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Noch lange werden sich Geschichtsforscher mit der Frage befassen, warum der jüngste Krieg zwischen Ägypten und Israel ausbrach. Je mehr nämlich der Ablauf der letzten Tage vor dem 6. Oktober bekannt wird, desto klarer zeigt sich, daß nur eine Handvoll Menschen von dem Plan Sadats wußte. Der israelische Nachrichtendienst und die Großmächte, genauso wie die arabischen Nachbarn der zwei Angreiferstaaten Ägypten und Syrien, wurden von den Ereignissen überrascht. Die Sowjetunion, deren militärische Sachverständige die Pläne geliefert hatten, ohne ein Datum zu setzen, wurde erst in den letzten Stunden verständigt. Auslösendes Moment für den Kriegsausbruch scheint nicht etwa der Wille der Großmächte, sondern weitgehend die innere Lage Ägyptens und Syriens gewesen zu sein.

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Noch lange werden sich Geschichtsforscher mit der Frage befassen, warum der jüngste Krieg zwischen Ägypten und Israel ausbrach. Je mehr nämlich der Ablauf der letzten Tage vor dem 6. Oktober bekannt wird, desto klarer zeigt sich, daß nur eine Handvoll Menschen von dem Plan Sadats wußte. Der israelische Nachrichtendienst und die Großmächte, genauso wie die arabischen Nachbarn der zwei Angreiferstaaten Ägypten und Syrien, wurden von den Ereignissen überrascht. Die Sowjetunion, deren militärische Sachverständige die Pläne geliefert hatten, ohne ein Datum zu setzen, wurde erst in den letzten Stunden verständigt. Auslösendes Moment für den Kriegsausbruch scheint nicht etwa der Wille der Großmächte, sondern weitgehend die innere Lage Ägyptens und Syriens gewesen zu sein.

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Die zwei Weltmächte, die im Nahen Osten zählen, Amerika und die Sowjetunion, waren an einer friedlichen Lösung interessiert. Bei den USA ist das nicht weiter erstaunlich, da ihr regionales Ziel im Nahen Osten der Friede für Israel und die Sicherheit der Olfelder bleibt. Rußland seinerseits wünschte ebenfalls Ruhe in den ölgebieten, da sein Hauptinteresse der Wiedereröffnung des Suezkanals gehört. Für die Sowjetunion ist der Wasserweg lebenswichtig, weil er ihr erlaubt, die Rote Flotte im Indischen Ozean mit Hilfe der Versorgungsbasen im Mittelmeer zu festigen, um solcherart China in die Zange nehmen zu können.

Moskau wußte, daß die Wiedereröffnung des Suezkanals einen langfristigen Waffenstillstand voraussetzt. Es hat auch offensichtlich gewisse Kontakte zwischen Israel und der Sowjetunion gegeben (wie die Ausreise zahlreicher sowjetischer Juden sogar in den schärfsten Tagen des Oktober-Krieges beweist). Dabei ist bekannt, daß die Araber über eine solche Politik keineswegs glücklich sind, da jeder neue Einwanderer das israelische Potential vergrößert.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß der Kriegsausbruch vor allem auf Sadats Initiative zurückzuführen war. Kenner der Lage in Ägypten hatten bereits seit über einem Jahr vor wachsender Unzufriedenheit im Lande gewarnt. Das Volk war des Zwitterzustandes zwischen Krieg und Frieden müde und forderte eine klare Lösung. Sadat selbst hat gegenüber seinem Vorgänger Nasser den Nachteil, keine „charismatische Person“ zu sein; er ist von Natur aus ein zurückhaltender Beamter, kein Volkstribun. Während seine Politik zweifellos den Interessen seines Volkes diente, wußte das Volk ihm hiefür keinen Dank. Die Situation wurde für Sadat kritisch, als mit dem 1. September die beiden Staaten Ägypten und Libyen offiziell fusionierten. Aus den Arbeiten der verfassunggebenden Körperschaften wurde offensichtlich, daß wahrscheinlich schon 1974 die Wahl eines gemeinsamen Präsidenten erfolgen werde. Sadats Rivale Ghaddafi, ein fanatischer, unstabiler Mann, besitzt große persönliche Ausstrahlung; hier ist wieder einmal ein „Führer“ entstanden. Ghaddafls messianischer Islamismus hat in der ägyptischen Jugend viele Anhänger gefunden. Es war also anzunehmen, daß bei einer Wahl der Libyer Ghaddafi Sadat haushoch besiegen würde. Dazu kommt, daß Ghaddafi infolge des ölreichtums seines Landes und der geringen Bevölkerung Libyens riesige Kapitalien für seine politischen Ziele in Ägypten einsetzen könnte. Es war ihm bereits gelungen, eine Anzahl von Schlüsselpersonen im benachbarten Staat zu kaufen. Für Sadat gab es daher nur die Lösung einer' Flucht nach vorne — also Krieg gegen Israel und damit neue Popularität in Ägypten. Diese Operation dürfte ihm gelungen sein. Obwohl der Krieg schließlich nicht gut für Ägypten endete, bleibt doch die Tatsache, daß zum erstenmal wenigstens örtliche Siege über Israel errungen werden konnten. Die Freude darüber, daß nun offenbar die Serie ununterbrochener Israelischer Erfolge beendet war, ließ die ägyptische Bevölkerung spätere Niederlagen vergessen.

