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Die 60 Prozent, die alle Lasten tragen

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Alle Parteien reklamieren die „Mitte“ für sich; genauer: alle Parteien buhlen um die Mittelschichte, die in Österreich annähernd zwei Drittel der Bevölkerung umfaßt: die Facharbeiter, die Angestellten, den Mittelstand des selbständigen Gewerbes und Handels, die Bauern und schließlich die freiberuflich Tätigen. Diesen Gruppen ordnet man das Bekenntnis zu den sogenannten „bürgerlichen Werten“ zu: die Hochschätzung von Arbeit und Leistung; die Bereitschaft zu sparen, Eigentum zu erwerben, ein bescheidenes Vermögen zu vermehren; die Bejahung von „natürlichen“ Unterschieden zwischen Menschen, die keine Politik zu beseitigen vermag; vice versa: die Aversion gegen alle Arten des Gleichheitswahnes; der Glaube an die Möglichkeit des Aufstiegs; das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung; die mehr oder minder starke Zustimmung zu den geltenden Normen von Sitte und Anstand; ein Konservativismus, der Reformen grundsätzlich bejaht, aber wissen will, wohin denn eigentlich die Reformreise gehen soll.

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Alle Parteien reklamieren die „Mitte“ für sich; genauer: alle Parteien buhlen um die Mittelschichte, die in Österreich annähernd zwei Drittel der Bevölkerung umfaßt: die Facharbeiter, die Angestellten, den Mittelstand des selbständigen Gewerbes und Handels, die Bauern und schließlich die freiberuflich Tätigen. Diesen Gruppen ordnet man das Bekenntnis zu den sogenannten „bürgerlichen Werten“ zu: die Hochschätzung von Arbeit und Leistung; die Bereitschaft zu sparen, Eigentum zu erwerben, ein bescheidenes Vermögen zu vermehren; die Bejahung von „natürlichen“ Unterschieden zwischen Menschen, die keine Politik zu beseitigen vermag; vice versa: die Aversion gegen alle Arten des Gleichheitswahnes; der Glaube an die Möglichkeit des Aufstiegs; das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung; die mehr oder minder starke Zustimmung zu den geltenden Normen von Sitte und Anstand; ein Konservativismus, der Reformen grundsätzlich bejaht, aber wissen will, wohin denn eigentlich die Reformreise gehen soll.

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Die Vorstellungen, Interessen und Zielsetzungen dieser Mittelschicht und ihr Glaube, dabei von einer sozialen Integrationspartei vom Zuschnitt der ÖVP am besten vertreten zu sein, bewirkten einst die großen Wahl erfolge dieser Partei. Auch heute noch fühlt sich der Kern der Mittelschicht von der Volkspartei am besten vertreten. Ende der sechziger Jahre wanderte ein Teil dieser sehr heterogenen sozialen Gruppe ab. Was damals zur SPÖ drängte, war die durchaus bürgerlich moderierte Bereitschaft zum politischen Engagement, war der politische Schwung dieser Jahre, der bei der Volkspartei keine Heimstatt mehr zu finden glaubte, waren der aufstiegsbewußte Angestellte und die Hausfrau aus konservativem Milieu, war Kreiskys Versprechen einer pragmatischen Erneuerung, eines zeitgemäßen Stils, von Planung und Reform. Wo sich die SPÖ bei einem Teil der Mittelschicht profilieren konnte, dort tat sie es in erster Linie als Partei der Modernisierung. Sie verwaltet heute, da sie auf sehr vielen Sachgebieten für kompetenter gehalten wird als die Volkspartei, noch einen Gutteil des gegen Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre hinter ihren Fahnen Versammelten Reservoirs aus der Mittelschichte. Eine Ideoiogiadiskussion, die ja vor allem eine Sozialismus- und Marxismus-Diskussion aus der Sicht des ÖVP-Obmanns Josef Taus zu sein hat, kommt der SPÖ und ihrer Führung denkbar ungelegen, weil doch darin immer nur jene Vorwürfe an die Oberfläche transportiert werden können, gegen die sich die SPÖ in

den letzten Jahren aus wahlstrate-glschen Motiven mit großem Erfolg gewehrt hat

Im Frühjahr 1976 hat ÖVP-Ob-maran Josef Taus zum erstenmal an jene „60 Prozent der österreichischen Bevölkerung, die den überproportionalen Teil der Lasten tragen“, appelliert. Er und seine Partei wollen „diesen denkenden, leistungsbewußten und mündigen Bürgern“ das Gefühl vermitteln, daß sie noch immer am besten von der Volkspartei vertreten werden. Gleichzeitig hat er

die Ideologiediskussion ins Bollen gebracht, um der Mittelschicht klarzumachen, daß eine Sozialistische Partei trotz geänderten Erscheinungsbildes schon aus ihrem Selbst-venständnis heraus für die Vertretung der Mittelschicht ungeeignet sein muß. Die FPÖ — und das Sei hier nur am Rande erwähnt — spielt weder in der Ideologie-Diskiussion noch im Kampf um die Mittelschicht eine bedeutende Rolle. Obwohl der größte Teil ihrer Wähler („Aktivelemente“) zur Mittelschicht gehören, Wind diese Partei nicht als Instrument dieser sozialen Gruppe verstanden, eher noch als eine politische Agglomeration von Unbelehrbaren, Ewig-Gestrigen und Ewig-Unzufriedenen. Die Parteiführung der FPÖ reflektiert diese Stimmungen und Motive in noch viel größerem Ausmaß, als das den Anhängern und Gelegeriheitswählem überhaupt möglich wäre.

