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Deutschland und die Welt

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Das Kernproblem, das sich jedem auswärtigen Besucher Deutschlands aufdrängt, läßt sich auf Zweierlei reduzieren: Welche Lösung suchen die Deutschen, um aus ihrer gegenwärtigen internationalen Lage herauszukommen; welche Mittel denken sie zu diesem Zweck anzuwenden? Daß niemand mit dem jetzigen allgemein als provisorisch empfundenen Zustand einverstanden ist, darf uns nicht verwundern. Die Zweiteilung des einstigen Reichs verletzt nicht nur den nationalen Stolz und das, was man als Gebot historischer Gerechtigkeit ansieht, sondern auch sehr gewichtige politische, kulturelle und wirtschaftliche Interessen, die teils offen einbekannt werden, teils verhüllt, doch deshalb nicht minder wirksam sind. Auf den ersten Blick ist es klar, daß die Deutschen, soweit sie nicht durch spürbaren Druck oder infolge ihrer Einordnung in die kommunistische Parteimaschine daran verhindert sind — wie in der DDR —, die Wiedervereinigung der Bundesrepublik und der Ostzone erstreben, um hernach wieder der bevölkertste europäische Staat westlich des Eisernen Vorhanges zu werden und um möglichst viel ihres Gebietsumfangs von vor 1938 zurückzuerhalten („en attendant mieux“, in Erwartung noch besserer Zukunft). Lieber diese Forderung hinaus, zu der die nach völliger echter Unabhängigkeit tritt, begehrt eine sehr große Mehrheit, die der hundertprozentigen Gesamtheit nahekommt, Rückkehr des Saargebietes und eine Konektur der jetzigen, als noch nicht endgültig betrachteten Ostgrenzen. Hier aber macht die Einmütigkeit halt. (Merken wir schnell an, daß politische Heuchelei, der man aus mannigfachen Ursachen im westlichen und im östlichen Deutschland begegnet, die gesinnungstüchtigen Ostzonler abhält, laut zu bekennen, daß auch sie von der Oder-Neiße-Linie nicht entzückt sind und daß die offizielle Bonner Begeisterung für die Pariser Verträge und für ein festes Bündnis mit dem Westen nur von ganz wenigen Regierungsfrommen geteilt wird.)

Ob man mehr als das Territorium der beiden Deutschland von heute, samt dem Saargebiet und einer Rückgabe der vor 1945 überwiegend deutschsprachigen Bezirke im Osten verlangen soll, darüber gehen die Ansichten auseinander. Beschwichtigungsministerialdirektoren, die den weiland k. k. Beschwichtigungshofräten entsprechen, leugnen jeden ferneren Anspruch, und in der Tat ist der Wald- und Wiesendeutsche weder darauf erpicht, bis nach Posen, ja nach „Litzmannstadt“ (Lodz) seinen I.ebensraum zu erstrecken noch das verlorene Reichsland Elsaß-Lothringen und die von Hitler befreite Ostmark ans Herz zu drücken; nicht einmal Ostpreußen samt Königsberg regen ihn besonders an und auf. Und das Sudetenland gönnt er schon gar der Tschechoslowakei; von Kolonien träumt er nicht einmal im festesten Barbarossaschlaf. Immerhin, alle die eben aufgezählten Punkte eines Minimal-Maximal-Programms, an das sich, wie von selbst, für später Expansionswünsche in Richtung Berlin-Bagdad, Sehnsucht, gen Ostland zu reiten, zärtliche Blicke nach den germanischen Ländern Flandern und der Schweiz, nach Skandinavien, nach Südtirol und zuletzt das Endziel anreihen, am deutschen Wesen möge die Welt genesen, ob auch vorher Millionen ihrer Bewohner verwesen mögen: diese Hochziele spuken weiterhin in allerlei Häuptern, unter denen sich sogar mancher gescheite Kopf eines unbelehrbaren Professors oder Dichters befindet. Allein, in Lfmkehrung von Schillers Wort und zum Glück für Deutschland wie für die Welt, ist derzeit in der Bundesrepublik Unverstand bei wen'gen nur gewesen (freilich zumeist aus den happy few), die erdrückende Mehrheit aber ist der wandelnde Sinn für Greifbares und Reales. Sie bewahrt sich für Feierstunden die Ueberzeugung auf, daß Elsässer, Oesterreicher, Schweizer usw. eigentlich auch Deutsche, und nur das, seien; doch für den Werktag — und auf lange hinaus muß und will der Deutsche tagtäglich werken, um wieder ganz hochzukommen — läßt man jene vorläufig verlorenen Söhne der Mutter Germania nach eigener Fasson selig oder unselig werden, anerkennt ihre Sonderart und entrüstet sich, wie ich so oft zu hören bekam, daß Hitler und die Nazi die Oesterreicher und die Elsässer so schlecht behandelt, die Schweizer so verärgert hätten „und dadurch ist der Anschluß auf lange hinaus“ (siehe oben) Unmöglich geworden. Stoßen wir uns nicht an dieser Auffassung; begnügen wir uns damit, daß man in Deutschland bei den breiten Massen und in der schmalen Schicht der Entscheidenden die gegenwärtige Regelung in West und Süd als Tatsache anerkennt, die zu bestreiten oder gar die gewaltsam zu ändern kein Voll-sinniger beabsichtigt. Provisorien sind, wie man in Oesterreich erprobt hat, dauerhafter als definitive Entscheide auf tausend oder zehntausend Jahre. Freuen wir uns deshalb der deutsehen provisorischen Ansichten und Einsichten! Kritischer steht es mit den Dingen nach Osten hin. Weniger in bezug aufs Sudetengebiet, um dessentwillen sich das offizielle Deutschland und die Bewohner der Bundesrepublik kein Bein ausreißen werden, als im Hinblick auf die ominöse Oder-Neiße-Linie.

