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Hochachtung für den Islam

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Der historische Zufall wollte es, daß die dramatischen Ereignisse rund um die islamische Jahrhundertwende mit der Eröffnung der Wiener Moschee zusammenfielen. Die Notwendigkeit des Dialogs mit dem Islam ist damit auch den Christen hierzulande hautnäher bewußt geworden.

Wenn dieser Dialog der gegenseitigen Bereicherung und der Abklärung von Positionen dienen soll, dann müssen sich freilich gerade die Christen Mitteleuropas, denen der Dünkel des 19. Jahrhunderts, verstärkt durch Karl-May-Romanti- zismus, die islamische Welt zum Sinnbild des geheim- nisvoll-„fremdartigen“ umfunktioniert hat, etliche Faktoren vor Augen halten:

Der Islam ist nichts absolut „Fremdes“, Allah ist kein anderer als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (auch die Christen arabischer Zunge beten zu Allah). So formulierte das Zweite Vatikanische Konzil:

„Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Musiimin, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat.“

Der Islam ist nicht die ge-

heimnisvolle Religion aus der Wüste, sondern er entstand genauso aus der spätantiken Welt (wenn auch aus einer ihrer Randzonen) wie das Christentum, ja ohne Christentum ist er nicht denkbar. Die Unterschiede der beiden Religionen sind kleiner - und doch wesentlicher - als sich der Durchschnittschrist träumen läßt. (Der Islam lehnt die Menschwerdung Gottes und damit auch die Erlösung in christlichem Sinn ab.)

Überspitzt ausgedrückt, könnte man sagen, daß der Islam den Bewußtseinsstand eines stark arianisch geprägten, in Jesus nur den Menschen sehenden, Christentums reflektiert, sich gleichzeitig aber auch für dessen unüberbietbare Vollendung hält, was den Dialog nicht gerade erleichtert.

Zudem: Die meisten heute lebenden Musiimin (außer denen im malayischen, indischen und innerafrikanischen Raum) sind die Nachkommen von Christen. Auch wenn’s dem christlichen Durchschnittsbewußtsein entfallen ist, waren Syrien, Mesopotamien, Kleinasien, Westpersien, Ägypten, Nordafrika einst die Hochburgen des Christentums und blieben es noch lange nach der islamischen Eroberung, weil diese Eroberung zunächst nur eine schmale Oberschicht betraf und die vielbeschworene islamische Toleranz damals noch funktionierte.

Daher sind in der Volksreligion die Unterschiede oft verschliffen bis zur Unkenntlichkeit (siehe die muslimischen Pilgerscharen zum Haus Mariens in Ephesos).

Ob das den Dialog erleichtert oder erschwert, mag zunächst einmal dahingestellt bleiben. Zweifellos erschwert den Dialog aber die Tatsache, daß sich der Islam von Anfang ebenso als religiöses wie als politisches Programm verstand. Die behutsame Trennung von Staat und Moschee, wie sie die eine oder andere Denkrichtung der islamischen Erneuerung am Ende des 19. Jahrhunderts vorsichtig anzupeilen begann, ist heute wieder ad acta gelegt, die Fundamentalisten und Integralisten halten ihre Stunde für gekommen.

In mehrfacher Ausfertigung - von der saudischen Theokratie über die Muslimbrüderschaft und die verschiedenen „islamischen Sozialismen“ bis zu den Ghada- fis und Chomeinis - gibt es einen Panislamismus, der recht offen von Weltherrschaft träumt. Und dem öl zuliebe wird über die Situation der Menschenrechte in den islamischen Ländern, namentlich was die Lage der religiösen Minderheiten angeht, der Mantel unbarmherzigen Schweigens gebreitet.

Trotzdem gehören die christliche und islamische Welt - zusammen mit der jüdischen Welt - im Bekenntnis zu dem einen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs untrennbar zusammen. Ein nüchtern geführter Dialog mit den echten religiösen Kräften des Islams könnte eine ungeahnte gegenseitige Bereicherung bis in die Herzmitte der Gottes- und Menschenliebe hinein zur Folge haben.

