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Profilierung durch Ideologie

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Die politischen Parteien müssen von außen und von innen ununterbrochen mit der Gretchenfrage: „Wie hältst du's mit der Ideologie?“ konfrontiert werden, um zu verhindern, daß sie im Pfuhl des Pragmatismus versinken. Jetzt, im Jahre 1972, stellen sich die beiden großen österreichischen Parteien diese Frage selbst und widerlegen damit jene, die von einer „Entideologisierung“ der Politik sprechen. Die ÖVP diskutiert seit Jahresfrist ein neues „Grundsatzprogramm“ und die SPÖ wird ihren Parteitag im April und die vorausgehende Zeit zu einer geistigen Standortbestimmung nützen. IDEOLOGIE wird also wieder groß geschrieben.

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Die politischen Parteien müssen von außen und von innen ununterbrochen mit der Gretchenfrage: „Wie hältst du's mit der Ideologie?“ konfrontiert werden, um zu verhindern, daß sie im Pfuhl des Pragmatismus versinken. Jetzt, im Jahre 1972, stellen sich die beiden großen österreichischen Parteien diese Frage selbst und widerlegen damit jene, die von einer „Entideologisierung“ der Politik sprechen. Die ÖVP diskutiert seit Jahresfrist ein neues „Grundsatzprogramm“ und die SPÖ wird ihren Parteitag im April und die vorausgehende Zeit zu einer geistigen Standortbestimmung nützen. IDEOLOGIE wird also wieder groß geschrieben.

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„Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“ Oscar Wilde

Die durch Jahrzehnte merkbare Entideologisierung hatte vor allem in Österreich zwei Ursachen. Die eine lag in der speziellen Situation unseres Landes nach 1945. Unter der Last „von vier Elefanten in unserem Boot“ — wie Karl Renner die Besatzungsmächte und die Zeit ihrer Vorherrschaft in Österreich nannte — und unter der sehr realen Bedrohung unserer Demokratie durch den Kommunismus, sahen die demokratischen Parteien dieses Landes ihre oberste Aufgabe in der Bewahrung der Demokratie und in der Erringung der Freiheit. Die große Koalition war die Quintessenz der in dieser Situation einzig möglichen pragmatischen Politik. Dazu kam die Furcht, durch überspitzte Ideologisie-rung den unglückseligen Geist von 1934 wieder zu erwecken. Alle waren froh, daß er zwischen 1938 und 1945 getötet worden war.

Nach dem Fegefeuer der Besatzungszeit und der durch die erfolgreiche Zusammenarbeit begrabenen Furcht davor, daß eine der beiden großen Parteien ihre Ideologie höher stellen werde als die Demokratie, war der Platz frei für eine neue ideologische Ausrichtung der Parteien.

Die „Amerikanisierung“ der Parteien

Die zweite Ursache für die Vorherrschaft des Pragmatismus über die Ideologie lag im zunehmenden Druck der „Sachzwänge“ auf die politischen Entscheidungen. Das komplizierte Gefüge des modernen Staates mit seinen vielschichtigen wirtschaftlichen und sozialen Verpflichtungen, seine Verflechtung mit der Wirtschaft und der Politik anderer Staaten, die globale Wirkung der wirtschaftlichen Entwicklung schränken die Handlungsfreiheit der Regierungen und damit die geistige Beweglichkeit politischer Parteien sehr stark ein. Manche Politologen, wie der Schwede Tingsten, meinen deshalb, in der modernen Demokratie sei für die Ideologie kein Platz.

Auch viele europäische Politiker sahen in den scharfen ideologischen Kontroversen vergangener Jahrzehnte — vor allem jenen zwischen den Konservativen und den Liberalen auf der einen und den Sozialisten auf der anderen Seite — eine Kinderkrankheit der demokratischen Entwicklung. Sie erblickten die Zukunft in einer „Amerikanisierung“ der europäischen Parteien. Die Ansicht herrschte vor, politische Parteien seien — ähnlich wie jene der USA — bloße Kraftzusammenballungen mit dem ausschließlichen Ziel der Eroberung oder zumindest der Anteilnahme an der Macht. Der ideologische Hintergrund sei nicht viel mehr als eine historische Arabeske, gut genug, um ein äußeres Unterscheidungsmerkmal abzugeben und eine Erklärung für die Parteibezeichnung, aber keine Standortbestimmung.

Gerade von John F. Kennedy, der selbst am meisten dazu beitrug, seiner Demokratischen Partei wenigstens vorübergehend auch ideologische Richtlinien zu geben, stammt das Wort, die moderne Politik sei unter dem Druck der Sachzwänge zu einer Einbahnstraße geworden. Das heißt, eine Partei habe vielleicht die Möglichkeit, den vorgezeichneten Weg ein wenig weiter links oder rechts zu gehen, aber sie könne ihn praktisch nicht verlassen. Vielleicht liegt in diesem Irrtum eine wesentliche Ursache für das heute aller Welt erkennbare Versagen der USA vor den Problemen im eigenen Land.

