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Der lautlose Aufstand

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Die letzten Wahlen in Österreich haben auf Landes- und Gemeindeebene nicht etwa nur eine Abflachung der Zuwachsrate der SPÖ, sondern sogar da und dort einen keineswegs vorhergesehenen Rückschlag gezeigt. Die schwache Wahlbeteiligung und die spezifischen gemeindlich-intimen Probleme mahnen zur Vorsicht, allzuweitgehende Schlüsse aus dem „Kleinen Wahljahr 1960“ zu ziehen. Immerhin fällt auf, daß die Wahlenthaltung diesmal erheblich mehr die SPÖ als die ÖVP zu tragen gehabt hat. In diesem Jahr hat der Sozialismus in Österreich weniger ihm bisher treu gewesene Wähler an andere Parteien verloren als bisherige Wähler nicht an die Wahlurne zu bringen vermocht. Verloren wurden daher offensichtlich nicht so sehr Kern- als vielmehr Randwähler.

In den Wahlergebnissen aus 1960 ist daher mehr ein Gesinnungs- als ein Stimmungswandel, weniger eine Verstärkung der Stimmung gegen die SPÖ als eine Reduktion der Stimmung für die SPÖ ausgewiesen.

Dagegen darf man lokale Ereignisse wie den Alleingang eines SPÖ-Bürgermeisters in Niederösterreich, aber auch die Spaltung der ÖVP in Klosterneuburg nicht zu ernst und als symptomatisch beurteilen.

Nach dem Ende des „Kleinen Wahljahres 1960“ und.unter Bedachtnahme auf die vielen publizistischen und persönlichen Kommentare scheint es nun einigermaßen möglich, zum Stim-mungs- und Stimmenabfall der SPÖ Stellung zu nehmen.

Was können nun die Ursachen dafür gewesen sein, daß die SPÖ offensichtlich an einem Plafond ihrer Aufwärtsentwicklung angelangt ist?

Dazu einige Vermutungen.

Erstens hat die SPÖ mit Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen, mit den Folgen dessen, was Bundesminister Kreisky in seinem vielbeachteten Warschauer Vortrag ein Bemühen um die Synchronisation der Partei (der Parteiarbeit und der Parteigesten) mit den Wirklichkeiten nannte.

Der AustTO-Revisiorrismus, der Versuch, allen alles zu sein, ein beachtliche Experiment, gerichtet auf die Überwindung der Orthodoxie im Sozialismus im Interesse einer Adaptierung der Partei gegenüber den Realitäten, führt den Sozialismus aus seiner Fixierung auf altmarxistische Leitbilder heraus. Nun bewirkt aber der Revisionismus eine Differenzierung in der Partei, einen innerparteilichen Pluralismus, welcher der Partei da und dort die Glaubwürdigkeit und damit auch die Attraktionskraft auf Randschichten nimmt. Die Vielzahl der Anbote, die sich durchweg als „sozialistisch“ deklarieren, verwirrt. Vielfach kann man — wenn man uniform und nur „Markenware“ zu wählen gewohnt ist — nicht verstehen, daß die SPÖ einmal gegen das Wohnungseigentum ist (eine Stellungnahme, die ihr Tausende von Stimmen gekostet hat), dann wieder dafür, einmal gegen die Gewinnbeteiligung, dann dafür, gegen den Klassenkampf, dann jeweils am 1. Mai dafür. /

Die Anpassung der Parteiarbeit an die neuen Strukturen führt dazu, daß die SPÖ derzeit um ein neues Selbstverständnis zu ringen hat, daß sie sich nicht mehr eindeutig zu definieren vermag und sich nicht entscheidet, ob sie nun Volks partei werden oder Arbeiter partei bleiben soll. Jedenfalls ist — auf Bundesebene — die Belastung durch Randgruppen, wie .den Freien Wirtschaftsverband oder den BSA in seiner derzeitigen Zusammensetzung, für die Gesamtpartei zu einem ernsten, wenn auch lösbaren Problem geworden.

