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Widerlegter Clausewitz

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Enthusiastisch wurde vielenorts das Jahr 1972 als Meilenstein in der Geschichte unseres Jahrhunderts gefeiert. Optimisten zogen diese Bilanz bereits in den späten Oktobertagen, als es Henry Kissinger gelang, mit seiner Zauberformel: „Peace is at hand“, die Welt für Tage von einem Alpdruck zu befreien. Ja, man sah den Schüler Metternichs bereits in Tel Aviv oder Alexandrien, in Jerusalem oder Kairo mit Juden und Arabern den Nahostkomplex ausräumen. Für einen noch unbestimmten Zeitraum wird allerdings Paris das wichtigste Reiseziel des Professor Kissinger bleiben — denn Kriege sterben nur langsam.

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Enthusiastisch wurde vielenorts das Jahr 1972 als Meilenstein in der Geschichte unseres Jahrhunderts gefeiert. Optimisten zogen diese Bilanz bereits in den späten Oktobertagen, als es Henry Kissinger gelang, mit seiner Zauberformel: „Peace is at hand“, die Welt für Tage von einem Alpdruck zu befreien. Ja, man sah den Schüler Metternichs bereits in Tel Aviv oder Alexandrien, in Jerusalem oder Kairo mit Juden und Arabern den Nahostkomplex ausräumen. Für einen noch unbestimmten Zeitraum wird allerdings Paris das wichtigste Reiseziel des Professor Kissinger bleiben — denn Kriege sterben nur langsam.

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Unbestritten bleibt, trotz des Rückschlages während der Zielgeraden der Pariser Geheimgespräche, daß es der Diplomatie und nicht den Waffen gelang, den entscheidenden Durchbruch auf dem fernöstlichen Kriegsschauplatz zu erzielen. Um so mehr drängt sich die Frage auf, warum Präsident Nixon versucht hat, den Frieden „durchzubomben“. Die Zurückhaltung der Führungsgremien in Peking und Moskau hatte ein kaum noch zu überbietendes Maß erreicht. Aus innen- wie außenpolitischen Gründen ist man im Kreml interessiert, den Ballast des Vietnamkrieges möglichst rasch loszuwerden. Darüber dürfen auch die andauernden Waffenlieferungen nicht hinwegtäuschen, durch die Hanoi ja einzig und allein imstande ist, dem amerikanischen Luftkrieg irgendwie Paroli zu bieten. Je länger aber die Kriegshandlungen in Vietnam fortdauern, desto schwieriger wird es für Breschnjew, seine Politik des Interessenausgleiches mit den USA zu rechtfertigen.

Sei es, um vor den Wahlen der französischen Linkskoalition die Fußangeln der Prager Invasion des Jahres 1968 aus dem Weg zu räumen, vielleicht aber auch, um zu zeigen, daß ihrer Entspannungspolitik innere Widerstände entgegengesetzt werden, brachte die Kremlspitze vor kurzem die Motive für den Sturz des ukrainischen Parteiführers Scheljest in Umlauf.

Auch auf der politischen Linie Pekings ist kein Platz mehr für einen Vietnamkrieg. In der Vorstellung Tschu En-lais über die künftige Asienpolitik ist ein bündnisfreies Indochina zu finden, dessen Schutzmächte aber nicht die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten sein sollen. Nur ein Ende des Krieges brächte Peking diesem Ziel näher. Hiebei gerät die chinesische Strategie allerdings mit sowjetischen Zielvorstellungen in Konflikt. Denn von einem Vietnamfrieden verspricht sich auch die auf die „chinesische Gefahr“ fixierte Kreml-Spitze neue Einflußmöglichkeiten in Asien, die bisher durch den Krieg verbaut waren. Weil aber Moskau eine Bindung und Fixierung seiner Widersacher ebenso in seine Strategie paßt, läßt es seine Feuer in Hanoi nur langsam ausgehen.

Rund um die nordvietnamesische Hauptstadt wurde ein Fliegerabwehrring installiert, der möglicherweise jenen rings um die sowjetische Metropole noch übertrifft. Die Luftwaffe Saigons wurde durch eiligst aus allen Teilen der Welt herangekarrte Waffenlieferungen zur viertgrößten Streitmacht auf dem Globus aufgestockt. Die Pulverfässer wurden vor der möglich erscheinenden Konfliktlösung also noch einmal vollgestopft. Wird es gelingen, sie auch am Ende zu versiegeln?

Gelingt es, Plomben an den Arsenalen der Großmächte im Fernen Osten anzubringen, finden die Krisenmanager ein weiteres Pulverfaß ohne Verschluß vor — den Nahen Osten.

Die Sowjetunion hat ihre arabischen Verbündeten — abgesehen von der Luftabwehr, deren Bedienung sie ihren Spezialisten vorbehielt — mit Waffen ausgestattet, die selbst erst seit kurzem zur Standardausrüstung ihrer eigenen Streitkräfte zählten. Ein quantitativer Uberblick ist nicht weniger beeindruckend.

Im Krisengebiet, das Irak, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Syrien und Ägypten umschließt, sind annähernd 1400 Düsenkampfflugzeuge und schätzungsweise 5000 Kampfpanzer der verschiedensten Klassen und Typen konzentriert. Das ist mehr, als den NATO-Oberbefehls-habern im Nord- und Mittelabschnitt zur Verfügung steht.

