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Das neue Japan

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Bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts war Japan das Geheimnis des Fernen Ostens, dessen Schleier sich nur vorübergehend, am Beginn der Neuzeit, etwas gelüftet hatte, um sich dann wieder um so dichter zu schließen. Die Tore des nipponi- schen Reiches mußten im 19. Jahrhundert fast gewaltsam erbrochen werden. Seither erschloß es sich rascher als irgendein anderes Land des Ostens, übersprang eine fast halbtausendjährige Kulturentwicklung und lief dabei Gefahr, die eigene Seele zu verlieren. Nun ist es mit einem Schlag wieder um Menschenalter zurückgeworfen worden. Und wieder hüllt es sich in Schweigen. Wir erfahren sehr wenig von den jetzigen inneren Vorgängen in jenem Volke, das noch vor kurzem so viel von sich reden machte und auf dem Wege war, die Führung der ganzen asiatischen Völkerfamilie an sich zu reißen. Dabei ist die Weltlage doch so, daß Japan zusammen mit den beiden andern Achsenländern wieder mehr und mehr in den Mittelpunkt des internationalen Interesses rückt und die beiden derzeitigen Machtkolosse in diesen drei Völkern nicht mehr so sehr Gegner als künftige Verbündete und Flelfer sehen.

Uns ist es hier nicht um dieses weltpolitische Kräftespiel zu tun, sondern darum, die Lebensverhältnisse des Japaners von heute und die geistige Haltung des fernöstlichen Inselreiches festzustellen. Einen guten Einblick gewährt dem Verfasser dieses Aufsatzes ein ausführlicher Bericht über das Nachkriegs-Japan, der soeben eingelangt ist. Er stammt aus der Feder des Gfneralsuperiors der Gesellschaft Mariä, der im vorigen Herbst die Niederlassungen der Marienbrüder in Ostasien besuchte und während seiner Anwesenheit auch längere Privataudienzen bei dem Kaiser Hirohito und dem amerikanischen Oberbefehlshaber Mac Arthur hatte.

Die Gesellschaft-Mariä fand 1886 Eingang in Japan und stellt heute dort nach Anzahl der Mitglieder und der Anstalten die bedeutendste Ordensgenossenschaft dar. Sie unterhält Sdiulen in fast allen größeren Städten. Das Colleg „Morgenstern” in Tokio zählte vor dem letzten Krieg über 1500 Schüler. Im ganzen besitzen die Marianisten heute in Japan etwa ein Dutzend Niederlassungen und nahezu 100 Mitglieder.

Dem genannten Bericht entnehmen wir folgendes über die äußeren Verhältnisse des Landes. Ein Amerikaner, der jetzt nadi Beendigung des Krieges die nipponisdhen Inseln besucht, muß sich immer wieder fragen: „Wie konnte sich ein Volk mit so beschränkten Hilfsquellen unterfangen, den Wirtschaftsriesen Amerika anzugreifen?” Japan ist kaum halb so groß wie der Staat Texas. Nur ein Sechstel der Oberfläche kann angebaut werden, nur die Hälfte ist bewohnbar. Die Bevölkerung beträgt 80 Millionen, weist trotz der Kriegs- nachwehen einen Zuwachs von 5 Millionen in den letzten anderthalb Jahren auf. Das Hauptnahrungsmittel ist immer noch der Reis. Die unabsehbar sich hindehnenden Reisfelder erzeugen aber doch nur 80 Prozent dieses Nahrungsmittels. Die Gesamt- wirtschaft ist bis zu 85 Prozent elektrifiziert, vor allem auch das dichte Eisenbahnnetz, das durch den Krieg kaum Sdiaden gelitten hat. Die riesige Entwicklung der Elektrizitätswirtschaft hängt mit dem fast vollständigen Mangel heimischer Kohle zusammen. Schwer getroffen ist die japanische Stahlindustrie, deren Werke in den Bombardements fast ausgelöscht wurden. Das Erschütterndste ist die fast vollständige Vernichtung der Großstädte. Diese bestanden bekanntlich fast gänzlich aus leichten Holzbauten. Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, welche Verheerungen die Luftangriffe in solchen Massensiedlungen wie Tokio mit seinen fünf Millionen, in Osaka mit drei, in Kobe mit einer Million anrichteten. Diese Städte sind bis zu 80 Prozent dem Erdboden gleichgemacht. Verwendet wurden fast nur Brandbomben, die in ungeheuren Massen zugleich über weite Gebiete ausgestreut wurden. Man behauptet, daß so in einer Nacht in Tokio in einem solchen Inferno 25 0.0 00 Menschen lebendig verbrannt wurden. Bei einem solchen Brandsturm wurde auch der aus Holz gezimmerte kaiserliche Palast so vollständig vernichtet, daß sogar die Asche davongetragen wurde. Jetzt wohnt der Kaiser mit seiner Familie in einem ganz einfachen Haus.

