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Advent„predigt” eines Politikers

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In wenigen Monaten werden 20 Jahre seit der Wiedererrichtung Österreichs im Jahre 1945 vergangen sein, also jenes Staates, dessen Name nicht allein ein Staatsgebiet bezeichnet, sondern der ‘darüber hinaus eine überstaatliche Ordnungsidee symbolisiert. Sicherlich: Deren in Jahrhunderten historisch gewachsene politische Erscheinungsform ist 1918 endgültig zerbrochen, was aber nicht besagt, daß diese Ordnungsidee an unser Glück und unser Leid, in der Vergangenheit und — in der Zukunft.

Der politische Sprachgebrauch prägte für das 1945 wiedererstandene Staatsgebilde, präziser ausgedrückt, für den damals begonnenen Abschnitt unserer neuösterreichischen Geschichte die Bezeichnung „Zweite Republik”. Nach dem Gedenken an ihre Entstehung werden wir sodann noch ein zweites Fest feiern, das der uns zum Prinzip der Evolution in einer echten demokratischen Auseinandersetzung der politischen Kräfte dieses Landes.

Gerade jetzt, am Vorabend zweier so bedeutender Jubiläen der Zweiten Republik und im Lichte der innenpolitischen Entwicklung seit etwa drei Jahren mag eine kritische Sondierung und Bestandsaufnahme nötig sein. Ist unser Staatsbewußtsein tatsächlich so lebendig, so fest verankert, wie wir es sehen, wie es in Festreden zum Ausdruck kommt, oder entspringen diese Behauptungen nur der Selbstberuhigung von Politikern, die wie der Voigel Strauß den Kopf vor Tatsachen in den Sand stecken, weil sie nur an ihre Bequemlichkeit, an ihre Pfründen und ihre Machteinflüsse denken? Ist dieser Staat mehr als gleichsam ein Automat,’ bei dem oben eine Schillingmünze eirigeworfen wird, damit machte; an die Zeit vor 1933 in Deutschland, in der man das System, nämlich das parlamentarische, so lange als korrupt und überlebt verunglimpfte, bis die Diktatur ihr Erbe an treten konnte; ich erinnere mich an die Zeit nach 1945, wo an allem die Nazi schuld sein sollten; und an die Zeit vorher, in der man als Inbegriff allen Übels die Juden hetzte und verfolgte. Aus allen diesen tönenden, dummen, hohlen Phrasen erwuchsen grauenhafte Folgen: Bürgerkriege, Massaker, Konzentrationslager, denen schön der Reihe nach alle zum Opfer fielen, die Juden, die Sozi, die Nazi und die Vaterländischen. Sie werden daher verstehen, wenn ich Angst davor habe, daß heute aus den abfälligen Pauschalurteilen über die Politiker und die Parteien neuerlich etwas Furchtbares erwachsen könnte, nämlich aus Unwissenheit und Dumm- laise wegen Arbeitslosigkeit und Hunger. Und man vergesse bei all dem Gejammer über die Mängel unserer Demokratie nicht ihre großen Erfolge seit 1945; daher stecke man nicht bedeutende Gesetzeswerke der letzten Jahre wie eine wertlose Zündholzschachtel ‘ nachlässig in die Hosentasche und überdimensioniere nicht Stürme im Wasserglas zu eingebildeten Orkanen. In manchen Staaten gibt es trotz günstigerer Ausgangspositionen schlechtere Lebensbedingungen als bei uns; und keinen zweiten Staat gibt es auf dieser Welt, der trotz seinerzeitiger westöstlicher Besetzung heute der freien Welt als souveräner Staat angehört. All das ist offenbar nichts in den Augen mancher Leute, die in salopper, intellektueller Blasiertheit ihre Federn in die Tinte der Kritik tauchen.

Churchill sagte einmal, die Demoich heute keinen realen Inhalt mehr besitzt, denn sie entspricht der übernationalen, zwischenstaatlichen Funktion Österreichs im europäischen und mitteleuropäischen Kräftefeld, die überzeitlich gültig ist.