Spricht man von ihr, dann sehen die Offiziellen und die Offiziösen sofort rot (was nicht weiter erstaunt) und senken allsogleich (was betrüblicher und gefährlicher ist) die bildlichen Hörner zum Kampf. Der Masse der Westdeutschen sind zwar Schlesien samt Pommern und Pommerellen Hekuba, doch sie machen aus zwei Gründen die chronische Entrüstung mit, die sich weniger gegen die Russen als gegen die Polen kehrt: einmal, weil man ja gut national sein muß, sodann weil man die Ostflüchtlinge los sein will und dazu deren Rückkehr in ihre Ursprungsheimat das beste, wenn nicht das einzige Mittel darstellt.

Die Sache mit der Oder-Neiße-Linie bildet den dunkelsten Punkt im Gesamtpanorama, das wir von Deutschland in der Welt, auf Grund frischer Beobachtung, zeichnen dürfen. Denn im Osten und nur dort, droht die Möglichkeit, daß, ungeachtet aller derzeitigen Beteuerungen, das Streben der Deutschen nach einer sie tragbar dünkenden Ziehung ihrer Grenzen einen blutigen Konflikt auslösen könnte. Im Westen und im Süden besteht dazu, wie schon dargelegt wurde, keinerlei Gefahr. Hier walten die, Dauer verheißenden, Provisorien. Doch gegenüber Polen bleibt, von Deutschland her betrachtet, alles in Fluß, während wiederum die Polen die geringste Veränderung ihrer jetzigen Grenze abzulehnen erklären und größere Korrekturen wirklich mit allen Kräften zu verhindern trachten würden.

Was also erhofft, was et strebt die öffentliche Meinung Deutschlands — die sichtbare der gewaltigen Mehrheit in der Bundesrepublik und die unsichtbare, doch deutliche in der DDR — für die nächste und für die fernere Zukunft; wie glaubt sie diese Forderungen zu erreichen?

Unabdingbar erscheint, nach dem bisher Erörterten, die Wiedervereinigung beider Deutschland in deren gegenwärtigen Grenzen. Stillschweigend und lautredend sind die Unabhängigkeit Oesterreichs, die Zugehörigkeit des Elsaß' und Lothringens zu Frankreich, die Südtirols zu Italien registriert worden. Ueber das Saargebiet wird unablässig geredet und gefeilscht werden, welche Abkommen immer man darüber mit Frankreich treffen mag. Das Sudetenland ist abgeschrieben; doch nach Polen entladen sich Irredentismus und nicht selten Revanchelust mit soviel Heftigkeit, wie es nur ein kalter Krieg erlaubt. Pankower Verzichte ändern daran gar nichts. Die Oder-Neiße-Linie v/ird das schwierigste Hindernis sein, wenn man z. B. bei der Begegnung mit den Sowjetstaatsführern zu ernsthaften Auseinandersetzungen über die Bereinigung des gesamtdeutschen Problems kommt.

