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Von Hunden, die schlafen

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Vor kurzem jährte sich zum drcißig-stenmal der Tag, an dem Ignaz Seipel, den Freund und Feind als bedeutendsten österreichischen Politiker der Zwischenkriegszeit anerkennen, die Augen für immer schloß. An Erinnerungen und Gedenkartikeln zu diesem Schicksalstag der Ersten Republik fehlte es nicht — wobei es freilich auch eine eher kuriose Bemühung gab, den Mann, der den Österreichern das erste Notdach für ihre neue Existenz zimmerte, als Eideshelfer verschiedener Ressentiments gegenüber dem seither tief eingewurzelten Wissen um österreichische Eigenstaatlichkeit und Eigenständigkeit zu mobilisieren. Über ein solches durchsichtiges Unternehmen kein weiteres Wort. Worüber heute hier gesprochen werden soll, ist die Frage, ob die Generationen der Söhne und Enkel sich aus diesem Anlaß allein mit einer Schweigeminute für einen Toten begnügen dürfen, den viele nur noch dem Namen nach, gar nicht wenige der ganz Jungen selbst so nicht mehr kennen? Wir meinen dagegen: Die Wiederkehr dieses Schicksalstages der Ersten Republik und alles, was sich nach ihm und durch ihn in Bewegung setzte, könnte auch in diesem Jahr 1962 — vielleicht gerade 1962 — jenen, die noch nicht restlos abgestumpft sind, eine Mahnung sein.

Parallelen zwischen dem Österreich ides Jahres 1932 und jenem des Jahres 1962! Ist das nicht wirklich weit hergeholt?

Gewiß: wenn wir die Bühne des vordergründigen Geschehens überblicken, hat unser Kritiker alles Recht für sich. Österreich, August 1932: Im Parlament tobt die hitzige Auseinandersetzung über die Lausanner Anleihe. Der neue Bundeskanzler Dollfuß wird von der massiven Opposition der Sozialdemokraten und Deutschnationalen in die Zange genommen. Ein Antrag seiner Gegner wird nur durch die Stimme des Ersatzmannes, der nach dem Ableben von Dr. Seipel - rasch, rasch — von den Parteifreunden ins Parlament gebracht wird, abgewehrt. Jm benachbarten Deutschland steigt die braune Flut. Die trotz drückender Augusthitze abgehaltenen Reichstagswahlen bringen Papen an die Macht. Die Zeitungen melden täglich Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten. Aber auch im Inland schaut es trostlos genug aus. Selbst wenn wir unseren Blick von den unter sich verzankten und verzahnten politischen Parteien weglenken, ist das Bild grau in grau. „Ein böser Sommer für den Fremdenverkehr“, meldet eine Schlagzeile. Im Inundationsgebiet zwischen den großen Donaubrücken tummelt sich inzwischen das Heer der Wiener Arbeitslosen. Die mageren Körper sind zwar braungebrannt, unter den Stirnen aber herrscht dumpfe Hoffnungslosigkeit; da und dort flammt Rebellion auf. Wenn einer ihnen erzählen wollte, daß ihre Söhne und Töchter vielleicht auf den Tag genau dreißig Jahre später nach Mallorca fliegen oder ihren Urlaub an der Costa Brava verbringen werden: Der Prophet hätte besser getan, sich schleunigst aus dem Staub zu machen ...

Mit unseren gerade in Mallorca gelandeten oder an der Costa Brava badenden Zeitgenossen sind wir von unserem Ausflug in die Schattenwclt der dreißiger Jahre wieder in der Gegenwart angelangt. Welch veränderte Welt! Von den ihren wohlverdienten Urlaub im Ausland genießenden Sozialtouristen war schon die Rede. Der heimische Fremdenverkehr hat. auch keinen berechtigten Grund zur Klage. Die Schornsteine rauchen, mag man auch da und dort, von Rezession, von Abschwächungen oder — um das letzte Modewort für wirtschaftliche Krisenerscheinungen zu gebrauchen — von einer ,,Pause“ sprechen. Die Wandelhallen des Parlaments, in denen sich vor drei Jahrzehnten die Gemüter bis hart an den Rand von Tätlichkeiten erhitzten, stehen verödet da. Vor Monatsfrist hat man hier das neue Schulgesetz, an dem sich durch beinahe ein halbes Jahrhundert die Gegner wund rieben, beinahe geräuschlos über die Bühne gebracht. Nein, nein — unser Kritiker steht wieder vor uns: Das Österreich von 1962 ist grundverschieden, wenn man es mit dem des Jahres 1932 konfrontiert. Wer Analogien sucht, findet sie höclr^ens an der Spitze des Kulturteils der TagesDresse, wo „Der neue Jedermann“ in Salzburg vorgestellt wird, und im Filmbericht, wo wir erfahren, daß „Dracula“ im Burg-Kino seinen Einzug nimmt. . .

