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Weltpolitische Entscheidungen

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In den 25 Jahren, die seit dem Abkommen von Jalta vergangen sind, standen zwei Mächte im Vordergrund: die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion. Sie waren es, die in der Zeit des kalten Krieges die Welt tatsächlich beherrschten. Trotz sich wandelnder Umstände sind sie heute noch die bestimmenden Faktoren der Politik. Jede Analyse muß daher von ihnen ausgehen, wobei nicht nur aus Prestigeüberlegun-

gen den USA der erste Platz zukommt. Die USA stehen heute an einer Wende, und dies aus Gründen, die geradezu paradox klingen. Die USA haben nämlich im gleichen Jahre auf zwei weit voneinander entfernten Punkten fast gleichzeitig ihren größten Sieg und ihre schwerste Niederlage erlebt. Sie eroberten den Mond und sie begannen ein politisch besiegtes Heer aus den Sümpfen Vietnams abzuziehen.

Die Bedeutung der Mission von Apollo XI wird erst in kommenden Jahrzehnten voll erkannt werden. Mit ihr wurde der kosmische Raum in unsere Welt einbezogen. Wirtschaftliche Folgen unvorstellbarer Größe kommen auf uns zu. Die Eroberung des Mondes durch die USA führte auch sofort zu einem Rückfall der Sowjetunion; heute gibt es nur noch eine einzige echte Supermacht — Amerika. Die kindische Zomesgeste des kleinen Lunik, der sich im Mondstaub begrub, zur Stunde, da die Amerikaner unseren Satelliten betraten, illustriert den Abstand, der heute bereits zwischen den beiden Mächten besteht. Wenn man gar die wirtschaftlichen Folgen in Rußland selbst beobachtet, wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß Moskau im Prestigewettkampf mit Washington seine Reserven in Raumschiffahrt und Entwicklungshilfe ausgegeben hat und nunmehr im wahrsten Sinne des Wortes erschöpft ist. Gleichzeitig mit seinem kosmischen Triumph muß allerdings Amerika auf dieser unserer Erde eine schwere Niederlage hinnehmen — die erste seiner Geschichte. Zwar ist es Präsident Nixon in bewundernswerter Weise gelungen, die schwersten Folgen des Ereignisses aufzufangen und sich in einer fürs erste anscheinend ausweglosen Situation doch wieder Luft zu schaffen. Ein voller Erfolg seiner Bestrebungen ist aber nicht zu erwarten.

Für Amerika ergibt sich aus dem Vietnam-Debakel die Erkenntnis, daß der Einsatz seiner Männer sich in Zukunft nicht mehr lohnt, um so mehr, als die konventionellen Mittel gegenüber den modernsten Entwicklungen — Atombombe ebenso wie subversive Kriegführung — weitgehend ohnmächtig sind. Die nukleare Ausrüstung hat jenen Punkt erreicht, an dem vorgeschobene Verteidigungslinien und Basen für die Supermächte ihre Bedeutung verloren haben. Gegen die modernen Raketen, vor allem gegen jene, die mit mehreren Sprengköpfen bestückt sind, bietet dier Raum keinen Schutz mehr. Diese Tatsache wandelt auch Begriff und Inhalt der Bündnisse. Der einsetzende amerikanische Rückzug aus Vietnam wird bedeutende Folgen haben, wahrscheinlich aber nicht diejenigen, die man sich allgemein erwartet. Es gab noch vor kurzem die sogenannte „Domino-Theorie“: ein vom Vietkong beherrschtes Südvietnam müßte zwangsläufig zu einem kommunistischen Südostasien führen. Die jüngsten Entwicklungen zeigen aber, daß auch die Kommunisten nur Menschen sind und sich ebenso wie ihre Gegner in den Jahren des Krieges erschöpft und ausgeblutet haben. Es ist daher wahrscheinlich, daß sogar im Falle eines kommunistischen Sieges in Saigon — der übrigens noch keineswegs sicher ist — dieser Erfolg von den Kommunisten nicht genutzt werden kann. Dazu kommt, daß die Chinesen heute im Norden gebunden sind und kein Bedürfnis nach anderweitigen Abenteuern haben. Die Folgen des Ereignisses sind demnach weniger auf dem Schauplatz selbst als in der amerikanischen Weltpolitik und Weltstellung zu erwarten. Die Verminderung der US-Streitkräfte in Vietnam wird ähnliche Maßnahmen an allen anderem Orten der Welt nach sich ziehen. Dazu kommt, daß die erste Niederlage der Vereinigten Staaten leicht einen traumatischen Effekt in deren Innenpolitik nach sich ziehen kann. Eine große Armee kehrt zurück, junge Männer, verbunden durch das Kriegserlebnis, verbittert durch die Nutzlosigkeit des Opfers und durchaus nicht im Gefühl, auf dem Schlachtfeld besiegt worden zu sein — obwohl sie die Schmach der ersten Niederlage ihres Landes zu tragen haben. Die Suche nach den Schuldigen wird kommen. Gerade wir Mitteleuropäer sollten uns aus eigener Erfahrung erinnern, was eine solche psychische Lage bedeuten und welche Folgen sie haben kann. Dabei fehlten bei uns zwei Umstände, die in Amerika erschwerend hinzutreten.