Vor allem übersehen die SPÖ-Publizisten, daß der gesellschaftliche Pluralismus heute in Österreich nicht mehr in die klassische Gruppierung von Eigentümern an Produktionsmitteln (sprich: „Ausbeuter“) und Nicht-Eigentümern („Ausgebeuteten“) aufzugliedern ist. Wenn die Gesellschaft dieser Zeit in unserem Land in Interessentengruppen zerfällt, dann sind es vor allem einerseits die Gruppen jener, die Telativ hohes Einkommen haben, und anderseits die größere Gruppe der Bezieher relativ niedrigerer Einkommen. Das Eigentum an den Produktionsmitteln hat seine, das Gesicht einer ganzen Gesellschaft prägende Bedeutung allmählich verloren. Zumindest im nichtagrarischen Bereich. Die SPÖ muß sich daher entscheiden — ohne unmittelbare Bedachtnahme auf die Eigentumsfragen —, ob sie die Bezieher großer oder kleiner Einkünfte vertreten will. Da nun alle Parteien vorgeben, den „kleinen Mann“ zu vertreten, befindet sich die SPÖ im freien Wettbewerb um die Stimmen des sagenhaften „kleinen Mannes“.

Die methodenmonistische Festlegung des modernen Sozialismus auf ein Programm der S o-zialisierung aber hat den sozialistischen Parteien bisher (nach dem zweiten Weltkrieg) nur geschadet und ihnen etwa in Großbritannien die Mehrheit gekostet.

Neben der Schwierigkeit der SPÖ, sich für die Massen attraktiv zu reformieren, spielt auch der Umstand eine Rolle, daß die Quote der Arbeiterschaft, gemessen an der Gesamtzahl der Wähler, fällt. Nach letzten Untersuchungen (siehe die Studie der Bundessektion Industrie der Bundeskammer) für den Zeitraum September 1950 bis September 1959 ist das Verhältnis der Zahl der Arbeiter zu den Angestellten von 6,76 : 1 auf 5,15 : 1 gefallen. Die Perfektion der Fertigungsweisen verlegt immer mehr Arbeitsverrichtungen in die intellektuelle Vorbereitung. In einem nicht mehr umkehrbaren Prozeß wird die Zahl der Arbeiter auch weiterhin relativ abnehmen. Auf diese Weise kommt es zu einer Reduktion der Gruppe der potentiellen Wähler der SPÖ. Die Angestellten, vor allem der mittleren und höheren Ränge, sehen dagegen im Sozialismus eine Bedrohung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Position und sind nicht so parteiverläßlich wie die Arbeiter.

Aber auch die wachsende Gruppe der Arbeiter-Spezialisten (der Facharbeiter) ist nicht eindeutig auf die SPÖ eingeschworen. Viele Facharbeiter erblicken in der SPÖ die Vertretung der Hilfsarbeiter und neigen — lokal — zur FPÖ.

Jedenfalls sollten wir nicht übersehen, daß die Spannungen innerhalb den nur amtlich begründeten Großgruppen der „Dienstnehmer“ und der „Unternehmer“ nicht selten größer als zwischen den „Sozialpartnern“ sind. Die Frage des Interessenausgleiches in der Großgruppe der Dienstnehmer ist heute für die SPÖ zu einem Problem geworden, das sie nur lösen kann, wenn sie gewisse Leitbilder revidiert.

Bisher konnte man auch mit Recht vermuten, daß die Wähler der KP von gestern allmählich von der SPÖ vereinnahmt werden könnten. Nun scheint aber der Abbau der KP-Substanz im Osten und in der Steiermark weitgehend beendet zu sein. Was noch KP wählt, wird sie wahrscheinlich auch weiterhin wählen. Will die SPÖ noch KP-Wähler dazugewinnen, müßte sie mit ihrem Programm und ihren Maßnahmen derart nach links abrücken, daß ihr unvermeidbar Wähler auf der anderen Seite verlorengingen. Damit kommen wir zu einem dritten Komplex der mit dem relativen Rückgang der SPÖ-Stimmen zusammenhängenden Fragen: Die Spannungsweite, in der sich der Sozialismus in Österreich anbietet, ist sehr groß, viele meinen: allzugroß geworden.