Es ist gerade ein halbes Jahrhundert her, daß ich in Wien und dann in sechs anderen mitteleuropäischen Städten sogenannte Jugendberatungsstellen gegründet habe: Beratungsstellen für junge Menschen, die sich in seelischer Not befanden und sich nun unentgeltlich an ein paar Dutzend Berater wenden konnten. Es stellte sich heraus, daß die Tausenden von Ratsuchenden die Beratungsstellen am häufigsten wegen sexueller Fragen aufgesucht hatten.

Und wie sieht es demgegenüber heute aus, ein halbes Jahrhundert später? Erst unlängst wurde mir von einem Wiener Fachlehrer eine Statistik vorgelegt. Er hatte seine Schüler dazu animiert, schriftlich Fragen zu stellen, und zwar ganz anonym. Sexuelle Fragen standen an zweiter Stelle, das Thema Rauschgift kam an dritter Stelle, und an allererster Stelle rangierte Selbstmord! Und dabei waren die Schüler 14 bis 15 Jahre alt…

Nach dieser Gegenüberstellung wird man vielleicht verstehen können, was ich immer wieder behaupte, nämlich, daß es heute im Gegensatz zu den Zeiten von Sigmund Freud längst nicht mehr sexuelle Fragen sind, die den Menschen sosehr bedrängen, sondern existentielle Fragen.

Im Gegensatz zu den Zeiten von Alfred Adler kommen die Patienten heute auch nicht mit ihren Minderwertigkeitsgefühlen zu uns'Psychiatern, vielmehr mit eirffem Sinnlosigkeitsgefühl, mit einem Leeregefühl, mit dem, was ich das „existentielle Vakuum“ nenne.

Kratochvil, Vymetal und Kohler haben darauf hingewiesen, daß sich das Sinnlosigkeitsgefühl keineswegs auf kapitalistische Länder beschränkt, vielmehr auch in kommunistischen Staaten bemerkbar macht, in die es „ohne Visum“ eingedrungen sei. Auch Adam Schaff, der in seinem Buch „Entfremdung als soziales Phänomen“ dem Thema unter dem Titel „Das existentielle Vakuum“ ein eigenes Kapitel einräumt, ist der Ansicht, „das Gefühl des Menschen, den Sinn seines Lebens verloren zu haben“, sei „eine Erscheinung, die vor keinem bestimmten System, vor keiner bestimmten Gesellschaftsklasse haltmacht“. Und warnend meint er: „Wer das nicht zur Kenntnis nehmen will, der versperrt sich auch die Möglichkeit, die Ursachen solcher sozialen Erscheinungen wie Jugendkriminalität, Alkoholismus, Rauschgift usw. zu erkennen, wenn diese gesellschaftlichen Charakter annehmen.“

Am sinnlosen Leben zu leiden, heißt noch lange nicht, krank zu sein. Das Leiden am sinnlosen Leben muß nicht Ausdruck einerseelischen Krankheit, sondern kann der Ausdruck geistiger Mündigkeit sein. Denh nach dem Sinn des Lebens zu fragen, gehört zum Menschsein dazu. Von Frisch hat das Leben der Bienen ganz genau studiert, aber ich bin überzeugt, auf eine Biene, die sich gefragt hätte, ob das Leben einen Sinn hat, ist er nicht gestoßen.

Aber der Mensch, der stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens, mehr als das, er stellt die Existenz eines solchen Sinnes sogar in Frage. Im besonderen ist es der junge Mensch, der es sich versagt, eine Antwort auf die Sinnfrage einfach aus den Händen der Tradition entgegenzunehmen, vielmehr es wagt, sich selber und selbständig auf die Suche nach Sinn zu begeben.

Nur wäre es zu wünschen, daß er diesen Mut auch mit Geduld paart, mit einer Geduld, die ihn instand setzt, zu warten, bis einmal auch ihm so etwas wie ein Lebenssinn dämmert, und nicht aus der momentanen Emotion heraus das Leben wegzuwerfen.

Und daß es im besonderen der junge Mensch ist, der in dieser Hinsicht bedroht und gefährdet ist, geht nicht zuletzt aus einer Dissertation

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