An erster Stelle ist es die Rassenfrage. Es handelt sich dabei um ein nahezu unlösbares Problem, weil in einem Land, dessen Herrschaftsideal stark alttestamentarische Züge trägt und welches daher an ein auserwähltes Volk glaubt, ein rassisch betontes Unterbewußtsein so gut wie unvermeidlich ist. Auf seiten der Schwarzen wiederum hat ein Jahrhundert der Enttäuschungen und Nadelstiche tiefe seelische Wunden hinterlassen, die zu irrationalen Reaktionen führen müssen.

Nicht weniger gefährlich, wenn auch auf anderer Ebene, ist der amerikanische Traum von der Besiegung der Armut. Man hat in den Vereinigten Staaten noch nicht erkannt, daß in der Regel Armut kein objektiver, sondern ein subjektiver Begriff ist, dessen Maßstab der Vergleich mit anderen ist. Bei wachsendem Wohlstand wandelt sich demnach auch der Begriff. Der Arme in Amerika hat schon heute einen Lebensstandard, um den ihn die Armen der übrigen Welt beneiden würden und der in einzelnen Ländern dem Niveau der oberen Zehntausend entspricht: er ist aber trotzdem nicht minder unglücklich als der indische Bettler. Der Glaube, man könne dank dem Reichtum der größten Macht der Erde die Armut beenden, wird damit, politisch gesehen, zu einer gefährlichen Illusion, die explosive Folgen haben kann.

Der große Rivale der Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, befindet sich in einer vielleicht noch schwierigeren Lage. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Rußland solche Dinge verschwiegen werden, während sie in Amerika auf der ersten Seite der „New York Times“ zu finden sind.

Das schwerste Problem der UdSSR ist so alt wie die Geschichte des einstigen Zarenreiches. Unter allen Mächten der Erde war Rußland stets die größte an Ausdehnung, aber auch die am dünnsten besiedelte. Diese geopolltische und verkehrstechnische Tatsache hat zur Folge, daß Moskau niemals imstande war, einen Zweifrontenkrieg zu führen. Deshalb ist für Rußland ein gleichzeitiges aktives Eingreifen in Asien und im atlantischen Raum nicht möglich. Die Großmachtrolle Chinas muß daher die Moskauer Handlungeweise entscheidend beeinflussen. Rußland ist überdies ein Reich, kein Nationalstaat. Die Russen bilden nur 50 Prozent der Gesamtbevölkerung dieses Reiches, während der Rest sich auf über hundert Nationalitäten aufteilt. Viele Bewohner Sibiriens gehören der gelben Rasse an; sie sind Asiaten, die, geschichtlich gesprochen, vor nicht zu langer Zeit durch die Kolonialpolitik Petersburgs und Moskaus von ihren natürlichen Verbindungen losgerissen wurden. Aus diesem Grunde ist Rußlands Lage im Osten viel gefährdeter als im Westen. China grenzt an Provinzen, die von Völkern bewohnt sind, denen Peking die Selbstbestimmung verspricht. Dies sind also die Erwägungen, von denen die Politik des Kreml in Europa bestimmt wird. Man darf die geplante europäische Sicherheitskonferenz nicht isoliert, nicht ohne Blick auf Asien sehen. Was Moskau anstrebt, ist eine freiwillige westeuropäische Garantieerklärung für den Staitus quo von Jalta. Psychologisch ist das russische