Daß das heutige Österreich grundverschieden von dem Staat gleichen Namens ist, der sich vor drei Jahrzehnten seinen Bürgern und der Umwelt präsentierte, wurde nie in Abrede gestellt. Auch konnte es niemand einfallen, Parallelen im äußeren Erscheinungsbild unseres Staates anzustellen. Wir wären aber weder geborene, geschweige denn gelernte Österreicher, wüßten wir nicht, daß im Heimatland Nestroys das Leben gern auf zwei Ebenen über die Bühne läuft. Von den Vorgängen hinter dem Vorhang und hinter den Kulissen ganz zu schweigen. Das Bild, das das heutige Österreich dem flüchtigen Beschauer und auch den in den Tag hinein lebenden Normalverbrauchern bietet, ist ein schönes. Das heißt für viele Menschen: Es ist offenbar frei von jeder tiefergehenden Problematik.

Wer jedoch nur auch ein wenig an dem Lack dieser Fassade kratzt, der bekommt alsbald anderes zu sehen. „Es steht nicht in allem gut in unserem Vaterland ... Was sich hier aufzulösen droht, ist mehr als die Zusammenarbeit von über eineinhalb Jahrzehnten. Hier löst sich alles auf, das alles, auf dem wir unser Vaterland nach Krieg, Unterdrückung und fremder Besetzung neu aufbauten ...“ Diese Worte schrieb kein exaltierter Journalist, keine Kassandra vom Dienst. Niemand anderer als Kardinal König hat so zu Ostern über das Fernsehen gemahnt. Es war nicht das einzige Mal.

Und der Erzbischof von Wien hat,damit nur dem großen Unbehagen Aus-, druck gegeben, das so viele und nicht die schlechtesten Söhne dieses Landes seit geraumer Zeit befallen hat.

Ob man es wahrhaben will oder nicht: Man mag die Zirkel der Intellektuellen ruhig verlassen, man kann diesem oder jenem hohen Staatsbeamten begegnen, man kann einem handfesten Bauern gegenübersitzen oder mit einem verantwortungsbewußten Gewerkschafter ins Gespräch kommen. Immer und überall wird man — in den letzten Monaten mit verschärftem Akzent — Variationen über das Thema ,,Es steht nicht in allem gut in unserem Vaterland“ zu hören bekommen. Die Sorgen werden von dem einen oder anderen Gesprächspartner verschieden interpretiert werden. Letzten Endes münden sie aber alle in der Feststellung, daß unser politisches Leben in erschreckendem Ausmaß einem Auflösungsprozeß ausgesetzt ist, daß seit dem Abgang Raabs ein rapider Abbau an Autorität stattgefunden hat, der auch der Demokratie nicht gut tun kann. Es will schon etwas heißen, wenn der ansonsten eher als zurückhaltend und vorsichtig bekannte Präsident des Nationalrates, Maleta, den Abgeordneten als Abschiedswort die Erinnerung in die Ferien mitgab: „Parlament und Regierung müssen auch in einer Demokratie, müssen gerade in einer Demokratie Autorität wahren und verkörpern.“

1h Gesprächen wie den oben skizzierten wird die Rede selbstverständlich auch auf die innere Situation in den beiden Regierungsparteien kommen. Hier werden die Einzelbefunde selbstverständlich verschieden sein. Einmütig wird r'ier immer wieder eine nur manchem Funktionär verborgene fortschreitende Verkarstung des politischen Erdreiches verzeichnet. Hier wächst nichts nach. Auf einem solchen Boden können sich profilierte Persönlichkeiten kaum entfalten.

Politische Gewissenserforschungen enden 1962 in Österreich zumeist mit dem halb erleichterten, halb beklommenen Schlußsatz: ,Ja, solange, die Konjunktur anhält, geht alles gut.“ Was hernach eintritt, wenn dies nicht mehr der Fall sein sollte, wird nicht verraten.

„Es ist zweifellos, daß die innerpo-Iitischc Situation heute eine gewisse Wirrnis darstellt, dde für eine Prognosestellung recht ungeeignet ist.“ Nein, lieber Leser, nein, verehrter Kritiker: Das ist kein Kommentar aus diesen Sommerwochen, so treffend er auch ist. Das. ist vielmehr eine Bemerkung des Leitartiklers der „Reichspost“ — eben aus dem Sommer 1932.

Tatsächlich ist der Zuckerüberguß der Konjunktur heute wahrscheinlich das einzige, was unsere wieder müde gewordene Demokratie vor einem neuen Ausbruch unkontrollierter Leidenschaften, vor bewegten Ereignissen — freilich wiederholt sich die Geschichte nicht sklavisch — bewahrt, wie sie dem Tode Seipels im Jahre 1932 folgen sollten. Die Hunde politischer Leidenschaften schlafen. Man soll sie nicht wecken. Man soll aber noch weniger die Augen davor verschließen, daß sie noch im Haus sind.