Für die SPÖ ist das Werben und Buhlen usn die Mittelschicht naturgemäß eine höchst komplizierte Gratwanderung. Im Sinne der in den „Roten Markierungen“ etwa vom SPÖ-Klubobmanni Heinz Fischer skizzierten „Doppelstrategie“ ist es einer sozialistischen Bundesregierung darum zu tun, auf Regierungsebene soviel Pragmatismus zu entwickeln, daß auch nicht-sozialistische Schichten davon angesprochen wenden, auf parteipolitischer Ebene dagegen soviel .kulturrevolutionä-ren Sozialismus“ gedeihen zu lassen, daß der gewünschte Prozeß der Gesellschaftsveränderung immer in Schwung bleibt. Den Begriff des .kulturrevolutionären Sozialismus“

'hat Friedrich Engels samt der dazu-passenden Strategie formuliert. Nach Engels sind die drei wichtigsten Dinge, die auf dem Weg zum Sozialismus zu geschehen haben:

• die Zerstörung des Mittelstands,

• die Auflösung der bürgerlichen Familie,

• die Zurückdränigiung und, wenn möglich, das Ausschalten des Einflusses der christlichen Religion in der Gesellschaft.

Auch bei größter Gutwilligkeit fällt es schwer, die Sozialistische

Partei, ihre Führung und die von ihr gestellte Bundesregierung von klaren Absichtserklärungen und eindeutigen Maßnahmen in Richtung einer Durchsetzung dieser Zielvorstellungen freizusprechen. Haltungen und Werte der Mittelschicht wurden etwa mit der Beschlußfassung der Fristenlösung, mit fami-lien-, rechts- und bildungspolHi-

sehen Maßnahmen heftig angegriffen und teilweise auch entscheidend übergangen. Die Wohnungs-, Eigentums- und Steuerpolitik der Bundesregierung war sehr häufig von der Albsicht diktiert, die materielle Basis der Mittelschicht auszuhöhlen. Und was SPÖ-Zentralsekretär Karl Blecha über die Sozialpartnerschaft und die soziale Marktwirtschaft zu sagen weiß, ist gewiß nicht auf dem geistigen Boden der österreichischen Mittelschicht gewachsen und dürfte auch gar nicht geeignet sein, dort Wurzeln zu fassen.

Das geistige und ökonomische Prc-fil der Sozialistischen Partei entspricht heute kaum noch dem ihrer Wählerschaft oder gar der Bevölkerung. Noch immer empfindet sich die Sozialistische Partei in erster Linie als Partei der Arbeiter und der sozial Deklassierten, auch wenn die soziale Situation der meisten ihrer Funktionäre und auch das private Denken typisch für die Mittelschicht in diesem Land geworden sind. Wenn man heute die SPÖ als Kreisky-Par-

tei bezeichnet, die Erfolge der SPÖ bei den letzten Nationalratswaihlen Kreisky-Erfolge nennt, so wird man damit vor allem der Tatsache gerecht, daß die Persönlichkeit des Parteiobmanns und Bundeskanzlers attraktiv nicht nur für die Mittelschicht selbst, sondern auch für die diversen elitären Gruppen unserer Gesellschaft geworden ist. Weder die Basis noch die mittlere Funktionärs-ebene seiner Partei hat diese Entwicklung nachvollzogen, und nur an der Spitze finden sich da und dort

Funktionäre — Bürgermeister Gratz, Finanzminister Androsch, vielleicht auch Unterrichtsminister Sino-watz —, die bereit und fähig wären, eine Politik zu machen, die von der breiten Mitte der österreichischen Gesellschaft weitgehend akzeptiert würde.

Die SPÖ ist demnach keine Partei des Mittelstandes, aus ihrer Entwick-

lung 'Und ihren „letzten“ Zielvorstellungen heraus vielmehr eine Partei, die schon den Mittelstand als elitäre Gruppierung der Gesellschaft mißversteht. Doch da ihr der bei Wahlgängen ausschlaggebende Teil der Mittelschicht vertraut, ist sie gezwungen, eine Politik des Als-ob zu betreiben. Ihr sehr heikles Problem besteht darin, die Differenzen zwischen ihren Erscheinungsbildern (einmal für die Basis, das anderemal für -bürgerliche und liberale Gruppierungen), optisch zu reduzieren. Wirkt sie auf ihre Basis zu „bürgerlich“, so provoziert sie radikale Äußerungen aus ihrem Kader, wirkt sie auf die Mittelschicht zu „links-lastig“, zu marxistisch, so stößt sie die Sponsoren ihrer Wahlerfolge ab.