Beim Anblick dieser namenlosen Verwüstung faßt den Beschauer wahrlich der ganze Jammer der Menschheit an. Man kann kaum begreifen, wie die Überlebenden noch ihr Dasein fristen. Längs der staubigen Straßen und der faulig schmutzigen Bäche sind wie Pilze ganze Heere von armseligen nomadenhaften Hütten aufgeschossen, in denen dicht zusammengepfercht diese Unglücklichen wohnen. Auf allen Straßen und Wegen sieht man sie dahinhuschen, diese in Lumpen gehüllten Menschenschatten, meist ein winziges Fahrzeug vor sich herschiebend oder ein Kind papuaartig mit sich tragend. Bei all der Unsauberkeit und den fast unmöglichen Lebensbedingungen ist es erstaunlich, daß nicht Seuchen aller Art ausgebrochen sincl. Nach Aussage von Fachleuten haben hier die amerikanischen und japanischen Ärzte Wunder ihrer Kunst gewirkt.

Auf geistigemGebiet vollzieht sich, soweit man beobachten kann, ein wurzel- hafter und schicksalhafter Wandel. Bis zum jüngsten Krieg war fast jeder Japaner aus Patriotismus dem Shintoismus, das heißt dem Ahnenkult und der göttlichen Verehrung der kaiserlichen Familie ergeben. Die Militärkaste hatte während des Krieges die Anbetung des Kaisers zu einem strengen Gebot gemacht, das vor allem in den Schulen eingeschärft wurde. In jedem Schulgebäude war ein heiliger Saal. In einer Mauervertiefung war eine Art Tabernakel mit Metalltüren, auf denen als kaiserliche göttliche Insignien Goldchrysanthemen prangten. Im Innern ruhte auf einem Schleier japanischer Seide ein Lichtbild des Kaisers, das von diesem selber gezeichnet war. Alle Schüler mußten beim Kommen und Gehen vor diesem Allerheiligsten defilieren und drei tiefe Verbeugungen machen. Man erwartete, daß die Schüler auch einzeln von Zeit zu Zeit diese göttliche Gegenwart durch Besuche verehrten. Zwei Lehrer hafteten mit ihrem Haupte. für die Unversehrtheit des kaiserlichen Bildnisses. Die geringste Be- makelung konnte die Hinrichtung zur Folge haben. Mit dieser Vergötzung des Herrschers ist es nun aus. Seit Kriegsende hat der Kaiser selbst das Seine dazugetan. Er bewegt sich ganz bürgerlich in der Öffentlichkeit.

Bleibt noch der Buddhismus, der schon im 6. Jahrhundert von China eingeführt wurde und sich, wie der Shintoismus zur Vergötterung der kaiserlichen Familie, der Staatsallmacht und einem vagen Naturkult bekannte. Der Buddhismus wurde allmählich Staatsreligion. Das ist er seit Kriegsende nicht mehr; die Bonzen sind nicht mehr besoldete Staatsbeamte. Diese Maßnahme wird im japanischen Denken eine ungeheure Umwälzung hervor- rufen. Noch ragen die unzähligen Tempel. Kyoto, die heilige Stadt mit einer halben Million Einwohner, birgt tausend Heiligtümer. Aber in der Seele, vor allem des heranwachsenden Geschlechtes, verliert der alte Glaube zusehends an Boden.

Die Zukunft: Materialismus oder Christentum

Was wird die so geschaffene seelische Lęere ausfüllen? Nach der Lage der Dinge zeichnen sich da nur zwei Möglichkeiten ab. Entweder wird der Materialismus, namentlich in der politischen Form des Kommunismus, oder das Christentum an die Stelle des alten Aberglaubens treten. Noch scheint der Kommunismus nicht stark vertreten zu sein, er ist aber sehr gut organisiert. Welches seine wirkliche Macht ist, würde sich erst zeigen, wenn die amerikanische Sicherheitspolizei verschwände. Das Christentum stellt einstweilen, mit der Gesamtbevölkerung verglichen, eine verschwindende Minderheit dar. Auf über 80 Millionen Einwohner kommen etwa 110.000 Katholiken. Das läßt sich kaum in einem Prozentsatz ausdrücken. Der Katholizismus hatte schon einmal eine erste Blüte erlebt. Ein Jahrhundert ungefähr nach dem Tode seines ersten Japanapostels, des heiligen Franz Xaver, dürfte sich die Zahl der Getauften fast auf eine halbe Million belaufen haben. Im Jahre 1587 wurde die apostolische Errungenschaft in einer der grausamsten Christenverfolgungen aller Zeiten vernichtet. Im Jahre 1865 entdeckten die ersten französischen Missionare aber noch eine Christengemeinde in Nagasaki und Umgebung. Das neuerliche Wachstum war langsamer als in anderen Missionsgebieten. Das Bistum Nagasaki mit seinen 54.000 Katholiken ist heute noch das Zentrum der japanischen Kirche. Es stellt die Hälfte aller Katholiken dar. Es gibt heute acht Diözesen im ganzen und sieben apostolische Präfekturen. Das erinnert an urchrist- liche Ausmaße. In Tokio leben 8000 Katholiken. — Erheblich stärker, aber im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer nicht ausschlaggebend vertreten ist das protestantische Christentum in Gestalt verschiedener religiöser Denominationen amerikanischer Herkunft und Förderung.

