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Kann es Deutschland wagen?

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I.

Diesen Ueberlegungen, die sine ira et Studio, aber nicht ohne tiefe und nicht ab- geieugnete innere Anteilnahme erfolgen, haftet im gegenwärtigen Zeitpunkt der Charakter des utopischen „Wenn “ an. Die Frage aber, die es neben den Voraussetzungen dieses „Wenn“ zu untersuchen gilt, ist vor allem die, ob ein solcher Traum — in Abwandlung des bekannten Moltke-Wortes vom „Ewigen Frieden“ — wenigstens ein schöner wäre. Das Deutschlandgespräch, das zwischen West und Ost trotz der langen Pausen zwischen den maßgeblichen diplomatischen Aeußerungen der Hauptbeteiligten in steigender Intensität geführt wird, ist nun doch bei seinem eigentlichen Kernpunkt angelangt, bei der Frage der gesamtdeutschen Wahlen. Dabei sind diese Wahlen, deren Ausgang groteskerweise beide Partner als ziemlich genau bestimmbar annehmen, natürlich nur ein verkleidender Mantel für das dahinter stehende Problem, das unglaublich primitiv ausgedrückt werden kann: Bleibt die Grenze des sowjetischen Imperiums die Elbe und Werra oder wird sie zunächst die Oder upd Neiße mit der Möglidikeit einer früher oder später unabdingbar werdenden Verschiebung auf die Linie des Jahres 1937? Es hat keinen Sinn, sich über die so zugespitzte Fragestellung mit nebelhaften Phrasen hinwegzutäuschen. Und es hat, diese Konsequenz sei ernüchternd vorweggenommen, auch keinen Sinn, sich einzureden, daß das Reden und Notenwechseln über diese ominöse Frage zu einem konkreten Erfolg führen kann, solange es hier nicht zu einer neuen Situation weltpolitischer Art gekommen ist, deren Herbeiführung nicht durch die Stimmabgabe des deutschen Wählers erreicht werden kann. Alle Vertuschung dieses Tatbestandes ist ein Herumreden um den heißen Brei.

Untersuchen wir die bisher vorliegenden maßgeblichen Auffassungen des Westens und des Ostens, denen nach der jüngsten Sowjetnote vom 23. Oktober erhöhte Bedeutung zukommt, weil Rußland sich ausdrücklich bereit erklärt hat, den sogenannten „Eden- Plan“ zur ernsthaften Diskussionsgrundlage einer neuen Viererkonferenz (interessanterweise ohne den Vorschlag einer Beiziehung Chinas!) zu machen, unter der Voraussetzung, daß auch die sowjetischen Vorschläge gebührend berücksichtigt werden. Beide Pläne für die Gestaltung Gesamtdeutschlands wurden auf der Berliner Konferenz kurz nacheinander in den letzten Jänner- und ersten Februartagen dieses Jahres unterbreitet. Die Sprecher der USA und Frankreichs schlossen sich im wesentlichen den Vorschlägen Edens an. Sie haben seither diese Stellungnahme nicht revidiert oder durch eigene Zusatzmeinungen ersetzt, so daß man hier von einer einheitlichen Stellungnahme des Westens sprechen kann. Uebri- gens verstehen die Westmächte unter der in ihrer letzten Note an die Sowjets neben dem Abschluß des österreichischen Staatsvertrages ausgesprochenen Präliminar forderung nach freien, gesamtdeutschen Wahlen wohl stillschweigend den oben erwähnten „Eden- Plan“.

II.

