von Religion angeht – kulturgeschichtlich eine Sonderentwicklung durchgemacht. In anderen Kontinenten – ich denke vor allem an den Einflussraum von Islam, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus – spielt Religion auch öffentlich eine nach wie vor Massen von Menschen prägende, treibende, motivierende Rolle. Ambivalent selbstverständlich. Ja, man wird davon ausgehen müssen, dass im globalen Wettbewerb das kulturelle und religiöse Eigenprofil der Kontinente sich nicht etwa abschleift, sondern verschärft. Denn:
  2. Aufruhr gegen soziale Verwerfungen kleidet sich heute in vielen Ländern dieser Erde nicht mehr länger in ideologische Gewänder entlang dem Ost-West-Konflikt von Marxismus und Kapitalismus. Er kleidet sich in ethnisch-religiöse Gewänder. Der Protest der Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer artikuliert sich heute – insbesondere im islamischen Raum – in religiöser Sprache. Sie ist oft das einzig noch verbliebene Medium, um den Schrei der Menschen nach sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Partizipation hörbar zu machen. Gerade in muslimischen Ländern liegt sie als Potential bereit. Schon Karl Marx wusste, dass Religion nicht bloß Ausdruck des Elends, sondern auch „Protestation gegen das Elend“ sein kann. Dadurch aber wächst den Vertretern und Anhängern der Religionen eine besondere Verantwortung zu, die vorhandenen sozialen und ethnischen Konflikte religiös nicht zu fanatisieren, sondern zu zivilisieren.
  3. Trotz aller ökonomischen Globalisierung und weltkulturellen Standardisierung wachsen die Religionen gerade nicht zu einer einzigen Einheitsreligion zusammen. Verflechtungs- und Vereinheitlichungs-Prozessen im Raum der Kultur und der Wirtschaft entsprechen nicht solche im Raum der Religionen. Mag es auch bis hin zu Mode, Musik und Esskulturen zu immer stärkeren globalen Standardisierungen gekommen sein, ohne die weder der Welthandel noch der Welttourismus funktionieren könnte - eine „McDonaldisierung“ der Weltreligionen und Weltkulturen, wie der Münchner Soziologe Ulrich Beck sich ausdrückt, ist nicht zu erwarten. Kein weltreligiöses Einheitsessen also mit mal islamischen, mal buddhistischen, mal christlichen Zutaten. Vielmehr ist realistisch davon auszugehen, dass die Religionen sich ausschließende Wahrheitsprofile gegeneinander behalten. Der amerikanische Politologe Samuel Huntington hat dies in seinem seinerzeit vieldiskutierten Buch über den „Zusammenprall der Zivilisationen“ auf die griffige und stimmige Formel gebracht: „Eine Person kann halb-französisch und halb-arabisch und gleichzeitig Bürger zweier Länder sein. Es ist aber schwierig, halb-katholisch und halb-muslimisch zu sein“. Woraus folgt: Die Religionen behalten untereinander bleibend gültige Wahrheitsansprüche.
  4. Die Veränderungen auf der weltpolitischen und weltreligiösen Landkarte haben bei ungezählten Menschen weltweit zu einer Neubestimmung des Faktors Religion auch im persönlichen Leben geführt. Beschleunigt wird dieser Prozess durch den endgültigen Zusammenbruch der modernen Großideologien nach 1989. Dass „Sozialismus“ einerseits und „Wissenschaftsgläubigkeit“ andererseits keine Zukunftsmodelle mehr sein können - zu sehr haben sie ökonomisch versagt und die Natur vergewaltigt – das hinterließ bei Ungezählten in Ost und West das, was Zeitkritiker ein „postideologisches Vakuum“ nennen. Das heißt: eine geistige Leere. Eine Orientierungslosigkeit, die aber ein neues Fragen nach sich zieht: nach Herkünften, Wurzeln, verlässlichen spirituellen und moralischen Ressourcen, die einen tragen und von denen eine Gesellschaft zusammengehalten wird. Kurz: Nach Werten ohne Verfallsdatum.
  5. Der Anteil religiöser Menschen an der Weltbevölkerung hat unter dem Einfluss der Modernisierung nicht etwa abgenommen. Im Gegenteil. Er steigt dramatisch an:

So breitet sich in Afrika nicht nur der Islam, sondern auch das Christentum stark aus, ungeachtet des Endes der Kolonialherrschaft. Das hat neben missionarischen Aktivitäten der Kirchen vor allem auch mit der demographischen Entwicklung in vielen afrikanischen Ländern zu tun. Schätzungen besagen, dass der christliche Anteil an der afrikanischen Bevölkerung von 1965 bis 2010 von 25 auf 47 Prozentgestiegen ist und weiter ansteigt. Der Anteil des Islam wird auf 40 Prozentgeschätzt.

Auch in Asien ist eine Erfolgsgeschichte des Christentums empirisch nachweisbar, am spektakulärsten wohl in Südkorea, wo ein Drittel der Bevölkerung sich mittlerweile zum christlichen Glauben bekennt. In absoluten Zahlen sind das 16 Millionen Menschen. Den Anteil von Buddhisten schätzt man auf 9,5 Millionen. Ähnlich in China, das Land, in dem es einst in verschiedenen Wellen die gnadenlosesten Christenverfolgungen der Geschichte gegeben hat, unter den chinesischen Kaisern ebenso wie unter der Diktatur der kommunistischen Partei. Aber nachdem die Funktionäre begriffen hatten, dass die Menschen nicht, wie erhofft, ihre Religion abstoßen würden, hat man die Religionspolitik gelockert bei gleichbleibender diktatorischer Monopolherrschaft der Partei. Zwar bleibt die religionsgeographische Lage in China gegenwärtig noch unübersichtlich, aber Tatsache ist schon jetzt: China bleibt tief vom Konfuzianismus geprägt, ist heute die größte buddhistische Nation der Welt in einer Größenordnung von 250 Millionen Menschen, hat zugleich wieder einen Anteil von Christen in der Höhe ca. 72 Millionen und von Muslimen von ca. 30 Millionen.