Eine Politik, die sich nur nach diesen zweifellos sehr starken und vor allem für einen Kleinstaat oft erdrückenden Sachzwängen orientiert, die also einem reinen Pragmatismus huldigt, verliert die Zukunft. Pragmatismus bleibt eine Politik des Reagierens. Das ist schließlich ebenso schädlich wie eine Politik, die siel nach den Ergebnissen der Meinungsumfragen orientieren würde — ii der falschen Annahme, eine demo kratische Politik zu betreiben, wei sie eine scheinbar populäre Politil vollzieht. Diese pragmatische unc vielfach opportunistische Politik ha nicht nur die letzten Jahre der großen Koalition gekennzeichnet, sondern auch deren Ende mit herbeigeführt.

Die Polarisierung beginnt

Der 6. März 1966 war ein glücklicher Tag. An ihm endete eine Politik, die seit zehn Jahren sinnlos geworden war. Und an diesem Tag begann jene Polarisierung in der Lagern der beiden großen Parteien die allmählich zu einer Reideologi-sierung führt. Die Alleinregierunf der ÖVP zwang diese konservative Partei zu zeigen, wie sie ihr Weltbild in die Wirklichkeit umzusetzen gedenkt und sie zwang die SPÖ in der Opposition, klare Alternativer ju erarbeiten. Die Unterscheidbarkeit der beiden Parteien, die auf ein vor allem für die SPÖ so gefährlich geringes Maß zusammengeschrumpft war, daß man bereits von einer „linken Volkspartei“ sprach, tral wieder deutlicher hervor.

Die reale politische Situation hat nun eine Polarisierung der beiden Parteien erzwungen. Jetzt geht es darum, darüber hinaus eine klare Profilierung zu erreichen, das heißt, den Staatsbürgern zu sagen, nach welchen Prinzipien man auf lange Sicht die Politik einzurichten gedenkt. Die Ideologie steht wieder an äer Spitze. Die Entideologisierung ist tot.

Die Schwierigkeit, ÖVP zu sein

Die Situation der ÖVP ist auch im Hinblick auf ihr Grundsatzprogramm nicht beneidenswert. Konservative Politik richtet sich stets nach den Gegebenheiten. Wenn es die Aufgabe der Politik ist, Veränderungen hervorzurufen, dann will konservative Politik durchwegs nur die geringstmöglichen Veränderungen oder zumindest nur jene akzeptieren, die das Weltbild des Bewahrens vorhandener Wertvorstellungen nicht im Grund berühren oder gar erschüttern. Dadurch benötigen konservative Parteien wie die ÖVP im Kern keine Ideologie und deshalb muten die Versuche der ÖVP, aus ihrer Politik des Tutti-frutti Grundsätze herauszudestillieren, so krampfhaft und hilflos an. Es wäre ehrlicher von dieser Partei zu sagen, daß ihre Ideologie eigentlich keiner Grundsatzerklärungen bedarf, weil sie an der vorhandenen Gesellschaft und der bestehenden Gesellschaftsordnung bestenfalls Korrekturen anbringen möchte, aber jeder Veränderung mißtraut oder sie gar fürchtet. Und um das zu sagen, braucht man eigentlich kein eigenes Programm, vor allem dann nicht, wenn sich eine vorgeblich an der christlichen Soziallehre orientierte konservative Partei wie die ÖVP von der Kirche selbst in deren Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung überholt sieht.

SPÖ: Meinungen stoßen aufeinander

Die Schwierigkeiten einer sozialistischen Partei, namentlich einer aus ihrer Geschichte so ideologieverhafteten wie der österreichischen, liegen auf einer anderen Ebene. Bei der SPÖ geht es darum, ihre ideologischen Grundlagen von Zeit zu Zeit zu überprüfen und neu zu überdenken. Daß dieser Prozeß nicht einfach ist wprHpn vprmntlirh riip kommenden Monate zeigen, wenn die ver schiedenen Strömungen und Interpretationen aufeinandertreffen.

Gegenüber den anderen demokratischen Parteien hat die SPÖ einer festen Halt: „Die Sozialisten wollet eine Gesellschaftsordnung ..., derer Ziel die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ist. Dahe: kämpfen die Sozialisten für die Freiheit der Menschen, für ihre volh Gleichberechtigung und für soziall Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft“, heißt es am Beginn des Parteiprogramms von 1958. Das ist eir klares ideologisches Ziel. Doch die Frage, wie dieses Ziel anzustreber sei, welche Prioritäten einzuräumer seien, darüber kann es sehr ernste Meinungsverschiedenheiten geben.

Und die Wirklichkeit?