Wie sehen diese beiden Vorschläge nun aus? Ihre Grundtendenz ist formal die gleiche: im Sinne der Potsdamer Beschlüsse von 1945 die Wiedervereinigung- Deutschlands durch Schaffung einer Zentralregierung herbeizuführen, die aus freien Wahlen hervorgegangen sein muß. Mit dieser Regierung soll dann der fällige Friedensvertrag abgeschlossen werden. Die Hauptunterscheidung liegt, befreit von allem Beiwerk, in zwei Punkten: Eden verlangt, daß diese Wahlen unter der Kontrolle der vier noch auf dem Papier bestehenden deutschen Besatzungsmächte v o r der Bildung einer Regierung erfolgen, Molotow verlangt, daß zunächst eine gesamtdeutsche Regierung aus Vertretern beider Teilstaatsparlamente (er spricht nicht von Regierungsvertretern) gebildet wird, sodann sollen sämtliche Besatzungstruppen das deutsche Gebiet bis auf einige Sicherungskräfte räumen. Dann erst sollen unter der Autorität der provisorischen Regierung freie Wahlen erfolgen. Bezüglich des weiteren Weges besteht auch eine erhebliche Meinungsverschiedenheit, die jedoch nach dem Scheitern der damals noch aktuellen EVG und ihrer Ersetzung durch die vorliegenden Londoner und Pariser Verträge, die hier von vornherein einen anderen Paragraphen formuliert haben, gegenstandslos geworden sein dürfte. Es ist dies die Frage nach der Bewegungsfreiheit der künftigen gesamtdeutschen Regierung, die die Sowjets vertraglich durch ein Bündnisverbot auf unbegrenzte Zeit einengen, die Westmächte jedoch dem freien Ermessen dieses neuen Souveränitätsträgers (völkerrechtlich korrekt) anheimstellen möchten. An diesen beiden Punkten scheiterte praktisch das Deutschlandgespräch der Berliner Konferenz. Wenn es nun, dem neuen sowjetischen Vorschlag folgend, an dieser Stelle wieder aufgenommen werden würde, erhebt sich die logisch nur schwer zu beantwortende Frage, w i e der Gegensatz überbrückt werden soll. Nicht nur Eden selbst, sondern auch die Westmächte haben diesen Vorschlag als eine Minimalforderung bezeichnet, von der sie, wie auch ihre letzte Note zeigt, grundsätzlich genau so wenig abgehen können wie von der Forderung der totalen Räumung Oesterreichs nach Inkrafttreten des Staatsvertrages. Die Sowjets haben bis zur Stunde ebenfalls vermieden, ein Abgehen vom Molotow-Vorschlag auch nur anzudeuten. Als Begründung führte Molotow nebenbei an, daß eine ausländische Kontrolle, die der „Eden-Plan“ auf die einzelnen Wahlkreise ausdehnen und durch Sicherungsbestimmungen für die einzelnen Kandidaten und Parteien vor und nach dem Wahlgang sinngemäß ergänzen will, mit der demokratischen Würde des deutschen Volkes unvereinbar sei. (Nun, man hat es russischerscits in diesem Punkt vor noch nicht allzu langer Zeit ein bißchen weniger heikel gehandhabt!) Sei dem aber, wie es sei: Dezidierte Meinung steht gegen dezidierte Meinung, und das Problem erscheint für den logischen Beobachter grundsätzlich unlösbar. Wenn, ja wenn man es eben nur isoliert vom „Fall“ der deutschen Wahlen her sieht. Hierbei taucht allerdings eine bislang noch nicht direkt gestellte Sinnfrage auf.