Panikmache! Manche, in ihren politischen und anderen Geschäften gestört, mögen so oder ähnlich reagieren. Das darf nicht hindern, immer klarer und deutlicher auszusprechen, was ist. In inem Reigen unbequemer Mahner, der von niemand anderem angeführt wird als von dem Wiener Kardinal, reihen wir uns mit Abstand gern ein. Und wenn der Präsident des Gewerkschaftsbundes seit seiner Rede in Trieben vor Jahresfrist mehr als einmal, zuletzt im „Forum“, mit einem grundsätzlichen Befund über „Charakter und Politik“ in die Nähe solcher Gedankengänge gekommen ist, so kann es nur freuen. Nicht zuletzt hat wiederum der Präsident des Nationalrates in der von uns schon erwähnten Rede, die mehr war als ein Urlaubswunsch an die Abgeordneten, festgehalten:

„Eine demokratische Ordnung ist nicht ungefährdet, wenn das Hinter' gründige, die emotionalen, gefühlsmäßigen Strömungen in unserer Gesellschaft, übersehen werden, die vorläufig noch von der spiegelglatten Fassade des Wohlfahrtsstaates überdeckt sind. Wir sollen daher unbequeme Wahrheiten selbst erkennen und aussprechen. Wir schwächen damit nicht, sondern festigen damit vielmehr das Ansehen des Parlaments.“

Die Situation dieser Wochen und Monate ist nicht gut. Sie ist krisengeladen und in ihren letzten Auswirkungen noch nicht klar zu übersehen. Aber handelt es sich nicht um ein typisches Vorwahlklima? Werden die kommenden Nationalratswahlen nicht Klärung und frischen Wind in die schlappen Segel der österreichischen Politik bringen? Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Die Wahrheit scheint eher, daß nach einer Neuverteilung der Gewichte von der einen in die andere Schale — oder umgekehrt — das Spiel mit geringen Änderungen weitergeht. Wie lange? Nun, solange die Wohlstandsdecke -die Akteure trägt. Sie zeigt da und dort Sprünge, aber das ficht zur Stunde nur wenige an.

Eine wirkliche Wendung könnte nur aus einer echten Zuständereform erwachsen, die wiederum nur ' ein zeitgemäßes Wort ist für das, was schon Seipel unter der „Sanierung der Seelen“ verstanden wissen wollte. Aber selbst der große Tote wurde hier nur allzu gerne, auch von seinen Freunden, mißverstander;. Es. ist ja schwer von. zu sanierenden Seelen zu verlangen, daß sie sich selbst sanieren sollen. So kam das Fegefeuer des Bruderkrieges, und damit nicht genug: der Gang einer ganzen Generation durch das In-' ferno des Dritten Reiches und des zweiten Weltkrieges. Die Erfahrungen waren schmerzlich, die Vorsätze gut. Mit der Entfernung der Jahre geraten sie nun allmählich in Vergessenheit.

Dabei wird uns doch gerade in unseren kommunikationsfreudigen Zeiten wirklich augenfällig demonstriert, wie die große Vormacht des Westens unter ihrem jungen Präsidenten Ermattungserscheinungen der Demokratie zu Leibe rückt. Nicht immer und nicht überall mit gleichem durchschlagenden Erfolg, aber zäh und verbissen, mit Intelligenz und mit Elan wird die Verbindung von Politik und Geist angestrebt. Schon wurde ein neuer politischer Stil geboren, von dem wir hierzulande noch sehr weit entfernt sind. Österreich notiert geistig, nach dem alten Gesetz der Verspätung, noch tief in den letzten Jahren der Eisenhower-Ära.

Dabei muß angenommen werden, daß auch hierzulande jener politischen Kraft die Zukunft gehört, die den Mut hat, als erste zu neuen Grenzen aufzubrechen, und unter glaubwürdigen Persönlichkeiten eine staatspolitische Mobilisation der Kraftreserven dieses Volkes durchführt. Wir möchten nur hoffen, daß dieselbe auf dem Boden der Demokratie noch möglich ist.

Das Wappen der schönen oberösterreichischen Stadt Grein zeigt zwei Schiffer, die in ihrem Nachen dem gefährlichen Donaustrudel zutreiben. Was tun die beiden? Biien sie zu den Rudern, konzentrieren sie sich auf die lebensgefährliche Strecke, üben sie erhöhte Wachsamkeit? Nichts von alledem. Sie sitzen geduckt in einer Ecke und starren auf einen mit der Schellenkappe geschmückten Narren, der sie durch heitere Spaße von der großen Angst abzulenken versucht.

Das Gleichnis liegt nahe. Die beiden Männer sind unsere Regierungsparteien. Der Narr im Flittergewand ist der Wohlstand mit all seiner Trägheit und Sorglosigkeit im Gefolge. Es gibt keine verbürgte Nachricht, ob die beiden Männer heil durch den nahen Strudel hindurchgekommen sind ...

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