Politische Formen können zerbrechen, Funktionen jedoch suchen sich einen neuen, zeitgerechten Rahmen realer Wirkungsmöglichkeiten, auch heute, trotzdem oder gerade weil unser politisches Dasein an der Schnittfläche von Ost und West fixiert ist. Politische Ausstrahlung an einem solchen Ort und zu einer solchen Zeit bedarf jedoch eines starken nationalen Sendungs- und Selbstbewußtseins. Nur aus einem solchen erwächst jene Selbstsicherheit, die nötig ist, um Gefahren zu trotzen und unvermeidbare Risken einzugehen. Ein die Herzen kalt lassender, nachtwächterischer Wohlfahrtsstaat gleicht der trügerischen, wenngleich blühenden Decke eines Moores. Er meistert nicht echte politische Gefahren, er versinkt rettungslos in ihnen. Staatsidee, Staatsbewußtsein und deren Symbol, die Fahne, sind daher Schall und Rauch, irgendein buntes Tuch, wenn sie nur rational begründet und kein echter Gefühlswert sind. Die rotweißrote Fahne sind wir selbst, sie symbolisiert unser staatliches und damit auch unser ureigenstes persönliches Schicksal, Erinnerung an die Erringung ihrer endgültigen Freiheit und Souveränität durch den Abschluß des Staatsvertrages vor zehn Jahren. Ein Jahrzehnt nur allzu berechtigter banger Sorgen um die Zukunft war damit beendet. Eine patriotische Hochstimmung sondergleichen erfüllte die Herzen aller Österreicher vom Bodensee bis zum Burgenland. Die rotweißrote Fahne war kein bläßliches Verlegenheitssymbol wie in der Ersten Republik, sie war Gegenwart, glückhaftes Symbol des Ausharrens und des Sieges, Kampfzeichen und in die Zukunft weisendes Panier eines flreiheitsbewußten Volkes. Hüten wir dieses Erbe. Die Freiheit erkämpften wir nicht allein deshalb, weil eine kluge politische Führung den weltpolitisch günstigen Augenblick für den Abschluß des Staatsvertrages instinktsicher erkannte und nützte, sondern weil das österreichische Volk in den kritischen zehn Jahren in eiserner Disziplin trotz parteipolitischer Gegensätze seine innere Geschlossenheit bewahrte.

Man soll aus der Geschichte lernen, sagt ein altes Sprichwort. Die Österreicher zwischen 1945 und 1955 haben die Lehren aus ihrer eigenen Geschichte der Ersten Republik gezogen. Sie hatten erkannt, daß diese Erste Republik an ihrer inneren Zerklüftung zugrunde ging, an den haßerfüllten Auseinandersetzungen, die über die Barrikaden zum Untergang der Freiheit und des Staates führten. So war in dieser Zeit ein österreichisches Wunder geschehen. Ich meine nicht das Wirtschaftswunder, von dem wir heute sprechen können, sondern das Wunder, daß etwas entstanden war, was der Ersten Republik fehlte, nämlich erstmals ein gemeinsames österreichisches Staatsbewußtsein. Heute schielen wir nicht zurück in eine schwarzgelbe Vergangenheit, wir schielen nicht über irgendeine schwarzrotgoldene oder schwarzweißrote Grenze und wir träumen nicht von einer revolutionär herbeigeführten sozialen Zukunftsutopie; wir sind realistisch, nüchtern und bekennen unten eine Tausendschillingbanknote herausfällt, und den man verschrottet, wenn er diese Aufgabe nicht erfüllt? Ich glaube, sowohl im Einzelleben als auch im Leben eines Volkes gelten die gleichen Gesetze: Niemals ist etwas Errungenes für alle Zeiten gesichert, ständig muß es bewahrt, geschützt und verteidigt werden, niemals ist ein Zustand endgültig; und so ist auch das Schicksal eines Volkes eine uns ständig neu gestellte Aufgabe. Alles kann verlorengehen, wenn drohende Gefahren nicht rechtzeitig erkannt werden.

Ich bin der Meinung, die Wohlstandsbürger Österreichs sollten nicht auf das Eis tanzen gehen, nicht die Wähler, nicht die Gewählten und auch nicht die Journalisten, denen mit der Pressefreiheit eine ungeheure Verantwortung aufgela- stet ist. Immer noch liegt Österreich am Eisernen Vorhang, im Spannungsfeld des Ringens um Europas Mitte, immer noch lauern Gefahren, die wirksam werden können, wenn das innenpolitische Klima sich verändert. Wenn es einmal zu einer Krise kommt — was immer wieder geschehen kann und geschehen wird —, dann müssen politische Führerpersönlichkeiten mit Verantwortungsbewußtsein da sein, die nicht nur den Splitter im Auge des anderen, sondern auch den Balken im eigenen erkennen, damit die notwendigen Augenoperationen rechtzeitig durchgeführt werden.