Und was Lateinamerika angeht, haben Pfingstbewegungen und protestantisch-charismatische Kirchen einen derartigen Massenzulauf, dass sie schon jetzt das Antlitz eines Kontinents verändert haben, der über Jahrhunderte die exklusive Domäne der Katholischen Kirche war.

In globaler Perspektive besteht kein Grund, an der Vitalität der Religionen zu zweifeln, auch des Christentums nicht.

Hans Joas

Aus all dem folgt – mit den Worten von Joas: „In globaler Perspektive besteht kein Grund, an der Vitalität der Religionen zu zweifeln, auch des Christentums nicht“. Im Gegenteil: „Viele der am schnellsten wachsenden Nationen dieser Erde sind ganz oder stark christlich geprägt. Man denke nur an Brasilien, Uganda oder die Philippinen, deren Bevölkerung sich seit 1975 fast verdoppelt hat. Einige dieser Länder werden bis 2050 erneut eine Verdoppelung oder noch mehr erfahren, was die Rangfolge der Staaten auf der Welt hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl völlig verändern wird“ (Joas, S. 193). Dasselbe gilt für den Islam, der heute seine größten Zuwächse in asiatischen Staaten aufweist: in Indonesien, Pakistan und Bangladesch. Man schätzt, dass es im Jahre 1900 weltweit etwa 200 Millionen Muslime auf der Welt gegeben hat, heute geht man von ca. 1,5 Milliarden aus.

Gegenüber vielfach vertretenen Thesen also, Religion würde im Verlauf von Modernisierungsprozessen absterben oder sich völlig privatisieren, ist der „Faktor Religion“ in vielen Teilen dieser Erde ernst zu nehmen, ob man persönlich „religiös“ ist oder nicht, ob man zu den Verächtern der Religion oder zumindest zu den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ gehört. Zwar nicht in West- und Nordeuropa, wohl aber in nahöstlichen, asiatischen und afrikanischen Ländern unter dem Einfluss des Islam, des Konfuzianismus oder Buddhismus. Den Einfluss der Religionen also politisch zu unterschätzen, wäre ein schwerer Fehler. Schon deshalb, weil sich die Dämonen eines religiösen Extremismus weltweit wieder erhoben haben, ja sogar Terror und Kriege im Namen Gottes legitimieren. „Religion“ ist eben nicht, schaut man sich um in der Welt, „passé et depassé“. Religionen sind in ihrer Doppelgesichtigkeit ein globaler Unruhefaktor. Das gilt es in allem Realismus anzuschauen.

Die Ambivalenz der Religionen

Menschenrechte, Ökumenismus, Religionsdialog im Namen Gottes, ja diese Trias hat mein Denken stark geprägt. Womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass ich im Jahr 2021 mehr denn je nicht nur über „Frieden“, sondern auch über „Gewalt im Namen Gottes“ würde sprechen müssen. Gewiss: Dass „Religion“ ein doppelgesichtiges Phänomen ist, haben uns schon die genannten religionskritischen Meisterdenker schonungslos und empirisch detailliert vor Augen geführt. Wir haben es nicht mit einem neuen, bisher unbekannten Phänomen zu tun. Die Geschichte der Religionskritik hat uns die tiefe Ambivalenz des „Faktors Religion“ in der Weltgesellschaft gründlich dokumentiert. Und keine Religion ist unschuldig.

Ob in Europa, dem Nahen Osten oder in Asien: In allen Religionen haben Menschen im Namen ihres Gottesbildes gemordet, geschändet, Kriege geführt, Opfer in Kauf genommen. Mahatma Gandhi, der Apostel der Gewaltlosigkeit im Geist des Hinduismus? Ist er nicht von einem fanatischen Hindu ermordet worden? Martin Luther King, der amerikanische Pastor, einer der Anführer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung? Hat ihn nicht ein rassistisch Verblendeter öffentlich erschossen? Anwar as-Sadat, der ägyptische Präsident, der Frieden mit dem Staat Israel gemacht hat? Wurde er nicht 1981 Opfer eines islamistischen Terroristen. Und Jitzchak Rabin, der israelische Ministerpräsident, der Frieden mit den Palästinensern hatte machen wollen? Wurde er 1995 nicht von einem fanatischen jüdischen Extremisten öffentlich ermordet, um genau das zu verhindern?

Und auch das ist nicht zu leugnen: In vielen Religionen gibt es schon in den Heiligen Schriften selbst Rechtfertigung von Krieg, Intoleranz und Gewalt: in der hebräischen Bibel, im Koran, in den hinduistischen Epen Mahabharata und Ramayana. Das anzuschauen ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit. Verdrängungen sind keine Lösung, Verharmlosung und Schönfärberei auch nicht. Religiös gerechtfertigte Gewalt ist ein durchlaufendes Thema der Religionsgeschichte von den Anfängen an. Und die Arbeit daran auch.

Die Eindämmung und letztlich Überwindung der Gewalt durch Ethos und Recht ist auch Teil der Heiligen Schriften.

