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Wir leben am Vorabend

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Wladimir Maximow wurde 1932 als Sohn eines Arbeiters in Moskau geboren. Mit zwölf Jahren verließ er sein Elternhaus und verbrachte seine Jugend in Gewerbeschulen, Erziehungsheimen und Anstalten für minderjährige Kriminelle. Mit achtzehn Jahren veröffentlichte er als Gelegenheitsarbeiter auf einer Kolchose zum ersten Mal Gedichte. Ende der fünfziger Jahre folgten die ersten Erzählungen, 1972 ersdhien sein Roman „Die sieben Tage der Schöpfung“ in deutscher Sprache, dessen Herausgabe in der UdSSR untersagt wurde. Überraschend konnte er Anfang März 1974 einer Einladung nach Frankreich folgen und mit seiner Frau die Sowjetunion verlassen. Ob er im Ausland bleiben wird, steht noch nicht fest. Vor kurzem erschien in deutscher Übersetzung sein zweiter großer Roman „Die Quarantäne“ (Scherz- Verlag, Bern—München und in London, in freier Folge und in russischer Sprache, die Zeitschrift „Kontinent“, deren geschäftsführender Redakteur Maximbw ist (Deutsche Ausgabe bei Ullstein G. m. b. H., Berlin).

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Wladimir Maximow wurde 1932 als Sohn eines Arbeiters in Moskau geboren. Mit zwölf Jahren verließ er sein Elternhaus und verbrachte seine Jugend in Gewerbeschulen, Erziehungsheimen und Anstalten für minderjährige Kriminelle. Mit achtzehn Jahren veröffentlichte er als Gelegenheitsarbeiter auf einer Kolchose zum ersten Mal Gedichte. Ende der fünfziger Jahre folgten die ersten Erzählungen, 1972 ersdhien sein Roman „Die sieben Tage der Schöpfung“ in deutscher Sprache, dessen Herausgabe in der UdSSR untersagt wurde. Überraschend konnte er Anfang März 1974 einer Einladung nach Frankreich folgen und mit seiner Frau die Sowjetunion verlassen. Ob er im Ausland bleiben wird, steht noch nicht fest. Vor kurzem erschien in deutscher Übersetzung sein zweiter großer Roman „Die Quarantäne“ (Scherz- Verlag, Bern—München und in London, in freier Folge und in russischer Sprache, die Zeitschrift „Kontinent“, deren geschäftsführender Redakteur Maximbw ist (Deutsche Ausgabe bei Ullstein G. m. b. H., Berlin).

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FRAGE: Wer Ihre „Sieben Tage der Schöpfung“ oder die „Quarantäne“ liest, muß erkennen, daß der Autor ein gläubiger Mensch ist. Wie bestimmen Sie selbst Ihren Glauben und welche Bedeutung messen Sie ihm für Ihr künstlerisches Schaffen bei?

MAXIMOW: Das Wort „Glaube“ spricht für sich selbst, und ich habe dem nichts hinzuzufügen. Sprechen Sie jedoch den dogmatischen Aspekt an, so bekenne ich mich zum orthodoxen Christentum. Dieser Glaube wappnet mich mit dem Kriterium für das Wahre und Schöne, er setzt meinem Schaffen seine absoluten Ziele, bestimmt seine Aufgaben und Mittel. Bemerkt sei, daß sich in unserer düsteren Zeit die hinterlistige Tendenz breittut, Glauben mit ehrgeizigem politischem Fanatismus zu verwechseln. Eine solche zielbewußte Begriffsverdrehung wirkt sich allgemein verheerend aus, besonders aber für einen Schriftsteller.

FRAGE: Sind Sie von klein auf im Glauben erzogen worden, oder haben Sie erst bestimmte Lebenserfahrungen zum Glauben geführt?

MAXIMOW: Eher wohl das letztere. Meine Eltern waren naive Atheisten der 1920er Jahre, verführt durch die politische Willkür, die sich vor ihren Augen entfaltete, und die sie als Freiheit empfanden. Verständlicherweise konnten sie bei mir kein religiöses Gefühl wecken. Doch erweist sich die Versuchung des Hochmuts machtlos vor der Größe der Erlösung. Wie junges Grün sich durch eine Asphaltdecke Bahn bricht, so durchbricht auch die frohe Botschaft im Menschen die ihn bedrückenden zeitbedingten Schichtungen. Auch in mir ist sie zum Durchbruch gelangt und hat alles, was mich umgibt, mit dem unvergänglichen Licht der Erwartung und der Hoffnung erleuchtet.

FRAGE: In den „Sieben Tagen der Schöpfung“ zeigen Sie Ihrem Leser eine ganze Reihe junger Menschen aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft, die zum Glauben gelangen. Wie erklären Sie es, daß so etwas in einem Lande möglich ist, das vom militanten Atheismus beherrscht wird?