Dieser Katholizismus ist immerhin sehr gut organisiert. Nach den letzten Aufzeichnungen wirken in Japan 428 Priester, von denen 280 Ausländer und 148, also ein gutes Drittel, Einheimische sind. Bereits sind die meisten Orden dort vertreten, 15 Männerorden, 40 Frauenorden. Die Mitglieder der männlichen Ordensgenossenschaften belaufen sich auf 582 (davon 219 Einheimische), die der weiblichen auf 1446 (davon 1013 Einheimische). Von den rund 100 Marienbrüdern sind bereits 70 Japaner, unter diesen der Provinzial und alle Leiter der einzelnen Anstalten.

Der Generalsuperior hat seine Eindrücke zu einigen allgemeinen Feststellungen zusammengefaßt. Man kann nicht umhin, das japanische Volk zu bewundern. Inmitten dieses fast beispiellosen Zusammenbruches steht es innerlich ungebrochen da. Trotzdem die Städte so zerstört sind, daß davon nur die Bevölkerung übrig bleibt, geht alles ruhig und gefaßt ans Aufbauwerk. Sicher wird dieses muthafte Aufstreben durch die kluge Führung General Mac Arthurs begünstigt. Aber der Hauptantrieb zu diesem Wiederaufstieg geht von der angeborenen Charakterstärke des Japaners aus. Es ist zu erwarten, daß das Land nach einem Jahrzehnt nur wenig Kriegswunden mehr aufweisen wird. Eine Voraussetzung dafür wird allerdings ein wahrhaft christlicher Friede sein, der eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung und die Auswanderung nach weniger besiedelten Gegenden ermöglicht. Trotzdem noch in den jüngsten Zeiten gewisse Kreise die Amerikaner als Todfeinde betrachtet haben, setzt sich jetzt eine andere Betrachung des Verhältnisses zu Land und Leuten jenseits des Stillen Ozeans durch. Gewiß hat die geniale technische Veranlagung der Amerikaner und die großherzige Haltung der Sieger, die so ganz von der Propaganda abstach, dieses Vertrauensverhältnis begünstigt. Aus den erbittertsten Nebenbuhlern können in Zukunft Freunde und Bundesgenossen werden.

Da der Shintoismus verboten wurde und der Buddhismus nicht mehr vom Staat erhalten wird, ist auf religiösem Gebiet ein großer Leerraum entstanden. Vor allem dem Katholizismus eröffnen sich Möglichkeiten, die man heute noch gar nicht ganz genau abgrenzen kann. Die große Stunde der Hinwendung zu Christus scheint geschlagen zu haben. Bischöfe und Priester bezeugen, daß sich Bekehrungen seit Kriegsende, an den Vorkriegsmaßstäben gemessen, verdoppelt haben. Heidnische Laien, ja sogar buddhistische Priester bieten den katholischen Missionen Schulen unter der Bedingung an, daß einer der Lehrgegenstände die katholische Religion sei. In einer Privataudienz sprach der amerikanische Oberbefehlshaber eine Mahnung in Form eines liebenswürdigen Vorwurfs aus: „Ich habe etwas gegen, Sie, Katholiken, und das ist etwas Ernstes: da, wo Sie einen Missionar haben oder einen Lehrer, sollten Sie tausend haben. Der Papst selber sollte nach Japan kommen.” Aus den 110.000 japanischen Katholiken können nicht genügend Apostel für die 80 Millionen Heiden ihres Landes erwachsen, zumal ein großer Teil der Katholiken in ländlichen Gebieten wohnt und nicht die geistige Eignung für Führernaturen hat und auch nicht über die nötige religöse Erfahrung verfügt. Es gilt also, alle katholischen Lande zu einem Missionskreuzzug größten Ausmaßes nach dem Fernen Osten aufzurufen. Die englischsprechenden Länder haben einstweilen die besten Missionierungsaussichten. Aber im Grunde ist jeder Sohn und jede Tochter der Weltkirche berufen, an der Christianisierung jenes Volkes mitzuwirken, von dessen künftiger geistiger Entscheidung wesentlich das Los des größten Erdteils und vielleicht der ganzen Menschheit ab- hängen mag.

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