Selbstvertrauen durch den amerikanischen Weltraumerfolg viel mehr erschüttert worden, als dies im Westen erkannt wird. Es war für die Kommunisten relativ leicht, den wirtschaftlichen Rückstand des Landes mit den wirklichen oder angeblichen Sünden und Versäumnissen der Zaren zu erklären. Im Weltraum hingegen besaß Rußland, dank dem Sputnik, einen echten Vorsprung, den aber die Amerikaner in verhältnismäßig wenigen Jahren eingeholt, ja überholt haben. Hier kann man sich also nicht auf die Vergangenheit ausreden.

Dazu kommt, daß durch die übermäßig hierarchische Gliederung sowjetischer Herrschaftsstrukturen eine Uberalterung eintritt, die heute bereits zu einer Gefahr wird. Fast alle Machthaber Rußlands waren schon im Jahre 1953 in höheren Rängen. Es gab seither so gut wie gar keine Blutauffrischung, ob es sich nun um Partei, Regierung oder Armee handelte. Das hat zur Folge, daß das Establishment der Sowjetunion in seinen Reaktionen oft ausgesprochen rückständig wirkt. Mit der zu erwartenden Verschärfung der Krise wird diese Verkalkung der Führungsgamitur immer schwerwiegendere Folgen zeitigen.

Den beiden Großmächten der letzten 25 Jahre stehen ein wirklicher und zwei potentielle Herausforderer gegenüber.

Zur Stunde bereitet der Aufstieg Chinas den Supermächten am meisten Sorge. Mao Tse-tung hat das mächtige Potential seines Volkes vor allem in eine bestimmte Richtung gelenkt: in die nukleare Aufrüstung. Auf diesem Gebiet hat China Gewaltiges geleistet und dürfte innerhalb der nächsten Jahre mit den beiden Supermächten gleichziehen. Dies ist für Rußland gefährlicher als für Amerika. Nuklearwaffen sind dazu da, um nicht gebraucht zu werden Sie sollen den Gegner durch Angst lähmen. Peking will die konventionellen Kräfte der Sowjetunion durch ein atomares Patt zur Unbeweglich-keit verurteilen. Ist dieser Zustand einmal eingetreten, zählen nur noch die subversiven Waffen der Infra-kriege. Hierin aber ist China stärker als Rußland, da es unterdrückte Asiaten bei den Sowjets, aber keine unerlösten Europäer bei den Chinesen gibt. Daher Rußlands Versuchung, durch einen Präventivkrieg das Problem beizeiten aus dem Wege zu schaffen. Ob dies allerdings gelingt, ist keineswegs sicher. Die Geschichte beweist, daß es gefährlich ist, sich nach China zu wagen. Auch ist keineswegs bewiesen, daß man durch eine Präventivaktion die Schaffung von Massenzerstörungswaffen verhindern kann. Die jüngsten Entwicklungen haben gezeigt, daß Uran für die Herstellung der großen Zerstörungswaffen bald nicht mehr notwendig sein wird. Die „Hydrogenbombe aus der Waschküche“ ist dm Kommen, und China dürfte auf diesem Gebiet möglicherweise schon einen Vorsprung gegenüber den Supermächten besitzen. An dieser Tatsache ändert übrigens der vielgepriesene Atomsperrvertrag gar nichts, da er eine moderne Proliferation keineswegs verhindert. Er sieht bloß die Kontrolle von spaltbarem Material vor. Gerade dieses aber wird bei den neuesten Waffen nicht verwendet, so daß vom ganzen Sperrvertrag in wenigen Jahren nur die wirtschaftliche und politische Diskriminierung der sogenannten Habenichtse übrigbleiben wird. Die Aufrüstung aber schreitet lustig voran.