MAXIMOW: In unserem tragischen Zeitalter hat es mehr als einmal Stimmen gegeben, die die Gottverlassenheit unserer Welt verkündeten. Allzu vieles schien zunächst solche Niedergeschlagenheit zu recht- fertigen: die politischen Umwälzungen zu Beginn des Jahrhunderts, dann — Gaskammern im ureigenen Herzen Europas, Millionen Arbeitssklaven in grauer Häfltingskluft vom Weißmeerkanal bis zur Kolyma, die Verwahrlosung von Kirchen und heiligen Stätten. Dieses scheinbare Erlöschen des Lichts verdeckte für eine gewisse Zeit den Kleingläubigen die Perspektive und unterwarf Kleinmütige schweren Versuchungen. Doch jene mit sehendem Herzen wußten, daß all das nur eine Prüfung war, die man durchmachen mußte, um sich künftig niemals mehr auf die vermeintlich leichten Pfade des Egoismus und des Unglaubens locken zu lassen. Das wußten sie, und sie trugen dieses Kreuz in Demut durch Schimpf und Erschießung, durch Gefängnis und Lager, durch Verrat und Lästerung. Das Licht unserer Glaubensmärtyrer wird niemals erlöschen. — In der letzten Zeit sind wir dankbare Zeugen der Wiedergeburt des religiösen

Bewußtseins unseres Volkes geworden, das diese Welle vom Osten des Kontinents Europa in Bewegung gekommen ist. Dies hat in einer seiner letzten Aussagen vor seinem Tode auch der große französische Schriftsteller Franęois Mauriac hervorgehoben. Der wiedergeborene Glaube einer neuen Generation wird die Welt vom Unrat der Bosheit und der Gewinnsucht heilen. Die geistige Erneuerung steht bereits an unserer Schwelle. Wir leben am Vorabend. Am Vorabend!

FRAGE: Ist das neuerwachte Interesse für religiöse Dinge in manchen Fällen nicht darauf zurückzuführen, daß man die Religion als eine Form des Protests gegen die bestehende politische Ordnung ansieht? Und wie kann man bei einer Kirche geistigen Beistand suchen, deren offizielle Häupter die Politik der kirchenfeindlichen Staatsmacht voll und ganz unterstützen?

MAXIMOW: Den ersten Teil Ihrer Frage beantwortet das Neue Testament klar und eindeutig: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“. Die Religion hat niemals ihr Ziel darin gesehen, ge gen den Staat anzukämpfen. Jedoch unterliegen konkrete Handlungen konkreter Personen, die die staatliche Macht ausüben, moralischer Beurteilung. Wenn diese Handlungen Gottes Geboten widersprechen, so hat die Kirche nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ihre Stellungnahme abzugeben. — Hieran knüpft sich der zweite Teil Ihrer Frage. Bei all ihrem Konformismus sind aber unsere Hierarchen, die ja gewöhnliche sündige Menschen sind, nicht in der Lage, durch ihre geistige Unzulänglichkeit das Licht des Himmels zu verdecken und jenen vorzuenthalten, die zum Glauben finden. Was wäre das wohl für ein Glaube, wenn er an der sündhaften Geschäftigkeit einiger Hierarchen scheitern würde? Das Christentum ist ohne Zweifel personalistisch, und dies bedeutet, daß jeder selbst Verantwortung trägt Mögen jene, die sich vom „Kaiser“ haben verführen lassen, selbst Rede und Antwort stehen vor Gott für ihren Sündenfall. Wir können nur für sie beten. Aber die russische Kirche hat heute auch eine Vielzahl ganz anderer Geistlicher vorzuweisen, die ihr durch ihre Opferfreudigkeit und ihren Mut zu Ehre und Ruhm gereichen. Einen von ihnen, Erzbischof Hermogen, der zwangsweise im Kloster Shirowizy in Weißrußland festgehalten wird, kennt und achtet unser ganzes Kirchenvolk. Keine irdische Finsternis ist imstande, den Durchbruch des Göttlichen aufzuhalten.

FRAGE: Gibt es Kriterien, die ein Urteil über das Ausmaß der geistigen Erneuerungsbewegung in Rußland ermöglichen würden, und weshalb wollen Sie in dieser Bewegung eine Garantie für die Zukunft Ihres Volkes sehen?

MAXIMOW: Von der Intensität und vom Ausmaß der geistigen Emeue- rungsbewegung legt indirekt die präzendenzlose Verstärkung der antireligiösen Propaganda in der letzten Zeit Zeugnis ab, direkt aber — die Verfolgungen der Gläubigen. Eine Aufzählung von Tatsachen würde hier zuviel Zeit in Anspruch nehmen. Daher empfehle ich es Ihnen, das bestens argumentierte und von Tatsachenmaterial angefüllte Buch des korrespondierenden Mitglieds der Akademie der Wissenschaften und Lenin-Preisträgers Igor Schafarewitsch zu lesen, das unlängst in Paris erschienen ist. Ich habe keine Möglichkeit, über die Situation bei den anderen unter den Völkern unserem Landes verbreiteten Konfessionen eingehend zu urteilen, doch was das Christentum betrifft, so steigern sich die Verfolgungen langsam, aber sicher, und nähern sich jenen der zwanziger Jahre, die unserem Volk in solch bitterer Erinnerung geblieben sind. Der letzte Teil Ihrer Frage kann bei mir, als einem orthodoxen Christen, nur die eine Antwort wecken: Einen anderen Weg kann es nicht geben!