Denn auch das ist wahr: Die Eindämmung und letztlich Überwindung der Gewalt durch Ethos und Recht ist auch Teil der Heiligen Schriften. Die Bergpredigt? Selig werden die gepriesen, die ohne Gewalt leben und Frieden stiften. Aber hat die Bergpredigt die Kreuzzüge verhindert, die massenmörderischen Kriege zwischen „christlichen“ Nationen und Konfessionen, die 50 Jahre Hugenottenkriege in Frankreich im 16. Jahrhundert, die 30 Jahre Glaubenskrieg auf deutschem Boden im 17. Jahrhundert und die Selbstzerfleischung „christlicher“ Nationen im 1. Weltkrieg? Und doch bleibt die Bergpredigt die Kernbotschaft, der normative Grundtext jedes Christen. Der Koran? Er droht Ungläubigen mit dem Gericht Gottes, rechtfertigt Kampf und Krieg. Aber fängt nicht jede Sure an mit einem Bekenntnis zu Gott, dem allerbarmenden, dem allbarmherzigen? Und sind Kampf und Krieg nicht ausdrücklich nur zur Selbstverteidigung gestattet? Die Bhagavadgita? Der ethische und spirituelle Grundtext auch des Neohinduismus, Teilstück des indischen Riesenepos Mahabharata? Die Gita spielt mitten auf einem Schlachtfeld, rechtfertigt den bewaffneten Kampf, aber nur gegen das Unrecht und mit dem Ziel, Krieg und Gewalt letztlich zu überwinden.

Deshalb ist es ein Gebot intellektueller Redlichkeit, einzuräumen: Man kann aus den Heiligen Schriften verschiedener Religionen Frieden und Gewalt im Namen Gottes rechtfertigen, wenn man es darauf anlegt. Das zu leugnen, wäre wirklichkeitsblind. Zu behaupten etwa, die Gewaltexzesse von Terrormilizen gegen sogenannte Ungläubige hätten „mit dem Islam“ nichts zu tun, ist so falsch wie die Behauptung, die Kreuzzüge des Mittelalters hätten „nichts mit dem Christentum zu tun“. Tatsache ist: Beides ist im Namen einer bestimmten Auslegung des Islam oder des Christentums gerechtfertigt worden. In den Krieg gegen die Ungläubigen sind Menschen aus islamischer und christlicher Überzeugung gezogen, in meinen Augen verführt, verblendet von ihren jeweiligen Ideologen gewiss, aber sie taten es im Namen Gottes, besser: im Namen dessen, was sie unter „Gott“ verstanden, was sie für den Willen ihres Gottes hielten. Angesichts dieser Geschichte religiöser Verblendung kann man wahrhaftig in den Ruf Martin Bubers ausbrechen, der einer der großen religiösen Denker im 20. Jahrhundert gewesen ist: Gott?

Gott „ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. ... Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. ... sie zeichnen Fratzen und schreiben ‚Gott’ darunter; sie morden einander und sagen, ‚im Namen Gottes’.“

Da aber Religion gebraucht und missbraucht werden kann, wie diesem Dilemma begegnen? Nach welchen Kriterien urteilen, welche Form von Religion, konkret: welche Auslegung von Christentum und Islam, die gültige ist? Ist im Raum der Religion nicht „alles möglich“? Oder sollte man besser auf Religion verzichten? Auch dazu in aller Kürze das Nötigste.

Die Ambivalenz der Religionskritik

Manche bei uns empfehlen eine klare Absage an Religion überhaupt - und zwar im Geist der europäischen Religionskritik nach der Aufklärung. Religion verführe und spalte die Menschen, sagen sie, verblende sie ideologisch und mache sie unfähig, mit den Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Weltgesellschaft fertig zu werden: die Menschenrechte Anderer zu respektieren, Pluralismus zu leben, partizipatorische Koexistenz mit Andersglaubenden zu praktizieren.

Wie gut kann ich ein Lied des legendären John Lennon verstehen (auch ich habe es immer wieder gehört): Sein Lied „Imagine“ und die Verse daraus: „Imagine there's no heaven ... No hell below us ... Imagine there's no countries / It isn't hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion too / Imagine all the people living life in peace. You may say I'm a dreamer / But I'm not the only one“. Ich habe die Melodie und die helle Stimme von Lennon bei diesem Lied noch im Ohr. „Stell dir vor, da ist kein Himmel ... keine Hölle unter uns ... Stell dir vor, es gibt keine Staaten / Das ist nicht schwer / Da ist nichts, für das sich zu töten oder sterben lohnt / Und auch keine Religion / Stelle Dir vor, alle Menschen lebten ein Leben in Frieden / Du magst sagen, ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der einzige“. Eine Herausforderung an alle, denen Religion in ihrem Leben etwas Kostbares geworden ist. Eine religionslose Welt wird hier geradezu als die Voraussetzung für eine friedliche Welt angesehen.

Gibt es nicht auch eine monströse Gewaltgeschichte der Religionsverachtung, der Gewalt gegen Religion - von Robespierre angefangen bis Hitler, Stalin und Mao?

Aber ist Religionslosigkeit allein schon eine Garantie für Friedfertigkeit? In vielen Fällen ja. Aber gibt es nicht auch eine monströse Gewaltgeschichte der Religionsverachtung, der Gewalt gegen Religion - von Robespierre angefangen bis Hitler, Stalin und Mao? Auch das wird man empirisch kaum bestreiten können. Hinzu kommt: Zeigen nicht schon die genannten religionsgeographischen Zahlen über die Präsenz der Religionen weltweit: Religiöse Energien sind eine Tatsache. Sie zu unterschätzen, heißt, um mit Sigmund Freud zu reden, eine „der ältesten, stärksten und dringendsten Triebkräfte der menschlichen Kultur“ unterschätzen. Bei aller Notwendigkeit der Religionskritik als Reinigungsinstrument der Religionen ist es nach meiner Überzeugung ein Trugschluss zu meinen, durch noch mehr Laizismus und Säkularismus ließen sich die Probleme der Menschheit lösen. Das wird nicht ohne die Vertreter und Anhänger der Religionen, schon gar nicht gegen sie gehen.

