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Gottes Uhren gehen anders

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Es zählt zu den Paradoxen der Weltgeschichte, daß die beiden blutigsten Gestalten unseres bisherigen Jahrhunderts die Retter der russisch-orthodoxen Kirche wurden: Hitler und Stalin. Natürlich taten sie dies unfreiwillig, aber die von ihnen entfesselten Kräfte bewirkten neben den bekannten Katastrophen nachweisbar auch das Ausbleiben der totalen Vernichtung der Kirche in der UdSSR. Die weithin überraschende Wendung trat ein, als der Moskauer Metropolit Sergej 1941 das gläubige Volk zur Verteidigung des Vaterlandes gegen den Einmarsch der deutschen Truppen aufrief. Stalin, bis zu diesem Zeitpunkt schärfster Feind der Kirche, stellte sofort die atheistische Propaganda ein, der Rundfunk appellierte an die „gottesfürchti-gen Einwohner“ und schleuderte dem einfallenden Heer die Anklage entgegen, daß es „die Existenz des Christentums selber bedrohe und den Herrn Jesus Christus zu stürzen versuche, um statt dessen Alfred Rosenbergs .Mythos des 20. Jahrhunderts' einzuführen.“

Der Metropolit ließ diesem Aufruf sehr bald konkrete Beweise folgen und sammelte aus Spenden die gewaltige Summe von 300 Millionen Rubel für den Verteidigungsfonds. Eine eigene Panzerkolonne wurde aufgestellt, und Stalin empfing offiziell die hohen kirchlichen Würdenträger. Nach Beendigung des Krieges nahmen die Sympathien der Regierung zur Kirche merkbar ab, und die atheistische Propaganda wurde wieder mit voller Intensität aufgenommen. Allerdings konnte man nicht gut auch die alten Gewaltmaßnahmen unverändert reaktivieren, nicht weitere Gotteshäuser kurzerhand schließen, mit einem Wort, der Zustand von einst konnte in der damaligen Radikalität nicht mehr wiederhergestellt werden. Die Kirche hatte den Höhepunkt der Gefahr hinter sich.

Nicht mehr laut - aber leise

Während des letzten Jahrzehnts wurden sogar von den unzähligen geschlossenen Kirchen und Klöstern einige wenige in restauriertem Zustand der ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben, genauer gesagt, die enteigneten, nun dem Staat gehörenden Gebäude wurden der Priesterschaft kostenlos „verpachtet“. Darunter befindet sich auch das berühmteste Heiligtum Rußlands, das Kloster des Heiligen Sergius in Sagorsk bei Moskau. Wie mir in Gesprächen mit hohen Geistlichen mitgeteilt wurde, gebe es in der UdSSR heute 20.000 geöffnete Kirchen und 30.000 Priester. Aus den fünf regulären Priesterseminaren kommen jährlich ganze 60 Geistliche, doch haben nicht alle orthodoxen Priester diese Seminare besucht: Es dürften also im Jahr doch etwas mehr Priester geweiht werden. Eine genaue Gesamtziffer ist nicht zu erfahren. Denkt man dabei an die Einwohnerzahl der UdSSR, die über 208 Millionen beträgt, dann werden die Proportionen erkennbar. Daß in den neugegründeten Städten, in den neuen Stadtvierteln, keine Kirchen errichtet werden, versteht sich von selbst.

Die Partei geht heute nicht mehr mit Brutalität der Zwischenkriegszeit gegen die Priesterschaft und die Gläubigen vor, sondern begnügt sich mit publizistischen Angriffen in der Form atheistischer Werbung und mit stillem, aber nachdrücklichem Boykott: „Wer in die Kirche geht, kann die Jugend nicht erziehen, kann keine leitende Stelle ausfüllen“ und ähnliches. Wer also an der Messe teilnimmt, kommt bei seiner Karriere unweigerlich in Schwierigkeiten. Die Regierung, die den Metropoliten von Moskau wegen seiner „Verdienste für den Frieden“ zum „Helden der Arbeit“ ernannt hat, die bei großen Empfängen fallweise geistliche Würdenträger hinzuzieht, ist in langsamere Gangart gefallen. Sie hat nicht an Zielstrebigkeit eingebüßt, aber mehr Geduld gewonnen. Jetzt schon prangt an den Türen der überwiegenden Mehrzahl kunsthistorisch wichtiger Kirchen die Aufschrift „Museum“. Andere wurden in Fabriken und Wohnhäuser umgewandelt oder niedergerissen. Die Religiosität wird, so meint man in den Parteibüros,

langsam aus dem Bewußtsein der Bevölkerung verschwinden. Und dabei verläßt man sich auf die Jugend und die Wissenschaft.

