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Die Quadratur des politischen Zirkels

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Eine Serie von Parteitagen mit programmatischen Beratungen und Erklärungen ist vorübergegangen. Innerhalb der SPOe gab es so etwas wie einen Aufstand des alten ideologischen Kerns, demgegenüber der Katholik Dr. Tschadek sich in die Rolle eines Sozialisten zweiter Güte gedrängt fühlte. Am Parteitag der OeVP in Krems wurde das Problem der Entideologisierung behandelt, und die grundsätzlichen Ausführungen des neugewählten Landesparteiobmannes Dr. h. c. Ing. Figl, welche sich gegen ein weiteres Abschreiben von Ideologie wandten und bewußt auf die christliche und demokratische Grundlage hinwiesen, fanden äußerst lebhaften Beifall. Aber auch am FPOe-Parteitag, der vergangenen Sonntag sein Ende fand, spielte die Problematik um eine breitere ideologische Grundlage insofern eine bedeutende Rolle, als das Ringen um die Gewinnung nationaler wie auch liberaler Stimmen nicht nur das Schlagwort von der „national-freiheitlichen Linie" prägte, sondern auch den gruppensprengenden radikalen Nationalsozialismus der Verurteilung preisgab. ,

Die pluralistische moderne Gesellschaft mit ihren zahlreichen Nuancen weltanschaulicher Haltung läßt einer Parteistrategie zwei Möglichkeiten offen: entweder identifiziert sich die Partei mit einer ganz bestimmten, meist sehr einseitigen Ideologie oder sie bemüht sich, mehrere sich nicht widersprechende und irgendwie noch vereinbare ideologische Haltungen in den Wählerschichten anzusprechen und unter einer Fahne zu sammeln. Die Vorteile einer starren

Ideologisierung liegen in der Geschlossenheit, die Vorteile einer aufgeweichteren Ideologie in der größeren Anhängerzahl einer Partei. Wen wundert es, daß im Kampf um die Macht die These vom „weltanschaulichen Pluralismus in der Partei" an Boden gewinnt?

Doch die Problematik liegt tiefer, als das bloße mathematische Kalkül mit Wählerstimmen ahnen läßt. Und sie hat zwei Seiten, die es zu sehen gilt. Einerseits wäre ein Rückfall in die Situation der Ersten Republik ausgesprochen ungut. Die heutige Zeit drängt gerade dazu, an Stelle von weltanschaulichen Ideologien durch die Parteien nur wirtschaftliche Zielsetzungen und klare politische Nahprogramme vertreten zu lassen, der dynamische Umbau unserer Gesellschaft läßt wenig Zeit zu grundsätzlichen Ueber- legungen, und der rasche Tag will nicht langes Planen. Auch ist mit einem solchen Rückfall in ideologisches Kämpfertum weder der Kirche noch dem Staat und seinen Menschen gedient. Auf der anderen Seite bleibt aber natürlich jedes echte wirtschaftliche und politische Ziel, das sich eine Partei setzt, in einem ganz bestimmten Denken begründet, fußt sehr wohl auf einer weltanschaulichen Meinung. Und wer wollte dies überhaupt bestreiten?

Die pluralistische Gesellschaft mit ihren vielen Meinungen hat immer die Tendenz in sich, auch ebenso viele politische Parteien, kleine und kleinste Grüppchen und Fraktiönchen zu bilden. Das auf dem Gebiet der Weltanschauung heute in sich zersplitterte Europa würde seinen Atomisierungsprozeß auf parteipolitischem Gebiete erleben, wenn nicht der Wille zur Selbsterhaltung die Großparteien Europas zu einem gewissen Grad von Entideologisierung zwänge.