Die vom ÖVP-Obmann Josef Taus angezündete Ideologiedebatte hat vor allem die Zielsetzung, die Widersprüchlichkeit der diversen Erscheinungsbilder der Sozialistischen Partei aufzudecken. Die gereizten Reaktionen der meisten sozialistischen Funktionäre zeigen, daß er damit einen sehr heiklen Punkt der Regierungspartei trifft; daß er damit, was ja auch schon geschehen ist, hohe sozialistische Funktionäre zu marxistischen Untertönen reizt.

Noch immer freilich wirkt hier Bundeskanzler Kreisky nach allen Parteirichtungen verhältnismäßig ausgleichend. Ein väterliches Wort, einmal in der eigenen Partei, das anderemal für das TV-Volk verkündet, soll beruhigen; soll klarmachen, daß die eine oder andere unreflek-tierte Kritik an der Sozialpartnerschaft, der sozialen Marktwirtschaft und damit am demokratischen Konsens doch nur Überlegungen einzelner sind, die (noch!) lange nicht Gemeingut der Partei geworden sind. Wird's dann sehr kritisch, wie zuletzt bei Karl Blecha, dann geißelt Bruno Kreisky eben die Kommunistische Partei als „würdelose“ Einrichtung, wirft ihr (um die es in dieser Diskussion doch nie gegangen ist) vor, daß sie nicht imstande sei, sich von der Vorherrschaft des Sowjet-Kommunismus freizuspielen. Befremdend an derlei Alibiangriffen wirkt dabei, daß Kreisky noch nie die Zielsetzungen des Kommunismus angegriffen hat, sondern immer nur die Art und Weise, wie diese Zielsetzungen verwirklicht werden sollen. Gar so widerspruchslos ist demnach auch seine Position mitnichten.

Vom Wiener Juso-Chef Albrecht Konecny stammt das kluge Wort, daß die „Leitbilder der Mittelschicht eher auf abwägendes Beurteilen, nicht auf aktives, kollektives Engagement gerichtet sind“.

Tatsächlich ist es sehr schwierig,

die Mittelschicht auf ein umfassendes politische Programm festzulegen. Da ist es noch leichter, für diese Gruppe Feindbilder aufzubauen: der Leviathan Staat, das Kollektiv, Unfreiheit, demnach fast alles, was irgendwie und ohne langes Zögern dem Marxismus zugeordnet wird. Doch mit gemeinsamen Feindbildern kann man breite soziale Schichten

nicht auf Dauer unter einer Fahne halten. Zu rasch springen enttäuschte Gruppen ab, lassen sich von neuen Feindbildern, die just die Gegenpartei charakterisieren, beeinflussen.

Darin liegt die ganze Orux eines Werbefeldzuges gegen die Feindbilder des Mittelstands und für eine Politik des Mittelstands. Ein solcher Werbefeldzug braucht, will er erfolgreich sein, positive Leitbilder. In den USA spricht beispielsweise der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, Jimmy Carter, die tiefen Sehnsüchte des Mittelstands an. Selten, daß er die politischen Führer der republikanischen Kon-kunrenepartei herabsetzt, selten, daß er persönliche Angriffe startet. Er hat das Feindbild des Mittelstandes, den alles verschlingenden Verwaltungsstaat, zu seinem Feindbild gemacht; predigt einen „neuen Idealismus“, von dem niemand recht weiß, was daran neu und ideal sein soll. Eine wesentlich schärfere Gangart hat in der Bundesrepublik Deutschland die CDU/CSU eingeschlagen, die mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ die Mittelschichte hinter ihren Fahnen vereinigen will. Sowohl in den USA als auch in der BRD ist freilich ein schon recht starker Verdruß der Mittelschicht an den Regierungen spür- und sichtbar geworden, den — da und dort — die zur Zeit favorisierten politischen Gruppen für sich nützen möchten. Programme, mit denen noch vor einigen Jahren der Mittelstand zu ködern versucht wurde, spielen dabei eine geringere Rolle. Das positive Leitbild ist unklar, nur insofern interessant, als es die Kreise des Mittelstandes nicht stören möchte.

Wahlkämpfe lassen sich nicht von einem auf das andere Land übertragen, auch dann nicht, wenn es bei den Persönlichkeiten der Kontrahenten und den „großen“ Themen viel Ähnliches gibt. Grundsätzlich bevorzugt der Mittelstand in der Politik die versöhnenden und versöhnlichen Führerpersönlichkeiten. Das macht die einstigen Erfolge eines Willy Brand und Bruno Kreisky, und in den nächsten Monaten möglicherweise die Erfolge eines Helmut Kohl und eines Jimmy Carter verständlich. Es wird in Österreich an Josef Taus' Fähigkeiten zur Delegierung des harten Parts der politischen Auseinandersetzung an seine Parteifreunde liegen, will er sich rasch und ausdrücklich als Persönlichkeit für die Mittelschicht, als Einiger und Versöhner, profilieren.

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