Auf der Ausrichtung Chinas auf Massenzerstönmgswaffen beruht heute die Kraft Mao Tse-tungs. Diese Einseitigkeit wird aber später zum entscheidenden Schwächemoment werden. Tritt einmal die wirtschaftlich-politische Konkurrenz an die Stelle der Kriegsausrüstungen, wird sich in China der Mangel einer industriellen Infrastruktur fühlbar machen. Das kann die Stunde Japans sein, das eine von China verschiedene, aber nicht weniger zielbewußte Entwicklung durchmacht. Japan hat seit dem zweiten Weltkrieg, besonders aber seit dem Amtsantritt Eisaku Satos und seiner Mitarbeiter im Jahre 1964, gewaltige Fortschritte gemacht. Die Arbeitskraft des Volkes und die freiwillige Disziplin seiner Wirtschaft haben es dem Lande erlaubt, Demokratie und bewußte Weltpolitik zu verbinden. Japan hat nach dem Kriege zuerst seine Wirtschaft aufgebaut; es erkannte früher als andere, daß hierfür eine moderne Ordnung des Verkehrs wesentliche Voraussetzung ist, Zielbewußt nützte es seine günstige maritime Lage aus und paßte seine Industrialisierungspläne den Gegebenheiten der Schiffahrt an. Erst später folgte dann die Ausdehnung der japanischen Wirtschaft auf das, was man das „Maritime Asien“ nennt, nämlich auf die fortschrittlichen Staaten des Femen Ostens, wie Korea, Formosa, die Philippinen, Malaysia, Singapore, Thailand und Indonesien. Für all diese Länder ist Japan zum wichtigsten Wirtschaftspartner geworden. Am bedeutendsten wurde Tokios Zusammenarbeit mit Djakarta nach dem Sturze Sukarnos, eine Zusammenarbeit, die das an Rohstoffen reichste Land mit der wichtigsten Industriemacht Asiens unter den denkbar günstigsten Transportbedingungen verbindet. Bald schon dürften zwangsläufig politische Schritte und Maßnahmen für militärische Sicherheit folgen. Damit ist die Macht Japans im Frieden, wie auch im Kriege, fest begründet. Das Maritime Asien wird eine asiatische Weltmacht sein, die möglicherweise schon bald nicht nur eine erste Rolle spielen wird, sondern außerdem das Potential besitzt, China weltpolitisch in den Schatten zu stellen.

Ein Blick auf die Karte zeigt die interessante Parallele zwischen Japan und Europa. Wir sind eine Halbinsel des asiatischen Kontinentes, milt zumindest ebenso vielen natürlichen Häfen wie die Inselwelt Japans. Verkehrspolitisch ist unsere Situation am Atlantischen Ozean vergleichbar mit der Lage Japans im Pazifik. Auch wir besitzen eine überdurchschnittlich talentierte, entwik-kelte, zahlreiche und arbeitsame Bevölkerung. Wir, wie die Japaner, stehen mit komplementären Rohstoff-gebieten in Beziehung. Was Indonesien für die Japaner, ist Afrika für uns. Trotzdem muß man feststellen, daß Japan sich mit großen Schritten zu einer Weltmacht entwickelt, während wir bloß eine untergeordnete Rolle spielen. Wir nutzen eben unser Potential nicht, weil es uns an Einigkeit fehlt.

Ohne echten Europawillen wird das Ziel niemals erreicht werden. Hier liegt die große Schuld der Europäer, einschließlich, ja besonders jener, die in den Europaorganisationen tätig sind. Es muß offen gesagt werden, weil es wahr ist: Die derzeitige Arbeitsmethode taugt nichts. Das einige Europa wird nicht durch Feierstunden oder freundliche Gespräche am Teetisch erreicht werden. Um vorwärtszukommen, müssen die Männer der Wirtschaft, jeder auf seinem Gebiet die Integration energisch vorantreiben, während jene, die in der Politik stehen, endlich die öffentliche Meinung so mobilisieren müßten, daß diese die Regierungen zum Handeln zwingt. Es ist noch nicht zu spät. Die Krise der Supermächte und das Beispiel Japans zeigen uns Wege und eröffnen uns Möglichkeiten. Wir haben alle Materialien in der Hand, die notwendig wären, um eine Weltmacht zu bauen. Niemand ist heute stark genug, uns am Werke zu hindern, wenn wir nur wollen. Es gibt keine Ausrede auf andere, wenn wir unserer historischen Berufung untreu würden.

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