Klüger sind nach meiner Erfahrung Strategien zur Selbstreinigung und inneren Erneuerung der traditionellen Religionen mit dem Ziel, sie zu gewinnen für eine Erziehung zu den Menschenrechten, zum Ernstnehmen des Pluralismus, zur Koexistenz mit Andersglaubenden und Anderslebenden aus den Quellen ihrer eigenen Religion heraus. Als ob man weltweit für Frauenrechte, Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, Klimaschutz oder eine gerechte Weltwirtschaftsordnung kämpfen könnte ohne die Einbeziehung der positiven, will sagen: spirituellen und moralischen Energien der Vertreter der Religionen oder gar gegen sie.

Andere bestreiten, dass es bei den Gewaltexzessen im Kern überhaupt um „Religion“ gehe. „Religion“ sei nur der Tarnmantel über den wahren Konflikten. Deren Ursachen seien geschichtlicher, wirtschaftlicher, sozialer, ethnischer oder auch psychischer Natur. „Religion“ sei nur das Megafon, um die seit Generationen angestauten Probleme zum Beispiel der nahöstlichen Länder unter islamischem Einfluss öffentlich hörbar zu machen. Mit radikalen Veränderungen der sozioökonomischen Grundlagen verschwände auch der Faktor Religion weitgehend.

Daran dürfte so viel richtig sein: Wer nicht in der Lage ist, hinter den ideologischen Parolen die Menschen und ihren Schrei nach Partizipation und einem besseren Leben zu sehen, hat wenig von der Wirklichkeit verstanden. Junge Menschen kommen nicht als „Islamisten“ oder Extremisten unterschiedlicher religiöser Färbung auf die Welt, sie werden dazu gemacht, nicht nur durch Verführer, sondern auch durch die Lebensbedingungen, mit denen sie aufgewachsen sind.

Kurzum: Weder eine Überwindung der Religion noch eine sozioökonomische Relativierung scheint mir die richtige Antwort auf die gegenwärtig Lage zu sein. Gewiss: die Instrumente der neuzeitlichen Religionskritik bleiben wichtig, aber als Korrektiv, nicht als Regulativ. Und unabweisbar ist auch, dass religiöse Ausdrucksformen psychologische und sozioökonomische Wurzeln haben. Beides muss in eine glaubwürdige und wirksame Gegenstrategie einfließen. Die Grundfrage lautet: Wie verhindert man als glaubender Mensch den Missbrauch von Religion zu Unfrieden und Gewalt?

Fünf Momente einer Gegenstrategie

Ich skizziere einige Momente einer Gegenstrategie

  • 1. Freilegen der Kernbotschaft der Religionen

Werte ohne Haltbarkeitsdatum müssen nicht neu erfunden werden. Normen, Gebote und Verbote sind tief in der Menschheitsgeschichte verankert. Die Tora der Juden, die Bergpredigt der Christen, der Koran der Muslime, die Bhagavadgita der Hindus, die Reden des Buddha, die Sprüche des Konfuzius und des Laotse: Sie bilden oft seit Jahrtausenden die Grundlage für Glauben und Leben, Denken und Handeln von hunderten Millionen Menschen auf diesem Globus. Menschen leben mit ihnen und sterben mit ihnen. Gibt es so etwas wie eine Kernbotschaft aller Religionen? Ich riskiere eine Formulierung: Wer als Mensch dem „Göttlichen“, dem „Heiligen“, dem „Absoluten“ die Ehre gibt, der weiß zugleich um das Maß des Menschlichen. Menschen bleiben Menschen, gerade wenn sie verblendeter Selbstüberschätzung und gewissenlosem Größenwahn entsagen und sich auf ihr Maß besinnen – in Verantwortung vor Gott und in Rücksicht auf die Mitmenschen.

In den verschiedenen Religionen gibt es dafür Schlüsselworte aus dem Reservoir lebenspraktischer Weisheit: Chinesen sprechen auf der Basis der „Lün Yü“, der „Gespräche des Konfuzius“, von „Jen“, von „Menschlichkeit“ als Mitte zwischen den Extremen. Buddhisten kennen Schlüsselworte wie: Freiwerden von allem Anhaften an Vergänglichem, Achtsamkeit allem Lebendigen gegenüber, was vieles einschließt: Schonung alles Lebendigen, Rücksicht auf Andere, Mäßigung in der Verfolgung eigener Interessen, Mitgefühl mit den Schwachen. Hindus sehen eine Verfallenheit des Menschen an die „maya“, die Kraft der Illusion und Täuschung, die Verführerin dazu, dass unsere Wahrnehmung der Menschen an der Oberfläche haften bleiben und die Wirklichkeit als gespalten erfahren wird. Stattdessen setzen sie mit Mahatma Gandhi auf „satyagraha“, „Festhalten an der Wahrheit“ oder „Kraft der Wahrheit“ und „ahimsa“, Gewaltlosigkeit aus Respekt allem Lebendigen gegenüber. Juden, Christen, Muslime sprechen nach Genesis 1,26 und Sure 2,30 vom Menschen als dem „Statthalter Gottes auf Erden“, will sagen: von seiner Treuhänderschaft über die Schöpfung und so von Schöpfungsverantwortung des Menschen als Mandatar Gottes. Das Gegenteil von rücksichtsloser Ausbeutung der Natur und maßloser Ressourcenverschleuderung.

Wir merken schon bei der ersten Konfrontation mit diesen Schlüsselbegriffen: Diese religiösen Urworte sind die Gegenworte zu maßloser Gier, zum Hasten nach immer „Mehr“, zu Maß- und Rücksichtslosigkeit. Richtig verstandene religiöse Selbst- und Rückbindung ist Größenwahn-Prophylaxe um eines inneren Gleichgewichts willen.