Und ebendiese, vorläufig, Gott sei Dank, nur bildlich „blutende“ Grenze ist im Grunde dafür entscheidend, in welche weltpolitische Kombination sich die Deutschen einfügen wollen. Sie haben die Wahl, soferne sie diese Wahl haben, zwischen drei Eventualitäten: die von Adenauer mit unerhörter Zähigkeit verfochtene Westallianz, eine — wir werden gleich sagen warum — doppelgesichtige Neutralität und die östliche Orientierung. Für die dritte Hypothese, das sei vorweggenommen, treten nur die amtlichen Kreise der DDR samt jederlei Kommunisten offen, dazu einige und nicht wenige rechtsextremistische oder preußisch-altkonservative Tauroggenschwärmer ein, je nachdem versteckt oder sehr deutlich. Zur beachtlichen Diskussion stehen also: Deutschland als militärischer und politischer Alliierter des Atlantikpaktes, oder um es geradeheraus zu sagen: der USA; Deutschland, nachdem es ausdrücklich oder de facto die Durchführung der Pariser Verträge unterläßt, jenseits der beiden großen weltpolitischen Lager.

Die Befürworter einer Haltung, die zunächst die Bundesrepublik, hernach ein Viertes Reich weder an die USA, noch an die UdSSR binden würde, sind nicht ohne weiteres als Freunde einer der österreichischen oder der schweizerischen ähnlichen Neutralität zu bezeichnen. Sie befolgen die Parole „Ohne uns“ entweder aus grundsätzlicher Kriegsgegnerschaft oder wenigstens, weil sie Deutschland aus jedem Konflikt, vorerst oder dauernd, herauslösen wollen. Andere Anhänger des „Ohne uns“ weisen ihrem Vaterland einen Platz in der Dritten Kraft zu und sie rühmen das Beispiel, das vom großen Indien Nehrus wie vom kleinen Jugoslawien Titos gegeben wird; sie erwägen im verborgenen Herzenswinkel wohl gar, daß Deutschland im geeigneten Moment seine Bundesgenossenschaft teuer verkaufen solle, und sie entsinnen sich des schweren Irrtums, den Mussolini beging, als er, statt stillzuhalten, sich vom Achsenpartner unbedacht in dessen Krieg mitreißen ließ. Als ersten Preis eines derartigen Entschlusses des künftigen Deutschlands begehren sie die Korrektur der Ostgrenze, sei es mit westlicher, sei es mit sowjetischer Unterstützung, sei es im Einvernehmen mit beiden Mächtegruppen. Die Lobredner der „Dritten Kraft“ sind überdies davon durchdrungen, daß die Wiedervereinigung beider Deutschland nur dank dieser Zauberformel zu erreichen wäre. Sie wird vornehmlich von den Sozialisten, aber auch von erheblichen Teilen des liberalen Bürgertums und sogar von evangelischen Rechtskreisen akzeptiert.

Demgegenüber beharrt Adenauers, im wesentlichen auf die CDU gestützte, von einer zusammenschmelzenden Minderheit der evangelischen Konservativen, dafür von fast der gesamten liberalen Großindustrie und der Hochfinanz, endlich von südwestdeutschen Demokraten bejahte Weltpolitik auf engster Gemeinschaft mit den USA, denen Deutschland, im Austausch gegen Rüstungshilfe, Beistand auf diplomatischem Terrain und Wirtschaftshilfe vordringlich nur militärische Gegenleistungen bieten kann. Einzig in untrennbarer Freundschaft mit Amerika wird die Bundesrepublik imstande sein, von der UdSSR di Wiedervereinigung mit dem Osten — und später die vielgenannten östlichen Grenzkorrekturen — zu erlangen. Das „Ohne uns“ drängte die Bundesrepublik in Isolierung und damit in Ohn macht. Sie würde dann, im Zuge eines riesigen Kuhhandels, von den USA bei einer Generalbereinigung mit der Sowjetunion geopfert werden.

Alle die hier geschilderten Gesichtspunkte habe ich im Gespräch mit Hunderten sehr Maßgebender, ein wenig Einfluß Genießender und der ungezählten „Kleinen Männer“ (und Frauen) wiederkehren gehört, die sich besorgt fragen, „Was nun?“ kommen werde. Der Ge amteindruck st der, daß die WestlSsung noch als die bessere gilt, daß aber die Zeit gegen sie und für die Idee von der Dritten Kraft arbeitet, wenn nicht bald, etwa bei der Amerikareise des Bundeskanzlers, einige greifbare Erfolge für Adenauers Diplomatie zu buchen sind.