Kurz nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden hat Dr. Kreisky begonnen, in der SPÖ praktische Politil und ideologische Ausrichtung au: eine Linie zu bringen. Die Erarbeitung der verschiedenen Programme für Wirtschaft, Gesundheit und Umweltschutz, Bildung, Recht usw unter Zuhilfenahme von 1400 Fachleuten war der erste bedeutende Schritt zu einer neuen SPÖ. Ds wurde nicht, wie bisher, stark geredet und schwach gehandelt, sondern die Grenzlinie zwischen der auch für Österreich sehr starker Sachzwängen und einer neuer Gesellschaftsordnung überschritten Was im Parteiprogramm wie Utopie anmutet, wie „volle Gelichberechtigung“ oder „soziale Gerechtigkeit“ wurde in den Programmen in eine Reihe praktischer Einzelmaßnahmen umgesetzt.

Durch eine praktische Politik der kleinen, oft auch dem politischen Gegner zumutbaren Schritte, hat die SPÖ stets ideologisch einen Kurs des „Reformismus“ eingeschlagen. Durch eine Vielzahl von Reformen — z. B. die Reform des Strafrechtes, die Reform des Schulwesens, die kostenlosen Schulfahrten, die Schulbeihilfen — wurden, wenn auch nicht in einem spektakulären Ausmaß, gesell-schaftsverändernde Maßnahmen getroffen, seit die SPÖ die Regierung stellt.

Wesentliche Möglichkeiten, soziale Gerechtigkeit zu praktizieren, also gesellschaftsändernde Maßnahmen zu treffen, liegen im Bundeshaushalt. Das hat Finanzminister Androsch, wenn auch von vielen kaum beachtet, in seiner Budgetrede zum Haushalt 1972 deutlich gesagt.

15.000 S — ein Stück Ideologie

Jene 15.000 Schilling, die Jungverheiratete seit 1. Jänner 1972 bei der ersten Eheschließung erhalten, stellen ein Stück verwirklichter sozialistischer Ideologie dar. Statt einer ungerechten und nur die besser Verdienenden, also eine Minderheit bevorzugenden Abschreibung, wurde ein einheitlicher, unabhängig von der Höhe des Einkommens auszuzahlender Betrag eingeführt. Jedes junge Ehepaar erhält die gleiche Starthilfe. Das mag nun der eine, der konservativ Denkende „Gleichmacherei“ nennen — für die SPÖ ist es die Beseitigung eines kleinen Stückes sozialer Ungerechtigkeit.

Das Budget bietet die beste Möglichkeit, jene „Umverteilung des Einkommens“ (nicht des Vermögens!) vorzunehmen, deren jeder moderne Staat bedarf, wenn er seine Aufgaben erfüllen will. Die Fragen der sozialen und gesundheitlichen Fürsorge waren früher, die Fragen des Umweltschutzes und ausreichender

Infrastrukturmaßnahmen sind heute die Streitpunkte zwischen Konservativen und Sozialisten, weil es zum Kennzeichen der konservativen Mentalität gehört, Gemeinschaftsaufgaben nicht vorausschauend, sondern durchwegs zu spät, erst unter dem Druck der Verhältnisse zu erkennen.

Aber kann man nicht sogar heute schon einem Kleinbürger begreiflich machen, daß nicht nur sein Auto und sein Einfamilienhaus sein Eigentum darstellen, für das er viele Opfer bringt, sondern auch seine Straße, seine Flüsse und Wälder? Auch für dieses überpersönliche Eigentum müssen Opfer gebracht werden, um es zu bewahren und auszubauen. Für diese neue, gemeinschaftliche, und den Egoismus überwindende Mentalität, die auch Verständnis für eine Umverteilung des Einkommens etwa zugunsten einer besseren Betreuung der rund 450.000 unter der Armutsgrenze lebenden Österreicher einschließt, muß der moderne Sozialismus Verständnis suchen. Und er findet es in erster Linie in einer zeitgemäßen Kirche. Trotzdem muß noch viel konservatives Beharren in alten Denkschemen überwunden werden, wenn die SPÖ den Wahlerfolg der vergangenen Jahre zu einer erfolgreichen Politik ummünzen will.

Dieses Jahr ohne bedeutende Wahlen soll den Österreichern die ideologische Auseinandersetzung zwischen SPÖ und ÖVP vor Augen führen. Da muß jede Partei die Fahne zeigen. Die ÖVP wird vorweisen müssen, wieviel Konservativismus in ihr steckt. Die SPÖ wird sich von dem auch manchen in den eigenen Reihen lieb gewordenen Un-verbindlichkeitspolster der „linken Volkspartei“ erheben müssen — abgesehen davon, daß es heute kein Renommee darstellt, eine „Volkspartei“ zu sein — und soll deutlich sagen, wie und wo sich in nächster Zeit ihre Fortschrittswilligkeit und ihr moderner Sozialismus manifestieren werden.

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