  • 2. Interreligiöses Lernen einüben

Religionen, ob man sie mag oder nicht, sind Faktoren der Weltpolitik - auch im 21. Jahrhundert, im Zeitalter nie gekannter Globalisierung der Märkte. Ich habe es empirisch belegt. Jetzt gilt es Konsequenzen daraus zu ziehen. Um unsere sich kommunikationstechnisch immer stärker verdichtende Welt besser zu verstehen, brauchen wir dringender denn je auf allen Seiten wechselseitige Grundkenntnisse über die Weltreligionen, ob man persönlich „gläubig“ ist oder nicht. Die Persistenz und politische Relevanz der Religionen also erhöht also die Dringlichkeit einer Erziehung zur Dialogfähigkeit und die Notwendigkeit eines wechselseitig besseren Verstehens von Menschen verschiedener Religionen im Interesse friedlicher Koexistenz. Das muss in den Bildungseinrichtungen eingeübt werden. Dazu muss auch das Schlüsselpersonal in den Religionen geschult werden. Eine interreligiöse Religionspädagogik arbeitet gegenwärtig daran und verdient alle Unterstützung. (Bahnbrechend dazu ist: Georg Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik. Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und Islam, Freiburg/Br. 2014.)

Faktisch aber haben wir es vielfach noch mit einer doppelten Verweigerung zu tun: In säkularen Milieus leben allzu viele bei uns noch mit einer „gespaltenen Globalisierung“ im Kopf. Gerne nimmt man die ökonomischen Vorteile für die eigene global verflochtene Export-Wirtschaft mit, schottet sich aber kulturell und religiös ab. Man will mit „Religion“ nichts zu tun haben und sich geistig auch nicht in Unkosten stürzen. Als ob man auf Dauer beides haben könnte: freien Welthandel und zugleich kulturellen und religiösen Protektionismus. Und in traditionellen religiösen Milieus? Da denkt man vielfach nicht daran, über Bildungsprogramme das jeweilige Wissen voneinander zu verbreiten. Die bittere Diagnose des früheren deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt kommt nicht von ungefähr und steht für die Erfahrung ungezählter Menschen. Er war selber erst durch eine Begegnung mit dem damaligen ägyptischen Staatspräsidenten Anwar as-Sadat, einem bekennenden Muslim, für das Gemeinsame der drei abrahamischen Religionen sensibilisiert worden. Einzelheiten dazu in meinem Buch „Helmut Schmidt begegnet Anwar as-Sadat. Ein Religionsgespräch auf dem Nil“ (2018):

„Viele Jahrhunderte nach Abraham wurde die Tora niedergeschrieben, weitere Jahrhunderte später das Neue Testament und noch ein halbes Jahrtausend später der Koran. In vielen Teilen bezieht sich das Neue Testament auf die Tora, und der Koran bezieht sich in vielen Teilen auf die Tora und das Neue Testament. Ich muss zugeben, dass ich in der Schule oder in der Kirche nie etwas über diese unbestreitbaren Tatsachen erfahren habe. Und ich fürchte, die meisten Christen auf der Welt und ebenso die meisten Juden und Muslime erfahren nie etwas über die gemeinsamen historischen Ursprünge unserer Religionen und über die Vielzahl der Gemeinsamkeiten und der gegenseitigen Bezüge in unseren heiligen Büchern.

Auf allen drei Seiten haben Priester und Kirchen, Mullahs und Rabbis uns Laien ein angemessenes Wissen über die anderen beiden Religionen vorenthalten. Stattdessen haben sie – auch sie natürlich fehlbare menschliche Wesen – uns nahezu häufig gelehrt, feindselig über die anderen beiden Religionen zu denken, ob wir nun als Juden, als Muslime oder als Christen aufgewachsen sind. Dies ist eine der großen Tragödien der Menschheit. Man findet sie, nebenbei gesagt, auch im Verhältnis von Christentum und Hinduismus oder Buddhismus, zwischen Islam und Hinduismus und so weiter. Da die Zahl der Menschen auf der Erde explodiert und der pro Kopf verfügbare Platz schrumpft, wird diese Haltung immer gefährlicher.“ (Rede von 1999, in: Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2012, S. 150)

  • 3. Arbeit an den eigenen Heiligen Schriften

Man kann Verführer und Ideologen nicht daran hindern, sich ihr Christentum, Judentum oder ihren Islam zurechtzuzimmern. Wohl aber kann man zu verhindern trachten, dass ihr „Fabrikat“ von Religion Allgemeingültigkeit erlangt. Man kann ihren Totalitätsanspruch entzaubern, ihre Monopolisierung brechen. Wodurch? Indem Autoritäten in diesen Religionen aufstehen und sich öffentlich äußern: Diese Form von Religion fördert nicht das Werk Gottes, sondern das des Teufels. Diese Form von Religion vertritt nicht das, was wir aus unserer großen Tradition und unser verantwortlich ausgelegten Heiligen Schrift vernehmen. Immer hat es in der Geschichte der Religionen ein Ringen um die richtige Auslegung gegeben, einen Streit der Meinungen und Interessen. Ohne sie wäre weder die Botschaft Franz von Assisis denkbar noch die Reformation Martin Luthers; ohne sie in der Welt des Islam nicht Phänomene wie Mystik oder Philosophie. Immer wieder sind Menschen in den Religionen aufgestanden und haben verurteilt, was sie an Missbrauch ihrer Religion wahrgenommen haben: Ein prophetischer Protest gegen Hass, Gewalt, Mord und Terror im Namen Gottes. Wer solches propagiert, tut das Werk des Teufels, des Widersachers Gottes.