Zwischen einem radikalen Antikatholizismus (Kärnten) und der Arbeitsgemeinschaft katholischer Sozialisten, zwischen orthodoxen Marxisten und sozialistischen Gewerbetreibenden bestehen derartige gleichsam natürliche Distanzen, daß viele Grenzwähler, wenn'sie sich dieser Distanzen bewußt werden, abfallen. So haben diesmal die antikirchlichen Exzesse in Kärnten unter jenen Katholiken, die der SPÖ gut gesinnt waren, mehr Beachtung gefunden, als die Parteiführung vermuten konnte.

Eine Ursache für den lautlosen Aufstand von Sozialisten gegen ihre Partei ist auch, daß nun die Sozialisten in Österreich allzulang und allzuviel Obrigkeit sind, während man bisher gewohnt war, die Obrigkeit nur durch „Bürgerliche“ repräsentiert zu sehen. Die SPÖ trägt Verantwortung für unser Land, in allen seinen politischen Führungsgremien. Sie hat die ihr übertragene Last der Verantwortung in keiner Situation zurückgewiesen, auch nicht, als es darum ging, an sich unpopuläre Maßnahmen wie die Sanierung der Krankenkassen mittragen zu helfen. Es gibt nun keine Möglichkeit, die bei Wahlen abgegebenen Stimmen nach Altersschichten aufzugliedern. Man muß jedoch — nach Gesprächen mit jungen Menschen — annehmen, daß vor allem Jungwähler ungern eine Partei wählen, die ihnen Obrigkeitspartei zu sein scheint. Ganz besonders sind es junge Menschen, welche dem Repräsentativsystem in der Praktizierung der Demokratie wenig Sympathie abgewinnen können. Auf den unvermeidbaren Rückgang der Anziehungskraft der demokratischen Einrichtungen (und der SPÖ) hat übrigens jüngst in einem bemerkenswerten Beitrag J. Toch in der „Zukunft“ hingewiesen. Man ist heute vielfach und besonders unter den Jungen geneigt, an eine Verschwörung der gewählten Vertreter der Mehrheit gegen die Mehr-

Tieit der Wählenden zu glauben, wenn die Majorität zu sehr den Charakter von Autorität annimmt. Die Abwehr zeigt sich dann in der Absenz am Wahltag.

Die Position der SPÖ auf dem Dorf, als Siedlungsbereich, ist wohl verstärkt worden,'wenn auch nicht durchweg, anderseits muß man vermuten, daß die Stellung der Partei unter den Kleinbauern etwas schwächer geworden ist. In Niederösterreich verloren bei den Bauernkammerwahlen die Sozialisten ungefähr l1 Prozent ihres Bestandes. Man meint, daß der Rückgang bäuerlicher SPÖ-Stimmen mit der beharrlichen Weigerung der SPÖ zusammenhängt, sich zu einer Teilnahme an einer Gesamtrege-lung der bäuerlichen Wirtschaftsfragen (Landwirtschaftsgesetz) zu entschließen. Die Verluste bei den Handelskammerwahlen haben schließlich, ebenso wie die Bauernkammerwahlen, angedeutet, daß die SPÖ einen Teil jener Schichten verloren hat, deren teilweise Aufnahme ihr die Möglichkeit geboten hätte, in einem beschleunigteren Tempo zur Volkspartei zu werden.