Als ich zur Osternacht das Kloster des Heiligen Sergius, vierzig Kilometer außerhalb von Moskau, besuchte, waren dort 23.000 Gläubige aus fern und nah zusammengeströmt. In den größten der sich in dem von hohen Mauern umschlossenen heiligen Bezirk befindlichen sechzehn Kirchen standen die Menschen dicht gedrängt schon stundenlang vor Beginn der Zeremonie, die selbst fünf Stunden dauerte, um überhaupt teilnehmen zu können. Und es waren mindestens ebenso viele junge Menschen wie alte. Allerdings sah man wenige Intellektuelle, die einfache Bevölkerung überwog bei weitem. Schon in Moskau, wo zur Osternacht die Kirchen ebenfalls überfüllt sind, begegnete man auf den Straßen erstaunlich vielen Menschen, die den in ein Tuch gewickelten Osterkuchen in der Hand trugen, um ihn in der Kirche weihen zu lassen. Aber auch an gewöhnlichen Sonntagen findet man die Kirchen voll.

Der Sonntag fand am Dienstag statt

Die größte Überraschung erlebte ich in Leningrad unter sehr charakteristischen Umständen. Auf „allgemeinen Wunsch der arbeitenden Bevölkerung“, wie es schön formuliert hieß, hatte man den Sonntag auf Dienstag verlegt. Das Programm des Dienstags fand am Sonntag statt, die Arbeitswoche

verlief also Samstag, Dienstag, Montag, Sonntag, weil man am Mittwoch dann den 1. Mai feierte und einen freien Tag zur Vorbereitung brauchte.

Nun kann wohl eine Fabrik, nicht aber die Kirche die Tage umstellen, und ich betrat voll banger Erwartung an dem zum Dienstag verwandelten Sonntag die Nikolaj-Kathedrale, die Kirche des Leningrader Metropoliten. Aber die Menschen standen dort dicht Kopf an Kopf gedrängt, so daß man kaum Platz fand — um 10 Uhr vormittags, mitten in der Arbeitszeit! Und auch der herrlich singende Laienchor klang keineswegs vermindert. Wie waren die Menschen von der Arbeit losgekommen? Irgendwie hatte man es sich „gerichtet“, auf jenen unendlichen Schleichwegen, die von russischen

Augen, geübt in jahrhundertealte Tradition furchtbarer Bedrückung immer wieder gefunden werden.

Der Gottesdienst in den großei russischen Kathedralen ist ein unver geßliches Erlebnis. Die dröhnendei Bässe und engelhaften weiblicher Soprane des Chors, der meist unte; dem Ansatz der Kuppelwölbung, alsc hoch über den Gläubigen, aufgestell ist, klingen wie aus einer anderer Welt. Die Akustik der orthodoxer Kuppelbauten ist nicht zu beschreiben denn der Gesang scheint aus der Mauern zu kommen, die ihre Konsistenz verloren haben. Kein Instrumeni wird hörbar, es gibt auch keine Orge1 in der orthodoxen Messe, kaum auch gesprochenen Text. Fast immer wirc gesungen, vom Chor, vom Diakon vom Priester, der die Messe zelebriert und von der ganzen Gemeinde. Wei diesen Gesang einmal gehört hat, wird ihn nicht mehr so bald aus der Erinnerung verlieren.

Die Taufe ist nicht selten

Der Archimandrit P i m e n, Superior des Klosters von S a g o r s k, der mich gemeinsam mit anderen Besuchern empfing, ist ein hochgewachsener Mann, nicht viel über Vierzig, spricht mehrere Sprachen, darunter fließend Deutsch, war in Jerusalem, dreimal in Wien und hat als Persönlichkeit eindrucksvolles Format.

Auch das Gespräch mit anderen Geistlichen, älteren und jungen, hinterließ stärksten Eindruck. Natürlich wurden bei meinen Begegnungen mit Priestern keine heiklen Themen berührt, aber ich sprach außerdem mit anderen guten Kennern der Situation.

Wie viele Kinder in der UdSSR getauft werden? Der Befragte lächelt: „Sie werden staunen, man findet nicht viele Ungetaufte, vor allem nicht auf dem Land. So gut wie immer ist irgend jemand der engeren oder weiteren Familie gläubig, und so wird dann das Kind zur Taufe gebracht“. Aber Religionsunterricht gibt es natürlich keinen, oder richtiger, nur privat und in kleinstem Kreis.