Kurz: Nicht möglich ist eine rationale Widerlegung bestimmter Bilder einer Religion, wohl aber prophetischer Protest auf der Grundlage der Kernbotschaft, wie sie durch verantwortliche Auslegung erhoben wird. Nicht jede fanatische Gruppe, die sich ihren Islam auf eigene Faust konstruiert hat, kann im Namen „des Islam“ sprechen wollen. Das gilt auch für andere Religionen, wie Papst Franziskus in seiner Ansprache zum Weltfriedenstag 2016 erklärt hat:

„Die Kirche hat sich für die Verwirklichung gewaltfreier Strategien zur Förderung des Friedens in vielen Ländern eingesetzt und sogar die gewaltsamsten Akteure zu Anstrengungen für den Aufbau eines gerechten und dauerhaften Friedens gedrängt. Dieses Engagement für die Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt ist nicht etwa ein ausschließliches Gut der katholischen Kirche, sondern es gehört zu vielen religiösen Traditionen, für die Mitleid und Gewaltlosigkeit wesentlich sind und den Weg des Lebens weisen. Das betone ich mit Nachdruck: Keine Religion ist terroristisch. Die Gewalt ist eine Schändung des Namens Gottes. Werden wir nie müde zu wiederholen, dass der Name Gottes die Gewalt nie rechtfertigen kann. Allein der Friede ist heilig. Nur der Friede ist heilig, nicht der Krieg!".

Ich habe ich noch nie so schockiert gefühlt und mich so geschämt, während ich den Medien über die blutigen Londoner Brückenangriffe zuhörte. Behauptet wurde, es "im Namen Allahs" getan zu haben. Ich kann das nicht akzeptieren, weil das nicht mein Glaube ist.

Mustafa Ceric

Ich erinnere an eine islamische Stimme, an eine muslimischen Autorität in Europa, Mustafa Ceric, viele Jahre Großmufti von Bosnien-Herzegowina und Repräsentant der Konferenz Europäischer Muslime. In Reaktion auf die schändlichen Attentate in Manchester und London im Mai 2017 erklärte er in einer ungewöhnlich persönlichen und emotionalen Weise:

„Ich habe mich noch nie so schockiert gefühlt und mich so geschämt, während ich den Medien über die blutigen Londoner Brückenangriffe zuhörte. Behauptet wurde, es 'im Namen Allahs' getan zu haben. Ich kann das nicht akzeptieren, weil das nicht mein Glaube ist. Dies ist nicht der Allah, an den ich glaube. Mein Allah ist kein Hasser! Mein Allah ist nicht gewalttätig. Mein Glaube ist nicht das Messer! Mein Glaube ich kein Schrecken. Mein Allah ist liebend und voll der Barmherzigkeit! Mein Glaube ist gesunder Menschenverstand und ein warmes Wort. Aber wie werde ich das meinen Nachbarn in Europa erklären? Nach den Angriffen in Manchester und London werden sie keinen Willen mehr haben, mir zuzuhören. Sie kaufen mir meine Glaubensgeschichten der Liebe nicht mehr ab. Sie interessieren sich nicht mehr für die schönen Erzählungen meines Glaubens. Sie wollen wissen, was ich getan habe, um die blutige Gewalt 'im Namen Allahs' in den Straßen Europas zu stoppen. Ich habe eine Menge getan, aber es scheint, als sei das nicht genug.“

Auch auf jüdischer Seite arbeiten Ungezählte am Komplex „Gewalt im Namen Gottes“. Ich verweise auf das prophetische Zeugnis des früheren britischen Großrabbiners Jonathan Sacks von 2015 „Not in God's Name. Confronting Religious Violence“. Man liest den ersten Satz seines Buches, und ist sofort gepackt, denn es folgt eine Auslegung der Geschichte vom ersten Brudermord: Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Als Ausleger der Tora muss Rabbi Sacks (und nicht nur er) mit der Tatsache umgehen, dass schon auf den ersten Seiten der Bibel von Zorn, Eifersucht und Mord die Rede ist. Es sind erst vier Menschen auf der Welt, Adam, Eva und ihre beiden Söhne, schon liegt einer erschlagen am Boden. „Nachdem Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat“, schreibt Rabbi Sacks, „sieht er den ersten Mann und die erste Frau sein Erstes Gebot verletzen und das erste Kind begeht den ersten Mord. In kurzer Zeit ist die Erde mit Gewalt gefüllt“. Ja, Gott sieht, so wörtlich in Genesis 6, „dass auf der Erde die Bosheit der Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten des Menschen immer nur böse war. Da reute es den HERRN, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh.“ Schöpfungs-Reue Gottes - eines der unheimlichsten Motive der hebräischen Bibel. Jonathan Sacks Pointe: „When Religion turns men into murderers, God weeps“. Wenn Religion Menschen zu Mördern macht, dann weint Gott“.

Wir brauchen eine interreligiös ausgerichtete Friedenspädagogik, die auch die anthropologischen Grundfragen aufnimmt, die sich nicht auf moralische Appelle reduziert, sondern schonungslos nach der Möglichkeit von Friedenserziehung überhaupt fragt: Was ist mit dem jeden Menschen immanenten Potential von Aggression, von spalterischem Denken, von Feindbild-Produktion? Woher haben wir evolutionsgeschichtlich noch immer diese Bereitschaft, die Anderen als Feinde zu sehen, gegen die man sich abgrenzen oder die man, wenn nötig, niedermachen muss? Ist es so, wie Albert Einstein in seinem später vielzitierten Briefwechsel 1932 Sigmund Freud fragte: „Im Menschen lebt (offensichtlich) ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten“. Was sofort Einsteins Frage nach sich zog:

„Gib es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung des Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden? Ich denke dabei keineswegs nur an die sogenannten Ungebildeten. Nach meiner Lebenserfahrung ist es vielmehr gerade die sogenannte 'Intelligenz', welche den verhängnisvollen Massen-Suggestionen am leichtesten unterliegt“ (S. 20).