Müssen die Sowjets, vorausgesetzt, daß sie nicht der Narkose der eigenen Propaganda erlegen sind und an die 99,9 Prozent der letzten kommandierten Stimmabgabe vom 17. Oktober in Mitteldeutschland selbst glauben, sich nicht eigentlich realistisch sagen, daß sie die Zone und damit die strategische Position an der Elbe-Grenze der heutigen Welt unter allen Umständen verloren haben, wenn sie auch nur den Schatten eines Schattens geheimer Wahlen zulassen? Müssen sie nicht wissen, daß es ja gar nicht darauf ankommt, ob Adenauer persönlich in Chemnitz sprechen, ob die Deutsche Rcichs- partei in Görlitz kandidieren, oder ob ein nach Westen geflüchteter ehemaliger Minister der Liberaldemokraten nun als immuner Kandidat wieder in seinem Heimatkreis auftauchen kann? Jeder Kenner der Verhältnisse und der Volksstimmung wird ihnen versichern können, daß allein die Möglichkeit, einer noch so illuster aufgeputzten und mit irgendwelchen Mitläufern aus Ost und West garnierten, aber kommunistisch bestimmten oder auch nur mitbestimmten Liste in der wirklich geheimen Wahlzelle eine Abfuhr zu erteilen, durch — allermindestens — 80 Prozent der Bevölkerung der heutigen Sowjetzone genützt werden würde. Gewiß können formale Behinderungen durch irgendwelche Kommissionen, in denen Ostzonenkommunisten mitbestimmen, dies alles aufhalten, ein wenig vertuschen oder auch im einen oder ändern lokalen Fall durch illegalen Zwang unterbinden, aufzuheben ist diese Entwicklung nicht und der bloßen Andeutung einer freien Wahl folgt — vielleicht in einigen Etappen — der Sturz Ulbrichts, Piecks und Grotewohls und die Auflösung des SED-Regimes wie das Amen im Gebet. Wir unterschätzen die Intelligenz der Sowjets nicht so, daß wir ihnen diese Kenntnis der wahren Sachlage nicht auch zutrauten. Daraus geht aber hervor, daß sie an den Modalitäten der freien Wahlen selbst eigentlich doch nur aus Prestigegründen interessiert sein können.

Völlig freie Wahlen mit der Möglichkeit der Entscheidung des mitteldeutschen Wählers für die heutigen Parteien der Bundesrepublik und zugleich für die der KPD gleichgesetzte SED, vor allem aber die Zulassung der Sozialdemokratie in ihren sächsisch-thüringischen „Traditionsländern“, würden das Verschwirden des heutigen Zonen-regimes so geräuschvoll machen, daß man im Kreml propagandistische Rückwirkungen auf die nachbarlichen Satellitenstaaten befürchtet. Ein in offener Wahlschlacht geschlagener und davongejagter kommunistischer Diktator muß auch in Prag und Warschau ein demoralisierendes und höchst anstößiges Bild vermitteln. Sollte es also hier wirklich nur darum gehen, die Sowjets ihr Gesicht wahren zu lassen, dann könnte schließlich doch mit einem Nachgeben der Westmächte, vor allem der kompromißbereiten Engländer, gerechnet werden. Hier also kann bei genauer Ueberlegung die Hauptschwierigkeit nicht liegen.

m.

Bleibt also doch der schon in Molotows Wunsch nach einer völkerrechtlich bedenklichen Bindung des deutschen Volkes an einen Zustand der ewigen Bündnislosigkeit als des Pudels Kern. Dieser sowjetische Wunsch ähnelt aber dem Wesen nach völlig der Forderung an Oesterreich, nach dem Staatsvertrag, der, wenn er in der gegenwärtigen Form unterzeichnet wird, schon Bomben mit Zeitzündung gegen unsere Freiheit genug verbirgt, fremde Truppen im Land zu lassen. In beiden Fällen verlassen die Sowjets im allerentscheidendsten Punkt den sonst so eifersüchtig gehüteten Boden des Rechts (formell wie auch materiell) und nehmen Zuflucht zu einer rein machtpolitischen Argumentation. Volkstümlich gesprochen, hat in beiden Fällen das Gespräch einen Punkt erreicht, an dem man bei Geschäftsbesprechungen zu sagen pflegt: „Also redn mer deutsch!“ Und es ist unsere Meinung, daß dieses „Deutsch“-Reden im Grunde das ist, worauf die Sowjets — bei allem Wortschwall doch unsicher und ungelenk — eigentlich warten. Sie warten auf ein zwar konkretes, möglichst aber vertrauliches Angebot der Westmächte, das ihnen zusichern soll, daß ihre praktische Räumung Deutschlands und Oesterreichs kein Nachrücken von Kräften bedeutet, die ihren Besitzstand in den Satellitenstaaten beeinträchtigen könnten. Es ist ein offenes Geheimnis, daß hier auch die Meinungen nicht nur der Westmächte, sondern auch der maßgeblichen Kreise in den einzelnen Ländern der Demokratie auseinander gehen. Die USA haben erst jüngst in einer unerwartet scharfen Replik offiziöser Art auf eine Darlegung des des Neutralismus bestimmt nicht verdächtigen deutschen Kanzlers zu verstehen gegeben, daß für sie die Freiheit auf der ganzen Welt unteilbar sei und zu den Voraussetzungen, die Rußland für eine Koexistenz erfüllen müßte, unter anderem die Herausgabe des Baltikums gehört, dessen Einverleibung im allgemeinen Trubel von 1940 (nebenbei mit des „großen Führers“ Beihilfe!) die USA bis heute nicht diplomatisch anerkannt hätten.