Wie aber reagieren die Westdeutschen auf die derzeitige Sachlage und auf die sich eröffnenden Aspekte, und zwar in der Gesinnung gegenüber den Weltmächten und den Nachbarn? Am günstigsten schneiden Briten und Franzosen ab. Ungeachtet des chronischen Streits um die Saar und der periodischen Spannungen, die er im Verhältnis zwischen Paris und Bonn mit sich bringt, ist es mit dem Schlagwort von der Erbfeindschaft vorbei. Ich habe nirgends e i n gehässiges Wort wider die Franzosen vernommen, dagegen oft genug das Bedauern über deren Verlegenheiten in Indo-china und in Nordafrika, den Wunsch nach wirtschaftlicher Zusammenarbeit im Schwarzen Kontinent, die Freude über regen Kulturaustausch. Auch die Legende von der Degeneration und der sittlichen Verkommenheit des westlichen Anrainers ist verschwunden. Dabei geht unleugbar der Einfluß der französischen Sprache, Literatur und Wissenschaft zurück, während der der Angelsachsen rapid steigt. Die Engländer imponieren mächtig, als das einzige große Volk, das seine Tradition im wesentlichen erhalten hat; in der britischen Zone hat man der Besatzung einigermaßen die von Nichtbeachtung zur Nichtachtung hinüberschwenkende splendid isolation verübelt, die Franzosen haben sich, trotz bei Kontakt unvermeidbarer Zusammenstöße, mit den Einheimischen besser vertragen und oft sehr gut verstanden. Die Amerikaner werden vielleicht noch mehr bewundert, zumal in den Kreisen des Handels und der Industrie, dann bei der gesamten, die smartness bestaunenden Jugend; sie erwecken aber auch Neid und dazu die Eifersucht der weniger finanzkräftigen Jünglinge, denen die Boys die „Fräuleins“ wegschnappen. Als Hypothek lastet auf der Begeisterung für die Yankees die Furcht, durch sie in einen Krieg mit den Russen hineingezogen und überhaupt als Figur auf dem weltpolitischen Schachbrett verwendet zu werden. Der Haß gegen die Russen als Volk ist beileibe nicht so groß, wie man nach Aeußerungen der inspirierten Propaganda meinen sollte; meist ist er überhaupt nicht vorhanden. Um so größere und einheitlichere Erbitterung herrscht gegen den Kommunismus und hier wieder mehr gegen die eigenen Führer und Vertreter dieser Partei als wider die der Sowjetunion. Platonische Sympathie für Italien und Japan, sentimental gestützt durch die Gemeinschaft im zweiten Weltkrieg, fester untermauert durch Wirtschaftserwägungen, ist eine Angelegenheit höherer Sphären, ebenso wie die Neigung für Araber, Inder und jederlei Exoten. Die breiten Volksmassen nehmen davon kaum Kenntnis; sie freuen sich nur, wenn ferne Ausländer, nach Deutschland kommend, hier mit ihrer Bewunderung nicht kargen.

Gegenüber Skandinaviern, Holländern und Belgiern fühlen sich die Deutschen ein bißchen schuldbewußt; sie wollen hier, wie merkwürdigerweise auch in Jugoslawien, die nahe Vergangenheit auslöschen und neue Freundschaft anknüpfen, argern sich und begreifen nicht, wenn das, wie in den Niederlanden und in Norwegen, auf kühle Abweisung oder auch nur auf Zurückhaltung stößt. Geringem Interesse begegnen die Tschechen, ohne daß ihnen, außerhalb der vielen Sudetendeutschen, besondere Feindseligkeit gewidmet würde — und bei den Sudetendeutschen gibt es viele, wenn nicht die Mehrzahl, die heute mit den Tschechen im Zeichen gemeinsamen Leides ehrliche Aussöhnung heischen. Alles, was an Ressentiment noch vorhanden ist, bleibt den Polen aufgespart. Die einsichtigen Bemühungen, vornehmlich katholischer und konservativer Kreise, auch da eine Basis künftigen friedlichen Zusammenlebens zu schaffen, dringen nicht über enge Grenzen hinaus. Und endlich: Schweizer, Oesterreicher? Ganz einfach, seid umschlungen, Millionen derzeit verlorener Brüder, wir gehören ja doch zusammen! Kann man über soviel Zärtlichkeit böse sein? Besser ist's, sie zu erwidern und dann den lieben Brüdern in einer geeigneten Stunde begreiflich zu machen, daß getrennte Rechnung, getrennter Haushalt dem beiderseitigen Verhältnis und der natürlichen Entwicklung gemäß sind. Oder, um ein Wort aus der militaristischen Vergangenheit zu variieren (die selbstverständlich endgültig provisorisch vorbei ist): getrennt marschieren und vereint sich nicht schlagen. Wozu, da sie in ihrer großen Mehrheit offenkundig mit dem zweiten dieser kategorischen Imperative einverstanden sind, die Deutschen schließlich auch in bezug auf den ersten mit dem Kopf, und sogar mit ihren Oberhäuptern bejahend nicken werden.

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