Die entscheidende Frage an eine interdisziplinäre und interreligiöse Friedenspädagogik lautet somit: Sind Gewaltminimierung und Friedensfähigkeit erlernbar? Sind Menschen zum Frieden erziehbar? Wenn ja, wie? Und welche Rolle kommt den Vertretern der Religionen zu? Religionen können Menschen ja noch einmal ganz anders in ihren Tiefendimensionen ansprechen: Herz und Gewissen erreichen. Aber eine Friedenspädagogik mit interreligiösen Perspektiven steckt, soweit ich sehe, im deutschsprachigen Raum noch immer in den Anfängen. Ein dringendes Desiderat interreligiöser Kooperation! (Bahnbrechend dazu ist: Karl Ernst Nipkow, Der schwierige Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart“, 2007).

  • 4. Interreligiöse Kooperationen nachhaltig institutionalisieren

„Unsere Welt braucht dringender denn je Orte des Friedens. Orte, an denen wir lernen, in unserem „einen Welthaus“ gemeinsam zu leben, wie Martin Luther King einst in Berlin sagte. Juden, Christen und Muslime haben sich deshalb in Berlin auf den Weg gemacht, für eine Verständigung unter den Religionen ein völlig neuartiges, zukunftsweisendes Sakralgebäude gemeinsam zu planen, zu bauen und mit Leben zu füllen.

„Religionen in ihrem Kult und im Austausch mit Wissenschaften, Kunst und Kultur können eine Bereicherung sein – allen Gräueltaten, die unter Berufung auf die Religionen begangen werden, ein Modell eines friedvollen Miteinanders entgegensetzend.“ Ich habe soeben aus der Selbstbeschreibung des Berliner Projektes „House of One“ zitiert, das im Juni dieses Jahres seine Grundsteinlegung erfahren hat. Und weiter heißt es:

„In Berlin wächst seit 2011 etwas weltweit Einmaliges: Juden, Christen und Muslime bauen gemeinsam ein Haus, unter dessen Dach sich eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee befinden. Ein Haus des Gebets und der interdisziplinären Lehre. Ein Haus der Begegnung, für ein Kennenlernen und den Austausch von Menschen unterschiedlicher Religionen. Ein Haus auch für die, die den Religionen fernstehen."

In diesem Zusammenhang darf ich nicht vergessen, wie sehr sich Ungezählte vor Ort oft bereits seit langem an interreligiösen Lernprogrammen beteiligen, an Kooperationsprojekten auf regionaler und lokaler Ebene bis hin zu wechselseitiger Gastfreundschaft der Gemeinden und regelmäßigen Friedensgebeten. Kurz: Wie sehr sich schon jetzt Ungezählte für Vertrauensarbeit engagieren. Ich denke an Stiftungen für interreligiöses Lernen wie das Stuttgarter Lehrhaus, an Foren für Projektarbeit wie das Abrahamische Forum in Darmstadt, an Gesellschaften für christlich-jüdische, christlich-muslimische Zusammenarbeit im ganzen deutschsprachigen Raum - um nur einige Beispiele zu nennen. Ich will damit sagen: Die interreligiöse Vertrauensarbeit, soweit ich sie in Österreich, Deutschland und der Schweiz überschaue, ist in vollem Gang. Sie hat Adressen, Internet-Auftritte, e-mail-Anschriften und Werbebroschüren. Wem es mit dieser Vertrauensarbeit ernst ist, bringe sich hier ein. Ein Alibi für „Kann man nichts machen“ hat niemand mehr.

Die Begegnung und der Dialog entwaffnen und halten die Gewalttäter auf. Denn wir wissen, dass Krieg niemals heilig ist und dass jene, die im Namen Gottes töten, weder im Namen einer Religion noch im Namen des Menschen handeln.

Weltfriedenstreffen 2017

Auf internationaler Ebene verweise ich auf die Gemeinschaft Sant' Egidio in Rom und ihre regelmäßigen Weltfriedenstreffen. Im September 2017 hatte sie zu einem solchen in Münster und Osnabrück eingeladen, zu dem 5000 Menschen aus allen Religionen gekommen sind. Ein wahrhaft ermutigendes Zeichen, „Weg des Friedens“ einzuschlagen, wie es in der Abschlusserklärung heißt: „Die Begegnung und der Dialog entwaffnen und halten die Gewalttäter auf. Denn wir wissen, dass Krieg niemals heilig ist und dass jene, die im Namen Gottes töten, weder im Namen einer Religion noch im Namen des Menschen handeln ... Wir verpflichten uns, dafür zu sorgen, dass die Ursachen vieler Konflikte beseitigt werden: die Gier nach Macht und Geld, der Waffenhandel, der Fanatismus und Nationalismus.“

Und um noch einmal von der Basis an die Spitze zu verweisen: Ein weiteres Zeichen ist das Dokument über die „Brüderlichkeit der Menschen“, das der Papst am 4. Februar 2019 zusammen mit dem Groß-Imam der Al-Azhar-Universität zu Kairo, der höchsten Autorität im sunnitischen Islam, Ahmed Al-Tayyeb, unterzeichnet und während seiner Reise in die Emirate am Golf veröffentlicht hat. Es ist zu hoffen, dass dieses kostbare islamisch-christliche Dokument der höchsten Autoritäten nicht wie andere im Schaufenster der Weltpresse verbleibt, sondern bis auf die Universitäten, Schulen und Kirchen- und Moscheegemeinden hinunter verbreitet und bei der Unterweisung der Gläubigen eingesetzt wird. Statt „schubladisieren“ öffentlich propagieren!

  • 5. Die spirituelle Dimension einbeziehen

Praktische Projekte und lernintensive Institutionen sind wichtig, bleiben aber nur dann keine flüchtigen Erscheinungen, wenn das Engagement der Menschen spirituell verankert ist. Wer sich mittel- und langfristig für eine Verständigung von Menschen verschiedener Religionen einsetzt, der wird früher oder später mit der Frage konfrontiert: Wie durchhalten, wenn man sieht, wie anstrengend die Arbeit ist, wie klein oft der Erfolg, wie vergeblich die Mühe. Was lässt einen auf Dauer nicht zynisch abwinken, wenn man erlebt, wie oft mit Religion Schindluder getrieben wird.