Nicht unbeachtlich ist auch der Umstand, daß es gerade die Sozialisten sind, die die Last des Unbehagens im und gegen den Wohlfahrtsstaat zu tragen haben. Nicht mehr so ehr die ÖVP. Im Nichtwählen, wenn die Nichtwähler Menschen sind, die nach ihrem sozialen Stand eher sozialistisch wählen als eine andere Partei, zeigt sich auch ein Index der Undankbarkeit gerade jener Wählergruppen, die vor allem durch sozialistische Initiativen begünstigt wurden. Ähnliches hat ja auch die ÖVP mehrmals erlebt, zuerst mit der Primitivgruppe der „Denkzettelwähler“ und bei den letzten Wahlen zum Nationalrat. Im Jahr 1959 waren es gerade besitzbürgerliche Wahlberechtigte, die am Wahltag unter Zuhilfenahme von Autos vornehm das Weite suchten. Nachher waren es die gleichen Personen, welche durch Nichtwählen jede Teilnahme am öffentlichen Leben ablehnten, die mit einem theatralischen Nachdruck die auch durch sie geschwächte Volkspartei aufforderten, „stark“ zu bleiben, wohl um sich beim nächsten Wahltermin mit einem noch pferdekräftigeren Wagen durch Absenz als über- und unparteilich zu deklarieren und ein Alibi für den Tag X zu verschaffen.

Die Anpassung der SPÖ an die sozialen Strukturen ist im Gang und wird nicht abgebrochen. Auch dann nicht, wenn die Parteiführung an diesem Anpassungsprozeß keinen initiativen Anteil haben sollte. Freilich kann der Prozeß der Angleichung des Parteiverhaltens an die Realitäten nur dann beschleunigt werden, wenn die mit der Wirklichkeit in Tuchfühlung stehende Gruppe um Präsident 01 a h sich gegen die linksgeneigten sozialistischen Nurintellektuellen durchzusetzen vermag. Die auch von der SPÖ mitherbeigeführte ökonomische und seelische Verbürgerlichung 'der Arbeiterschaft wird jedenfalls bei gleichbleibender Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Verhalten der SPÖ reflektiert werden. Die Art der Maifeiern 1960 waren ein Anzeiger für diese Entwicklung und für eine gewandelte SPÖ.

Auch die gegenwärtig offensichtlich unterbrochene Annäherung von „Kirche und Sozialismus“ (besser: von gläubigen Katholiken und Sozialisten) ist kaum rückgängig zu machen, sosehr auch von vielen Seiten diesseits und jenseits des Grabens auf einen Wiederbeginn der alten Kämpfe hingearbeitet wird. Von Kärnten, dessen Sozialisten sich ihren Antiklerikalismus bestens konservieren konnten, muß man absehen. Anderseits werden die Sozialisten Verluste an die FPÖ in Kauf nehmen müssen, wenn die nationalliberale Partei es versteht, das erheblich attraktivere „Liberale“ zu betonen. Freilich ist es möglich, daß die Sozialisten sich auch in Hinkunft einzelnen linksbürgerlichen Gruppen so gewinnend darstellen können, daß sie einem liberalen Besitzbürgertum wählbar erscheinen.

Die Maßnahmen im Vollzug der sogenannten ÖVP-Reform könnten unter Umständen die Position der SPÖ schwächen, aber nur dann, wenn sich die Volkspartei den Jungwählern wirksamer als bisher anbietet.

Wie immer sich der Sozialismus in Österreich . in Hinkunft verhält, ob er taktisch klug handelt oder ob er da und dort sein Gesicht vor den Massen verliert: Der Sozialismus ist in unserem Vaterland unübersehbar Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung geworden, seine Vertreter sind so eindeutig in den politischen und wirtschaftlichen Führungsgremien verpflichtet und können derart mit Recht im Namen der industriellen Arbeiterschaft sprechen, daß es müßig ist, von einer „Entmachtung“ der SPÖ zu sprechen. Der Sozialismus in Österreich ist jedenfalls ein Tatbestand, der in seinem politischen und gesellschaftlichen Gewicht die gesellschaftlichen Strukturen anzeigt.

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