Entideologisierung bis zu ein e/m gewissen Grad! Denn es bedeutet die Quadratur des Kreises, den weltanschaulichen Pluralismus, eine irrationale Größe, in eine Partei mit halbwegs fest umrissenen Zielsetzungen einfangen zu wollen. Wir wissen, daß diese Quadiatur ein vergebliches Unternehmen dar- stellt und daß es zum Wesen einer Partei gehört, eben nur Pars, Teil des Volkes, zu sein. Jede Partei hat ein Recht, nach einer Mehrheit für ihre Ziele zu suchen — eine Ganzheit, den

~DIE FURCHE

SEITE 4 / NUMMER 47 21. NOVEMBER 1959

T otalitarismus anzustreben, wäre ihr Ende. So ist letzten Endes der Aufstand des „ideologischen Kernes" in einer Partei oder das „Sich-zur-Wehr-Setzen“ von Randschichtenvertretern ein gesunder Prozeß und der Ausgleich zwischen beiden Strömungen die interne Maxima-Minima-Gleichung politischen Grades, die jede größere Partei nicht nur personell, sondern eben auch ideologisch zu lösen hat.

Allein bei der Frage der Entideologisierung ist wohl auch noch zu beachten, von welcher Ideologie sich eine Partei frei machen will. Die in der Oesterreichischen Volkspartei heute noch führenden Männer des alten christlichsozialen Lagers mußten sich unter bitteren Erfahrungen frei machen von einer Ideologie, die sie konfessionell an einen politisch-militanten Katholizismus gebunden hat, sie mußten sich frei machen von autoritärem Denken als auch von dem Gedanken, der weltliche Schutzarm einer Kirche zu sein, deren Glanz, Größe und wohl auch Macht nicht von dieser Welt sein können. Die Volkspartei war also schon seit 1945 „ent- ideologisiert“ in einem gesunden Ausmaß, und das hat ihr gut getan — wie auch der Kirche. Da sie nunmehr aber bereits auf einer ideologisch breiten Basis steht, indem sie sich zur Freiheit und Würde des Menschen, zu den Naturrechten und zu einem Christentum ohne Konfessionalismus bekennt, kann sie praktisch nichts mehr an Ideologie abgeben, ohne ihr Gesicht zu verlieren.

Teils ähnlich, teils ganz anders liegt der Fall bei der SPOe. Der Austromarxismus galt bereits vor 193 8 in der westlichen Welt als eine Merkwürdigkeit — wie übrigens auch der andernorts nie ganz verstandene und falsch benannte katholische „Austrofaschismus". Sie haben sich beide überholt, ebenso wie der Liberalismus alten Schlags und genau so wie der Nationalismus der europäischen Völker. Die Zeit und die Erfahrung einer modernen Wirklichkeit überholte entschieden jeglichen Marxismus. „Karl Marx hat sich in mancherlei Hinsicht geirrt", sagen die einen Theoretiker, „er hat in vielen Dingen doch recht gehabt", meinen die ändern — und beide Urteile könnten als subkonträre Aussagen durchaus wahr sein und beide bestätigen die Notwendigkeit, marxistische

Thesen abzuändern. Ganz zu schweigen von der eigentlichen Philosophie des Diamat, die absolut nicht mehr in das moderne Weltbild des Atomzeitalters hineinpaßt, was ja auch die sowjetische Intelligenz bemerkt. Daher mußten die Marxisten entideologisieren, und es wird auch den letzten blutroten Mohikanern einer marxistischen Ideologie dieser Weg nicht erspart bleiben. Die österieichischen Sozialisten wie die deutschen haben nur getan, was für sie zu tun notwendig war. Sie entfernen sich von Standpunkten, die heute keine Gültigkeit besitzen, und ringen in echter Weise um Neues — es ist menschlich verständlich, wenn es hierbei dramatisch zugeht.