Der spirituellen Dimension in allen großen Religionen kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Dazu gehören Mediationen allein oder in Gruppen, Friedensgebete nebeneinander und füreinander, gemeinsames Schweigen in der Hingabe an das Göttliche als Kraftquelle, um wieder aufeinander achtsam zu werden. Es gehört zu den Ur-Erfahrungen der Religionen: Wer sich dem „Ewigen“ in Gebet oder Schweigen zu öffnen weiß, der lernt die Kunst loszulassen, was einem vertraut ist und preiszugeben, was zu festen Besitzständen zu gehören scheint. Der lernt, alles Irdische und Menschengemachte in Synagoge, Kirche und Umma immer wieder neu vor dem unbegreiflichen, unverfügbaren Geheimnis des Göttlichen zu relativieren.

Für mich, der ich von den biblisch-koranischen Abraham-Überlieferungen eine Theologie der abrahamischen Ökumene entworfen habe, war es ergreifend zu sehen, dass der Papst während seiner Reise in den Irak am 6. März 2021 auch in die Ebene von Ur gefahren ist, dem biblischen Buch Genesis Kap. 11 zufolge der legendäre Herkunftsort Abrahams, des Ur-Mannes, wie Thomas Mann ihn in seinem „Josephs“-Roman nannte. Die Luftbilder von der Landschaft waren tief berührend. Die Leere der Wüste, buchstäblich eine Ur-Landschaft. Der Ort – nichts als ein paar ausgegrabene Spuren von Leben. Aus dieser Landschaft stammte Abraham - und er fing an mit nichts als Gottvertrauen auf seinem Weg, mit leeren Händen angesichts ausbleibender Verheißungen, mit Durchhaltevermögen auf seinem Weg.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: vom konfrontativen oder ignorierenden hin zu einem vernetzten Denken. Vom Gegeneinander und Ohneeinander zu einem Miteinander ohne alle Verwischung und Vermischung.

In diese Ur-Landschaft setzte der Papst seine Meditation über Abraham/Ibrahim und ein Friedensgebet der „Kinder Abrahams“. Es war, als wollte er nach Jahrtausenden, beladen mit der Last der Geschichte, mit all den Konflikten und Kämpfen, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Religionen eingegraben haben, wieder neu anfangen - bei Abraham, dem Urvater, der von Gott den Ruf empfing: „Zieh weg, aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde... Und Abraham zog“ (Gen 12, 1.4). „Wir danken dir, Gott“, heißt es in dem Gebet, das in die Leere der Wüste und über die Weltmedien in die Herzen der Zuschauer/Innen gesprochen wurde, „für das Beispiel an Mut, Durchhaltevermögen, Seelenstärke, Großzügigkeit und Gastfreundschaft, das uns unser gemeinsamer Vater im Glauben gegeben hat.“ Das war, an diesen Ort der Ur-Anfänge gesprochen, ergreifend und inspirierend zugleich. Aus dem Ursprung heraus im Interesse des Friedens das Gemeinsame zu suchen, das war die Botschaft. Unsere Welt hat nichts dringender nötig als das.

Und ich frage zum Schluss: Was brauchen wir dringender denn je im Raum der Religionen? Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: vom konfrontativen oder ignorierenden hin zu einem vernetzten Denken. Vom Gegeneinander und Ohneeinander zu einem Miteinander ohne alle Verwischung und Vermischung. Von einer Unkultur ständiger Abgrenzung oder gleichgültigen Nebeneinanders zu einer Kultur der Achtsamkeit für die Präsenz des je Andersglaubenden neben mir und vor Gott. Und aus einer Kultur der Achtsamkeit folgt eine Praxis wechselseitiger Partizipation und Gastfreundschaft. Eine Kultur des Vertrauens. Dann können wir unser „Ur“ finden: Immer wieder aus Vertrauen auf den je größeren Gott Vertrauen unter den je Andersglaubenden stiften. Und der ANDERSglaubende ist immer auch der AndersGLAUBENDE.

Bei einem der größten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts, Abraham Joshua Heschel, habe ich ein Wort gefunden, das mir zum Leitwort meiner Arbeit geworden ist: „Keine Religion ist eine Insel. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist auf Seiten eines von uns berührt den Glauben aller. Ansichten einer Gemeinde haben Folgen für andere Gemeinden. Religiöser Isolationismus ist heute eine Illusion.“ Und weil das so ist, gilt auch für die Vertreter anderer Religionen, trotz aller Gewaltverbrechen im Namen Gottes, das wunderbare Wort, das Papst Franziskus nicht müde wird, uns immer wieder einzuschärfen: „Nur der Frieden ist heilig, nicht der Krieg!“

Ist dem noch etwas hinzuzufügen? Ich glaube nicht. Nur das eine noch: Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Der Autor lehrte von 1995-2013 Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Fakultät für Kath. Theologie der Universität Tübingen.

Zugleich war er Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung der Universität Tübingen. Gegenwärtig ist er Mitglied im Stiftungsrat zur Vergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und Präsident der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft.

Literatur des Verfassers:

Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs (2011).

Theodor Heuss, die Schoah, das Judentum, Israel. Ein Versuch (2013. Neuausgabe 2020).

Martin Buber – seine Herausforderung an das Christentum (2015).

Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch (2017).

Im Fluss der Dinge. Hermann Hesse und Bertolt Brecht im Dialog mit Buddha, Laotse und Zen (2018).

„Dass wir alle Kinder Abrahams sind“. Helmut Schmidt begegnet Anwar as-Sadat. Ein Religionsgespräch auf dem Nil (2018).

Goethe und der Koran, mit Kalligraphien von Shahid Alam, Stuttgart-Ostfildern 2021.

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