Wirklich demokratischen Politikern ist gemeinsam die Erkenntnis, daß die Auseinandersetzung über die gesellschaftspolitischen Leitbilder, die richtige Gesellschaftsform, über das, was nach unserem Glauben von Vor- oder Nachteil für die Sicherung der menschlichen Person und Existenz ist, eine Auseinandersetzung des Geistes sein und bleiben muß. Der Wahrheitsgehalt von Ideen kann nicht mit Maschinengewehren, Prügel und Gebrüll nachgewiesen werden.

Hüten wir uns daher vor Pauschalurteilen. Ich erinnere mich an die Zeit vor 1938, in der man für alles Übel die Sozialisten verantwortlich heit eine Sehnsucht nach einer neuen Diktatur. Schon jetzt wird gelegentlich, unterschwellig, der Ruf nach Führern erhoben, die angeblich der Demokratie erst den richtigen Inhalt geben sollen. Sicherlich: Auch die Demokratie braucht Autorität, Mut zur Verantwortung und Persönlichkeiten. Aber demokratische Führerpersönlichkeiten identifizieren sich nicht selbst mit dem Schicksal der Nation; sie respektieren Toleranz und Menschenwürde, Freiheit und Persönlichkeit.

Die Demokratie kennt keine Verbotstafeln; aber Verbote sind auch in einer demokratischen Gesellschaftsordnung nötig, nur trägt man in dieser Ordnung die Verbotstafeln in sich und in seinem eigenen Gewissen. Diese Verbotstafeln markieren die Grenze zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit. Wir wallen keinen Zwang, aber wir wallen auch nicht die wirkliche Freiheit durch Willkür in der Ausübung eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffes verlieren. Hier liegen die unverrückbaren Grenzen zwischen einer berechtigten und notwendigen, staatspolitisch positiven und einer negativen, zersetzenden Kritik. Alle verantwortungsbewußten Kritiker sollten sich erinnern, daß schon einmal im Autoritätsschwund von Demokratie und Parlamentarismus als erstes die Freiheit des geschriebenen Wortes verloren gegangen ist; maßlose Kritiker und maßlos Kritisierte sich in den Konzentrationslagern getroffen haben.

Vielleicht ist es eine harte Sprache, die ich spreche, aber nach meiner Meinung haben Politiker — wenngleich es für demokratische Politiker in einei- Demokratie nicht leicht ist — die Aufgabe, nicht nur nach dem Mund zu reden, sondern die Wahrheit zu sagen.

Man liest gelegentlich von einer vorhandenen Malaise. Natürlich gibt es die. Aber immer noch scheint es mir besser, von einer Malaise unserer sogenannten Wohlstandsgesellschaft zu hören, als von einer Ma- kratie sei die schlechteste Staatsform, aber er kenne keine bessere. Aus diesem Satz spricht eine tiefe Weisheit, denn jede menschliche Institution hat ihre Mängel und Fehler. Aber in der Demokratie werden sie offenkundig, und immer noch ist die schlechteste Demokratie besser als die beste Diktatur. In ihrer scheinbaren Schwäche liegt in Wirklichkeit ihre Stärke. Vergessen wir anderseits auch nicht, daß letzten Endes in der Politik die Ideen von entscheidender Bedeutung sind. Die Politik darf kein Selbstzweck sein, sie bedeutet ideell aktives Mitgestalten an der Entwicklung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Freilich ist deren letzte Problematik nicht lösbar wie ein mathematisch-technisches Problem. Deshalb wird immer ein Rest des Glaubens, des Für-wahr-Haltens übrigbleiben, ein Rest, der hinüberspielt in letzte Seinsfragen;, denn immer wind das, was man im gesellschaftlichen Bereich für richtig hält, letzten Endes davon abhängen, wie man den Menschen selbst, seine Stellung und den Sinn seines Daseins im Kosmos bewertet. Es sind dies Grundfragen, die jeder Generation und jedem Menschen gestellt sind, Grundfragen, welche die Geister scheiden. Dem Wissenden zeigen sich daher auch hinter solchen Fragen der Tagespolitik, die scheinbar gleiche Anliegen aller Parteien sind, die verschiedensten Leitbilder der gesellschaftspolitischen Grundeinstellung. So ist der Kampf zwischen Ost und West nicht zuletzt ein Kampf der Ideen, und ist auch die Auseinandersetzung um die bestmögliche Form und Struktur der menschlichen Gesellschaft in unserer freien, westlichen Welt, eine Auseinandersetzung der Ideen. Aber diese Auseinandersetzung selbst findet ihre reifste politische Form nur in den Spielregeln der Demokratie, zu der wir alle uns als Staatsbürger, als Menschen, als Wissende und Realisten bekennen müssen. So dienen wir am besten unserem heißgeliebten Vaterland und der Fahne Rot- Weiß-Rot!

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