Ideologien politischer Art kommen, erleben ihre Blüte und werden allmählich uninteressant. Manchmal erleben sie eine kleine oder größere Nachblüte und ein Epigonendasein. Falls es historische Gesetzlichkeiten geben sollte, wäre dies eine. Die Restauration der Bourbonen wie der Bonapartismus eines Napoleons III. waren solche ein Leben vortäuschende Totgeburten, und die geistig regen Zeitgenossen dieser Epochen haben dies mehr als einmal gesagt. Vergangenes hat keine politische Zukunft mehr, wenn der Zeiger der Weltenuhr einmal eine andere Stunde geschlagen hat — realiter gesprochen, wenn einmal andere Problematiken vorhanden sind. Wir wollen hoffen, daß die scheinbar notwendige Nachblüte nationalen und liberal-kapitalistischen Gedankenguts nicht bedeutender wird — sicher ist, daß auch hier historisch Totes kein wahrhaftes Leben mehr entfaltet.

Die Ethik des Christentums hingegen, die christlichen Werte der Nächstenliebe und Verantwortung in Freiheit haben nicht nur durch 16 Jahrhunderte Europa in geistiger Hinsicht das Beste gegeben, sind nicht nur heute wieder stark gefragt, sondern schlechthin überhaupt zu keiner Zeit überholbar. Wer die Freiheit gegen den Kollektivismus, die Menschenwürde gegenüber dem Totalitarismus verteidigt und dabei positiv auf christlicher Ehtik aufbaut;- kann vielleicht einmal eine Wahlschlacht verlieren, aber nie seine Zukunft. Er hat kein neues Programm, aber — wie Dr. h. c. Ing. Figl in Krems betonte — ein ewig gültiges.

Damit ist auch gesagt, daß eine Volkspartei bei einem weiteren „Entideologisieren“ nur noch verlieren könnte, daß sie bei weiteren Preisgaben sich selbst preisgibt. Wer ehrlich und weitsichtig denkt, muß erkennen, welch eine Leuchtkraft gerade allgemeine christliche Grundsätze wie die christliche Soziallehre auch bei religiös weniger gebundenen Menschen besitzen, sobald sie nur richtig „auf den Schemel gestellt“ werden und sobald nicht menschliche Schwäche, politisches Krämertum, katholische Korruptionisten, ja sobald nicht die oft asoziale Haltung mancher Frömmler dieser Leuchtkraft im Wege stehen.

Hoffnungsvoll wirkt, was in jüngster Zeit von der OeVP zu hören war: Die Reform dieser Partei ist nicht die Reform einer Ideologie, sondern die Vertiefung in die vorhandenen guten Ideen — und vor allem das ernsthafte Wahrmachen damit; ihre Zielsetzung liegt damit mehr im Praktischen. Was aber die Zukunft dieser Partei betrifft, so hängt sie stark vom politischen Nachwuchs unten ab. Seine Formierung dürfte die schwierigste Frage sein.

Europa wird nicht mehr den Weg zum Nationalismus zurückgehen können, seine Zukunftshoffnung liegt nicht im Liberalismus und nicht im Marxismus: so liegt sie „links von rechts“ und „rechts von links“. Es scheint, daß unsere österreichischen Großparteien den Weg dahin finden müssen, begrüßt und bejaht VÖm Volk, begleitet vom demokratisch getarnten Unbehagen der Extremisten, deren Stellung als äußerste Flügel und Verfechter des Gestrigen auf längere Sicht hin immer schwächer wird.

DR. KURT SCHUSCHNIGG / ALLE WEGE FÜHREN NACH ROM?

Es war in den spannungsgeladenen Märztagen des Jahres 1938. Durch die Wipplinger- strafJe wälzt sich einer der damals so zahlreichen spontan gebildeten Demonstrationsund Gegendemonstrationszüge. Eine vor wenigen Tagen noch für unmöglich gehaltene politische Gruppierung ist hier verwirklicht. Da ist der Student mit 'dem Abzeichen der Jugendorganisation der „Vaterländischen Front“ am Rockkragen. Der Arbeiter neben ihm hat sich unbeholfen aus Papier ausgeschnittene „Drei Pfeile1 angesteckt. Bei einem dritten tauchen gar Hammer und Sichel auf. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ skandiert es zackig aus einer Guppe auf der anderen Straßenseite. „Heil dem Kanzler Kurt von Schuschnigg“ und „Rot-Weiß-Rot bis zum Tod“ schallt es ihnen entgegen. Der Mann mit den „Drei Pfeilen“ schreit am lautesten . . .