Wie wird sich dieses Potential in den Händen von absolutistischen arabischen Präsidenten verhalten, die mit der brennenden Lunte spielen wie Kinder mit Streichhölzern und Sprengkörpern? Vorerst scheint es allerdings so, daß die Krise, je länger der arabisch-israelische Konflikt andauert, sich um so stärker im arabischen Lager selbst ausbreitet. Gerade aber diese Spannungen könnten eines Tages eine unpro-grammierte Flucht nach vorne auslösen. In dieser Sicht hat die Entscheidung Moskaus, den Arabern das Pulver ein wenig naß zu machen, diesen das Zündeln ziemlich verleidet; aber die Streichhölzer allein können noch genug Unfug anrichten. Entscheidend wäre allerdings eine Ubereinkunft der beiden Supermächte, ihren Verbündeten unmißverständlich zu erklären, daß sie im Konfliktfall mit keiner weiteren Unterstützung zu rechnen hätten. Wenn die „Pulvervorräte“ reell begrenzt wären, Icönnte man auf mehr Verstand hoffen.

Wird Jugoslawien zum europäischen Krisenherd des kommenden Jahres, wird der Balkan wieder einmal Reibungsfläche? An derartigen Unkenrufen fehlte es nach den Erschütterungen, denen Titos Völkerverbund im zurückliegenden Jahr ausgesetzt war, nicht. Vergleiche mit den letzten Regierungsjähren Kaiser Franz Josephs wurden angestellt. Auch in der Metropole der Donaumonarchie war damals, so diese Stimmen, ein Punkt erreicht worden, an dem es gleichgültig war, ob man den Nationalitäten Rechte gewährte oder verweigerte — beides führte im gegebenen Augenblick zur Schwächung der Staatsmacht.

Wie in der Vergangenheit immer wieder Großmächte versucht haben, unter Ausnutzung nationaler Rivalitäten auf dem Balkan Fuß zu fassen, könnte allerdings die heutige jugoslawische Situation einen neuen Ausgangspunkt für derartige Absichten bieten. Die Intentionen der Kreml-Führung liegen dabei sicher nicht nur in der Hoffnung begründet, in der Ära nach Tito einer ideologischen Häresie den Boden entziehen zu können.

Moskaus Position im östlichen Mittelmeer ist, wie bereits erwähnt, auf „arabischen Wanderdünen“ gebaut. Trotz mancher zielstrebiger Versuche gelang es außerdem bisher nicht, die beiden NATO-Pförtner am Bosporus untereinander oder mit dem Bündnis selbst zu entzweien. Was die Strategen im Kreml daher als langfristiges Ziel anstreben, ist unzweifelhaft eine Basis an der Adria mit einer gesicherten Landverbindung. Dies um so mehr, als sich Moskau einem zwar nicht festgefügten und mit unterschiedlichen Motiven operierenden nationalkommunistischen Block gegenübersieht, der von Tirana über Belgrad bis Bukarest reicht.

Am 15. Jänner traten in Helsinki neuerlich die Botschafter von 34 Ländern zusammen, um den Boden für einen weiteren Akt der Entspannungspolitik zu legen. Die Meinungsunterschiede, die bisher in der finnischen Hauptstadt zutage traten, waren identisch mit den unterschiedlichen Ausgangspositionen, von denen aus die Proponenten seit Jahren diese Konferenz forcieren. Eine Bilanz der ersten Runde zeigt allerdings, daß es westlicher Entschiedenheit, gepaart mit Logik und Verhandlungsgeschick wohl möglich sein könnte, den Osten zu einer Kompromißbereitschaft zu bewegen — vorausgesetzt, man überspannt dabei den Bogen nicht.

Eine besondere Rolle kommt in der Verhandlungsstrategie beider Seiten wohl den Neutralen, Blockfreien und jenen Staaten zu, denen die Struktur Europas in Blöcke zutiefst zuwider ist.

Dabei trat die kluge Haltung der nationalbewußten Rumänen besonders hervor. Ihre Strategie, einerseits der östlichen Allianz keine Zweifel an ihrer Bündnistreue zu liefern, anderseits aber den Spielraum zu nützen, den Moskau gezwungen ist, seinen Satelliten am Verhandlungstisch einzuräumen, kann als Modellfall für das westliche Maß des „Bogenspannens“ genommen werden.

Gelang es also auf dem reichlich nebulosen Terrain der Sicherheit, erste Fortschritte zu erzielen, tun sich in der Interpretation des Begriffes „Zusammenarbeit“ erste Klüfte auf. Am schwierigsten wird es allerdings auf beiden Seiten — und dies auch innerhalb der Lager — sein, einen Konsens in der Frage einer sogenannten „ausgewogenen Reduzierung der Truppen in Europa“ zu erzielen.

Auch hiebei sieht sich die Politik dem Druck der militärischen Potentiale gegenüber. War man allzu leicht geneigt, den russisch-chinesischen Antagonismus auch als Argument in die militärischen Überlegungen zu übernehmen, so sehen sich nun die verantwortlichen Planer des atlantischen Bündnisses einer unablässigen Potentialsteigerung der Pax So-vjetica in Mitteleuropa gegenüber. Dabei sticht besonders der hohe Anteil der Kampftruppen ins Auge und die fast vollständige rüstungsmäßige Standardisierung der Verbände des Warschauer Paktes.

Warnende Stimmen, die Moskaus Ziel, das Hinausdrängen der Amerikaner aus ganz Europa, als nach wie vor gegeben erachten, erheben sich vor allem in Paris und London. In beiden Hauptstädten wächst das Unbehagen über einen amerikanisch-russischen Kuhhandel.

Nimmt das Stabilitätsdenken, der Wille zur Entspannung, die Einsicht der Notwendigkeit des Zusammenarbeitens den Krisenherden und Waffenarsenalen die Eigenschwere, oder muß die Welt damit rechnen, daß die geänderte Konstellation bereits neue Krisenkeime in sich trägt?

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