FRAGE: In welchem Umfang lassen die Behörden religiöses Leben zu? Wo liegt die Grenze zwischen dem, was sie zu tolerieren bereit sind, und dem, was verfolgt und unterdrückt wird?

MAXIMOW: Religiöse Handlungen und eine Predigt der Religion dürfen nach geltendem Recht nur innerhalb der Mauern der von den Staatskomitees für KuLturangele- genheiten zugelassenen Kirchen erfolgen. Die Personalien aller Personen, die kirchliche Riten in Anspruch nehmen (Taufen, Trauungen, Bestattungen), werden in obligatorischer Weise registriert, was für die Betreffenden unausbleibliche gesellschaftliche Folgen nach sich zieht.

FRAGE: Gibt es die sogenannte „Katakombenkirche“, deren Bestehen nicht nur von der kommunistischen Propaganda, sondern sogar von manchen christlichen Führern im Westen in Abrede gestellt wird?

MAXIMOW: Sowohl die Katakombenkirche, die dem Moskauer Patriarchat Gehorsam verweigert und ihre Gottesdienste im Untergrund abhält, als auch ihre Opfer und Märtyrer werden eindeutig genug in den im Westen verlegten Büchern von Andrej Sinjawskij, Anatolij Martschenko, Eduard Kusnezow und Anatolij Knasnow-Levitin beschrieben. Daher ist die Einstellung des Weltrates der Kirchen in Genf, der all das zu verschweigen sucht, im besten Falle unverständlich, im schlimmsten Falle — fatal. Doch gibt es die Katakombenkirche nicht nur im Untergrund. Jeder Priester, der täglich seine Mission im Einklang mit den Geboten erfüllt, hat bereits an der wahren orthodoxen Kirche teil. Jeder Christenmensch, der nach den gleichen Geboten lebt, bekennt sich damit zum wahren orthodoxen Glauben. Im heutigen Rußland ist die Katakombenkirche geistig geeint, nicht organisationsmäßig. Darin liegt ihre Kraft und die Sicherung ihres Bestehens auch in der Zukunft.

FRAGE: Wären Christen im

Westen in der Lage, die Prozesse geistiger Erneuerung in Rußland zu fördern, oder zumindest die russischen Christen vor Verfolgungen zu schützen?

MAXIMOW: Selbstverständlich.

Leider wird in dieser Beziehung jedoch äußerst wenig getan. Besonders passiv verhalten sich die offiziellen kirchlichen Stellen. Mehr noch — immer öfter wird man Zeuge dessen, daß Persönlichkeiten, deren Ämter und hierarchische Würden sie verpflichten, als erste die Stimme des Protestes zu erheben, mit Begeisterung den Verfolgern unserer Christen in die Arme sinken.

FRAGE: Für die russischen

Christen ist wohl das Problem der christlichen Erziehung ihrer Kinder am schwersten zu lösen. Womit könnte der Westen da behilflich sein?

MAXIMOW: Das ist eine logische Weiterführung der vorangehenden Frage. Die Antwort wird dieselbe sein: alle Kräfte einigen und im Kampf für die Wiederherstellung der Gewissensfreiheit einsetzen.

FRAGE: Wie schätzen Sie die Möglichkeiten des freien Teils der Russischen Kirche im Ausland ein? Wird es ihr möglich sein, fruchtbringend an den innerrussischen Prozessen kirchlicher Wiedergeburt teilzunehmen?

MAXIMOW: Selbstverständlich. Sie nimmt bereits an diesen Prozessen teil. Mit Wort und Tat.

FRAGE: Hatten Sie es für richtig, daß die freie Auslandskirche unter den gegenwärtigen Verhältnissen ihre tatsächliche Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat weiter aufrecht erhält?

MAXIMOW: Ich kann schwer darüber urteilen. Soweit ich es jedoch übersehe, ist das Bestehen einer autonomen russischen Auslandskirche angesichts der totalen Verfolgung des Christentums in unserem Lande nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Notwen- digkeit. Der freie Teil der russischen Kirche im Ausland ist das wahre Bindeglied zwischen den Christen des Westens und des Ostens.

FRAGE: Ihr persönliches Verhältnis zu Gott?

MAXIMOW: In meinem alltäglichen Leben bemühe ich mich, dem ewig lebendigen Vermächtnis des heiligen Ephrem des Syrers zu folgen:

„Rufe den Herrn nicht um Gerechtigkeit an. Wäre er nur gerecht, so wärst du bereits deiner Strafe anheimgefallen. — Amen“.

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