Für eine historische Sekunde hatte sich der Abwehrwille breiter österreichischer Kreise gegen die Auflösung ihres Vaterlandes auf die Person des gestern noch umstrittenen Kanzlers vereinigt. Die Sekunde verging. Ungenützt. Was nachher kam, ist bekannt.

Bekannt sind auch die Stationen im Leben Kurt von Schuschniggs. Einer nachrückenden Generation seien die wichtigsten in Erinnerung gerufen. Am 14. Dezember 1897 wird er als Sohn eines hohen österreichischen Offiziers in dem alten Garnisonsort Riva geboren. Zögling der Stella Matu- tina, blutjunger Frontsoldat, Student der Rechtswissenschaft, schließlich Rechtsanwalt in Innsbruck. Bald holt den in den Gedanken einer christlichen Reichsmystik und des österreichischen Patriotismus aufgewachsenen jungen Akademiker die Politik. Mit 30 Jahren zieht er 1927 als Abgeordneter der Tiroler Volkspartei (so hießen die Christlich-

sozialen in Tirol) und gleichzeitiger Repräsentant der Frontgeneration in den Nationalrat ein. In stürmischen Zeiten rückt er auf die Regierungsbank. 1932 wird, er in der Regierung Dollfuß Justizminister, später zieht er als Hausherr ins Bundesministerium für Unterricht ein. Von hier wird er nach der Ermordung Dollfuß’ 1934 ganz nach vorne — in die Feuerlinie der österreichischen Politik — geholt. Die Jahre 1934 bis 1938 werden — wie immer man sich zu der Person und der Politik des damaligen Kanzlers stellt — für immer mit dem Namen Dr. Kurt Schuschnigg verbunden bleiben. Hätte man in diesen den Graben zwischen links und rechts schließen können . . . Hätte man das Juliabkommen 1936 mit Hitler überhaupt abschließen dürfen... Hätte man 1938

Widerstand leisten können, sollen, müssen .. . Hätte man . . .

Geschichtsbetrachtungen im Irrealismus „Wie es gekommen wäre, wenn..." sind unernst. Das letzte Wort der Historiker ist noch nicht gesprochen.

Für den Zeitgenossen — auch für den damaligen politischen Gegner — müssen dagegen die folgenden sieben Jahre zählen, in denen Schuschnigg für seine Ueberzeugung als Gefangener der Gestapo viele Bitternisse erleidet. Die später zum „Requiem in Rot- Weiß-Rot“ ausgearbeiteten „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“ sind ein menschlich erschütterndes Dokument.

Nach seiner Befreiung nimmt Dr. Schuschnigg 1948 einen Ruf an die katholische Universität von St. Louis an, wo der ehemalige Bundeskanzler seither als Professor lehrt.

Warum Dr. Schuschnigg heutk dieses Porträt der Woche gewidmet ist? Dr. Schuschniggs Name steht nämlich zur Diskussion. Nicht seine Rückkehr etwa in die Politik — die er selbst entschieden ablehnt und die ihm abzuraten wir zu keiner Zeit zögern würden. Aber das Oesterreichische Kulturinstitut in Rom sucht einen neuen Hausherrn. Hier wäre ein Mann mit hohen wissenschaftlichen Qualitäten und unbestrittenem geistigen Profil, dem nach manchem harten Schicksalsschlag — Dr. Schuschniggs zweite Frau ist vor kurzem gestorben — ein Herzenswunsch in Erfüllung ginge: nahe von St. Peter Oesterreich zu dienen. Politische Bedenken? Die österreichische Linke überwinde alten Groll gegenüber einem alten Mann, der kein Feind mehr ist.

Wir sind sicher: der unbekannte Arbeiter mit den „Drei Pfeilen“ aus dem Demonstrationszug vom März 1938 würde ja sagen.

- n ik.

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