Die Erdölerpressung hängt nur teilweise mit dem palästinensischen Konflikt zusammen. Die Pläne für den Öl-Krieg waren längst schon vorbereitet, als der Jom-Kippur-Krieg ausbrach. Es handelt sich hier um eine neue Form internationalen Ausstandes: die Technik des Streiks, wie sie innerhalb industrialisierter Staaten üblich ist, wird von waghalsigen Regierungen global verwertet. Das geht über den Aufbau der Streikfonds bis zu den ständig gesteigerten Forderungen und gezielten Aktionen gegen das jeweils schwächste Glied. Die Planung, soweit man sie überschauen kann, stammt von erstklassigen Sachverständigen. Man muß zugeben, daß die Aktion einer gewissen wirtschaftlichen Berechtigung nicht entbehrt: Der Rohölpreis war künstlich viel zu niedrig gehalten worden. Europäische Regierungen glaubten, im Treibstoff ein geeignetes Objekt für ihre überspitzte Steuerpolitik gefunden zu haben. Es hätte aber klar sein müssen, daß es auf die Dauer unhaltbar ist, wenn beim Endpreis des Benzins der Urproduzent und der Bearbeiter wesentlich weniger erhalten als europäische Regierungen, die risiko- und arbeitslos dabei verdienen. Daß die Araber eine Erhöhung ihres Anteils verlangen, ist vertretbar. Nicht legitim hingegen ist die willkürliche Drosselung der lebenswichtigen Olproduk-tion.

Die Alte Welt hat in den kritischen Tagen eine jämmerliche Rolle gespielt. Mit jäher Deutlichkeit zeigte sich das Maß ihres Verfalls. Während vor nicht zu langer Zeit unser Erdteil noch die maßgebliche Großmacht im Nahen Osten war (und durch das Türkische Reich die Region selbst zum europäischen System gehörte), wurde diesmal die Stimme Europas überhaupt nicht gehört. Sie* war nicht zu schwach — sie schwieg gänzlich. Jeder handelte für sich. Gemeinsam wurde nichts geplant und nichts unternommen.

So zahlen wir jetzt den Preis dafür, daß im Jahre 1962 der Fouchet-Cattini-Plan am Veto der Niederlande gescheitert ist. Immer wieder wird de Gaulle vorgeworfen, er habe Europas Einheit verhindert. Wer aber heute einsieht, daß die größte Schwäche Europas der Mangel eines gemeinsamen Organes für Außenpolitik ist, sollte sich der Initiative von de Gaulles Frankreich vor nunmehr zwölf Jahren entsinnen. Ihr entsprang der Fouchet-Cat-tini-Plan, der eine greifbare Lösung geboten hätte. Den Niederlanden aber schien dieser Plan zu konföderal und nicht weitgehend genug. Wären damals die Niederlande nicht so engstirnig-doktrinär gewesen, hätten wir bereits vor zehn Jahren den Beginn einer europäischen Außenpolitik erlebt. Diese hätte sich, wie die Kohle- und Stahlgemeinschaft, weiterentwickelt und wir wären 1973 in der Lage gewesen, mit einer Stimme zu sprechen — und gemeinsam für den Augenblick der Gefahr zu planen.

Uber das Versagen Europas hinaus entstand nun aber auch eine tiefe Vertrauenskrise im Atlantischen Bündnis. Die mangelnde Solidarität der europäischen Staaten findet zwangsläufig ihren Niederschlag in der amerikanischen Politik. Heute schon sind sich die meisten Sachverständigen darüber im klaren, daß die Haltung der europäischen Regierungen während des Nahost-Krieges den Tag des Abzugs der US-Truppen aus Europa wesentlich nähergerückt hat.

Ein ganz entscheidendes Element dieser Entwicklung war, was sich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten' Staaten abgespielt hat. Bonn hat stets die Amerikaner bedrängt, sie mögen nur ja nicht aus Europa abziehen. Man hatte also in Washington erwartet, Deutschland werde in Stunden der Gefahr immer auf selten der Vereinigten Staaten stehen. (Die Lehre der Kuba-Krise schien vergessen.) Desto härter traf daher die amtlichen Kreise der USA das Verlangen der Bundesrepublik, die NATO-Basen auf ihrem Gebiet nicht für amerikanischen Nachschub nach Israel zu verwenden. Der Schock, den dieses Ansinnen ausgelöst hat, läßt sich nur an Ort und Stelle, in Washington, voll ermessen. Zwar wurde der Zwischenfall durch einen Austausch von Briefen offiziell „geregelt“, aber das Problem ist nicht beigelegt, die Wunde nicht vernarbt.