Alter und Weisheit...

Zieht man aus seinen Eindrücken die Summe, so kommt man zu folgendem Schluß: Die mit gelegentlichen Gesten geschickt beschönigten Druckmaßnahmen der Regierung werden wohl stumm hingenommen, doch viele von ihnen später mit ebensolchem Geschick weitgehend pariert. Eine solche, in byzantinischem Erbe aufgewachsene, in höfischer Politik ein Jahrtausend lang geschulte Kirche nicht auf seiner Seite zu haben, ist ein Problem, das die rote Revolution vierzig Jahre läng unterschätzt hat und aucrr> -fetzt trotz Erfarirungsgewina immer noch unterschätzt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die orthodoxe Kirche nur knappste Loyalität hjilt und alles, was nicht abgewehrt, abgebogen oder wesentlich gemildert werden kann, mit präzisem Gedächtnis festhält. Die Frömmigkeit der Priester ist tief und echt, ebenso der Glaube weiter Bevölkerungsteile vor allem auf dem Land. Man rührt hier an die „russische Seele“ und eine tausendjährige Wurzel, die kaum zerstört werden kann. Die Tatsache, daß die russische Kirche heute ausgesprochen reich ist, obwohl der Staat ihr nicht eine einzige Kopeke zum Unterhalt gibt, sondern ihr noch enorme Steuern auferlegt, daß sie also reich ist allein durch freiwillige Spenden, mag zu denken geben.

Von einer auch nur scheinbaren Übereinstimmung der orthodoxen Kirche mit dem Kommunismus wird niemand reden, der sich im Land selbst mit diesem Problem beschäftigt hat. Für östliche, ein wenig an byzantinische Taktik gewöhnte Augen ist die Haltung der russischen Orthodoxie vollkommen klar. Sie ist alt, ist weise und wartet. Sie rechnet nach Jahrhunderten. Und sie weiß, daß fünfundzwanzig Jahre nach Ausbruch der Revolution durch das Wahrnehmen einer Chance, wie sie der Lauf der Geschichte mit absoluter Sicherheit einmal bringen mußte, die ärgste Gefahr überwunden wurde. Der tiefste Punkt der Unterdrückung liegt hinter ihr und damit die Peripetie des Geschehens, auch wenn die Ereignisse sich nur langsam entwickeln. Kirche und kommunistische Ideologie, Metaphysik und Materialismus sind unvereinbar, auch wenn die Strategie des Kremls sich noch verfeinern sollte.

Während der Sterbestunden Johannes XXIII. erkundigte sich das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Patriarch Alexej, telephonisch im Vatikan nach dem Befinden des Papstes und sprach seine Teilnahme und Besserungswünsche aus. Chruschtschows Telegramm war eine Formalität im Vergleich zu diesem kirchengeschicht-l'ch bedeutenden Entschluß des Patriarchen. Die russische Kirche denkt längst an das nächste Jahrhundert.

IM ZEICHEN DER SALZBURGER UNIVERSITÄT. Mit dem neuen Hochschüler-heim des Katholischen Universitätsvereins, das nach zweijähriger Bauzeit unter Leitung der Architekten Thomas Schwarz und Peter Z ach er l fertiggestellt und vor kurzem durch Erzbischof Dr. Rohrach er feierlich eingeweiht wurde, hat Salzburg eines der modernsten Studentenwohnhäuser Österreichs erhalten. Es verfolgt den Zweck, den Stipendiaten des Internationalen Forschungszentrums und den Studenten der Salzburger Universität eine Heimstätte zu geben. Wegen Mangel an Wohnraum für die im Herbst mit sechs philosophischen Ordinariaten beginnende Universität wird der Nordtrakt des Hauses auf die Dauer von zwei Jahren den staatlichen Instituten zur Verfügung gestellt. Der Katholische Universitätsverein hat für dieses Haus, das mit Hilfe des Wohnhaus-Wiederaufbau-Fonds auf einer Bombenruine errichtet wurde, erhebliche Eigenmittel aufgebracht. Sein selbstloses Vorgehen kann als Beispiel für die Aufgabe der Kirche von heute gelten: inmitten einer pluralistischen Gesellschaft, den Problemen der Welt wie den höheren Zielen zugewandt, „aus dem Geist der Liebe der Ordnung und dem Frieden zu dienen“ (Erzbischof Dr. Rohracher).

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