Daß angesichts solcher Auffassungen die sowjetische Bereitschaft, auch nur einen Fußbreit Boden aufzugeben, nicht eben wächst, liegt auf der Hand. Daß anderseits die verlockende Formel der Koexistenz auf Kosten der Freiheit irgendeines Menschen, auch wenn er „nur“ ein weitab wohnender Litauer oder Este ist, den Beigeschmack einer zynischen Brutalität erhält, liegt allerdings genau so auf der Hand. Hier aber ist auch das eigentliche Dilemma, das im Grunde auch unser Inneres zerreißt und das in seiner letzten Tiefe und in seinem verantwortungsvollen Ernst als ein Gewissenskonflikt zwischen Friedensgebet und brüderlicher Verantwortlichkeit vielleicht doch nur der Christ ganz erfassen und ganz durchleiden kann. Hier kann man keine Antwort geben, und nicht nur wir können sie nicht geben, sondern auch viel, viel bedeutendere, kenntnis- und einflußreichere Menschen der freien Welt verstummen angesichts dieser Frage.

Der Kreml aber wird sie wahrscheinlich immer wieder stellen. Er wird dem heute doch unsicherer als noch vor Jahresfrist gewordenen deutschen Volk im Westen immer wieder den Traum der gesamtdeutschen freien Wahlen vorgaukeln und die damit verbundene Forderung nach Neutralisierung nur nebenbei erwähnen. Und niemand wird aussprechen, daß das deutsche Volk, wenn es ihm — was in den Bereich des Möglichen gerückt ist — belieben sollte, die fälschlich als antinational denunzierte Politik Adenauers zu verlassen und einem nationalegoistischen Neutralismus zuzusteuern, mit seiner Einheit (natürlich ohne die deutschen Ostgebiete) zugleich den Kaufpreis entrichtet, die westliche Welt, die bei allen ihren Schwächen, Fragwürdigkeiten’und Skandalen, die wir eher schwärzer als schwarz darstellen möchten, aufzuspalten und damit die Freiheit Rest-Europas zu zerstören.

Gewiß: Unter schwarzweißroter Fahne könnte auf den Plätzen Dresdens und Weimars unter einer sozialdemokratisch-national- liberalen Regierung getanzt werden. Unter der Tanzfläche aber wäre das Stöhnen der Millionen und aber Millionen zu hören, die durch einen von Deutschlands nationalistischer Ungeduld besiegelten Status quo für immer der sowjetischen Botmäßigkeit überantwortet sind. Wenige Jahre später hätte man weder in Berlin noch auch in Paris oder London mehr Zeit, um einen Augenblick lang ah Prag, Warschau oder Budapest zu denken. Man hätte die brennendsten Sorgen um das eigene Land und sein Weiterbestehen in bürgerlicher Freiheit Dem Schrecken ohne Ende, dessen Last für die Menschen der deutschen Herzensmitte wir nur allzu gut kennen, wäre auf diesem Umweg das Ende mit Schrecken gefolgt. •

Und über all-dies wird in diesen Wochen und Monaten verhandelt!

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