Was das für die Praxis bedeutet, liegt auf der Hand. Schon vor dem Nahost-Krieg hatten ein beträchtlicher Teil der amerikanischen öffentlichen Meinung und eine Mehrheit des Kongresses den Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa verlangt. Das war verständlich. Wie kann man den Amerikanern explizieren, warum sie aus Vietnam abziehen, in Europa aber verbleiben sollen? Dazu kommt, daß die Amerikaner einfach nicht verstehen können, warum mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg 205 Millionen Amerikaner noch immer 250 Millionen NATO-Europäer vor 240 Millionen Sowjetrussen beschützen müssen. Es ist den Amerikanern nicht mehr zu erklären, wieso Europa nicht seine eigene Verteidigung aufbauen konnte, während sie selbst nun erst vollends das Ausmaß des europäischen Wirtschaftsaufschwunges sehen. Es rächt sich, daß Europa zwanzig Jahre lang unter dem amerikanischen Schild satt geschlafen, seine Wirtschaft entwickelt hat und seine Verteidigung verkümmern hat lassen. Jetzt wird die Rechnung präsentiert.

Bisnun hat der amerikanische Präsident sein Möglichstes getan, um die amerikanischen Truppen in Europa belassen zu können, und dank der großen Macht des Weißen Hauses wäre es ihm auch durchaus geglückt, die Rückberufung noch geräume Zeit hinauszuzögern. Nunmehr aber, im Lichte der jüngsten Ereignisse, läßt sich ein Sinneswandel auch bei Nixon beobachten. Zutiefst von der Haltung der Europäer enttäuscht, wird er seinen Widerstand gegen einen Abzug wahrscheinlich reduzieren.

Die traurige Rolle Europas hat sogar innerhalb der EWG desintegrierend gewirkt: Mißtrauen herrscht zwischen den Partnern.

In diesem Zusammenhang ist die Initiative Präsident Pompidous für ein europäisches Gipfeltreffen zu sehen. Pompidou ist seit eh und je ein guter Europäer. Er war 12 Jahre lang Mitglied der Paneuropa-Union, er glaubt an Europa, er will dazu beitragen, den Erdteil zu einigen. Sein Versuch, ein Gipfelgespräch zustande zu bringen, soll einen Beitrag zur Ausräumung der gegenseitigen Mißverständnisse liefern. Weiters will Pompidou die Frage der äußeren Sicherheit (einer europäischen Verteidigung also) in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellen: wenn es nach den Franzosen ginge, sollte es kein Ausweichen auf die Wirtschaft mehr geben.

Frankreich ist legitimiert, in Fragen der Sicherheit zu sprechen: es ist das Land, welches weitaus am meisten auf diesem Gebiet geleistet hat. De Gaulle ist aus der NATO nicht zuletzt deshalb ausgetreten, weil er eine glaubhafte französische Verteidigung aufbauen wollte. Die Ereignisse geben ihm recht. Man hat die französische „Force de Frappe“ viel verlacht. Trotzdem stellt sie eine ernsthafte Abschreckung dar. Gewiß, sie ist nur ein Bruchteil des amerikanischen Potentials, die Vereinigten Staaten besitzen das 16fache „Overkill“, die Fähigkeit, 16mal hintereinander die Sowjetunion auszurotten. Da aber jemand, der getötet ist, nicht noch ein zweites Mal erschlagen werden kann, darf man das französische Abschreckungspotential nicht etwa an dem gesamten Arsenal der USA messen, sondern nur an einem Sechzehntel desselben. Und bei dieser (realistischen) Art der Berechnung besitzt Frankreich fast schon 50 Prozent der amerikanischen Atomarkraft. Es darf also angenommen werden, daß für Rußland ein Schlag gegen Frankreich heute bereits ein unerträglich hohes Risiko darstellt. Es ist Paris gelungen, um den Preis von nur 6 Prozent der Militärausgaben Westeuropas sich die 500fache Feuerkraft aller europäischen NATO-Staaten zu sichern. Paris kann also etwas sehr Wesentliches zur Sicherheit Europas beitragen.

Zur Stunde ist es noch nicht möglich, zu sagen, wie der „Europagipfel“ ausgehen wird. Daß es sich um eine entscheidende Wende handelt, ist aber klar. Man wird Erfolg oder Mißerfolg daran messen können, ob es gelingt, politische Initiativen zu ergreifen — ob man den Mut hat, endlich von der äußeren Sicherheit, von der Verteidigung des Kontinentes zu sprechen. Man hat in der Vergangenheit das Wort „letzte Chance“ allzuoft strapaziert — und es ist stumpf geworden. Dennoch charakterisiert gerade dieses Wort die westeuropäische „Gipfel-Konferenz“.

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