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Blickrichtung 7. März

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Der Verfasser dieser „Gedanken eines Auslandösterreichers'' ist den Lesern der „Furche“ als nüchterner Kommentator wirtschaftspolitischer Fragen bekannt. Der geborene Kärntner, der heute in Zürich seinen Wohnsitz hat, kam anläßlich der Abwehrkämpfe mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ in Kontakt. Seit 1921 vertrat er dieses hochangesehene Blatt an vielen Brennpunkten Mittel- und Osteuropas, zuletzt von 1946 bis 1960 als Korrespondent in Wien.

Das Unbehagen über die innere Politik ist eine allgemeine Erscheinung, die heute alle Staaten des freien Europa heimsucht, letzten Endes nur eine Folge der Radikalisierung, der hemmungslosen Agitation und der bedenklichen Zunahme der Schlagworte, die vielfach der Vergangenheit entlehnt werden. Die wirklichen Streitobjekte, zumeist wirtschaftliche Probleme, sind viel zu kompliziert, um eine klare und suggestive Prägung zu finden, aber die Wähler benötigen eine kurze Synthese und Zusammenfassung, die zwar in den einzelnen Wahlprogram- men erfolgt, wegen dem Zwang zur Abstraktion jedoch kaum noch irgendwelche Unterschiede aufweist. Mit leeren Versprechungen ist nichts mehr getan. Dagegen bedeutet es eine neue Wendung, wenn plötzlich beide große Parteien offen die absolute Mehrheit anstreben. Nocfr unter Raab begnügte sich die Volkspartei mit dem Anspruch, der Primus inter pares zu sein, während die Sozialisten damals erkannten, ihre Stellung würde sogar erleichtert, wenn sie die Volkspartei mit der ganzen Verantwortung für alle unpopulären Maßnahmen belasten, aber als zweite Regierungspartei selbst ständig eine oppositionelle Propaganda treiben können. Anderseits bleibt das Streben nach einer absoluten Mehrheit ein legaler Wunsch jeder Partei, der allerdings in Österreich — trotz den Ergebnissen der Wahlen vom 25. November 1945 — noch niemals ausdrücklich proklamiert wordten ist, weil er — unter den gegebenen Umständen — in keiner Weise die staatspolitische Pflicht zur Koalition aufhebt.

Die Ursachen der Krise liegen auf der Hand. Die Gründer der Koalition und ersten Träger der staatlichen Solidarität hatten während der Okkupation und in den Konzentrationslagern nicht nur das gleiche Schicksal zu tragen, sondern waren auch vielfach durch persönliche Freundschaften verbunden. Außerdem erlaubten der Kampf um die volle Freiheit und die großen politischen Aufgaben der Zweiten Republik keine Zwietracht und keine egoistische Parteipolitik. Der Koalitionsausschuß, den jede Koalition in jedem Staat einrichten muß, arbeitete mit Hilfe einiger Komitees, und im Parlament herrschte, gleichfalls wie in jedem anderen Staat, der Fraktionszwang bei freier Diskussion innerhalb der Klubs und Parteileitungen, so daß jedes Problem gründlich beraten wurde. Aber für den gemeinsam festgelegten Kurs galt dann selbstverständlich die Koalitionsdisziplin.

Erst nach dem Staatsvertrag und nach Annahme der Neutralitätsakte traten die wirtschaftlichen Probleme in den Vordergrund, so daß von Monat- zu Monat die Bünde, die Kammern und andere Interessenverbände an Einfluß gewannen, aber erst der Generationenwechsel, das Abtreten der alten Garde, und die Versuchungen der Hochkonjunktur brachten einen bedenklichen Zerfall in Cliquen und Einzelgruppen von Interessenten bei gleichzeitiger Überlastung mit Detailfragen und einer übertriebenen Repräsentation, einem steigenden Prestige der Experten unid Ministerialen, bis die Parteiapparate nach amerikanischem Vorbild das anonyme „System der Eierköpfe“ übernahmen und die rasch verjüngten Generalstäbe aller Parteien neue Ideen am laufenden Band produzierten, um Politik, Taktik und Ideologien nach zügigen Parolen der Agitation auszurichten. Nun ging jede Koalitionsdisziplin verloren, aber auch die einst streng gehand- habte Rangordnung der Probleme, weil sich gerade nebensächliche Dinge als besonders geeignet für die Propaganda erwiesen — ein Prozeß der Zersetzung, der von der Opposition eifrig geschürt wurde, die es mit Geschick verstanden hatte, in das gestörte Getriebe der Koalition immer wieder einen Zankapfel zu schleudern, der die Gemüter erhitzte und alte Ressentiments erweckte, während sich die schärfste Kritik der sogenannten Unabhängigen anschickte, das Ansehen des Parlaments zu untergraben.

Zugleich beobachtete man eine Entfremdung zwischen den Parteiführern und eine Abnahme der noch bestehenden, ohnehin sehr spärlichen Kontakte, so daß eine bekannte Persönlichkeit, seit vielen Jahren vertraut mit der Arbeit und dem Werdegang der Koalition, zur Überzeugung gelangt war, es bestehe gar keine echte Krise der Koalition, sondern nur eine Krise der persönlichen Beziehungen, gesteigert durch ein krankhaft entwickeltes Mißtrauen und eine innere Unsicherheit gegenüber den Vorgängen in der eigenen Partei, in aller Öffentlichkeit drastisch demonstriert vom sozialistischen Lager.

Eine typische Eigenart aller Wahlgänge, möge es sich um die Wahl des Nationalrats oder des Staatsoberhauptes handeln, waren bisher immer die gleichen parteipolitischen Tendenzen in allen Bundesländern, die in dieser vollkommenen Identität in keinem anderen Staat des freien Europa beobachtet werden konnten. So handelte nur eine echte psychologische Einheit, nur ein von einem gemeinsamen Willen getragenes Volk, das trotz lokalen und föderalistischen Gegensätzen und Verschiedenheiten seine Meinung überall in der gleichen Stärke und Richtung zum Ausdruck brachte, in Wien und in Tirol, im Burgenland und in Vorarlberg. Diese Tatsache ermöglichte es de n Sachverständigen, bei allen Wahlgängen schon nach Eintreffen der ersten Ergebnisse aus einem Dutzend Gemeinden eine bündige Schlußfolgerung zu ziehen, nach welcher Richtung der österreichische Kompaß zeigte. Die Wahlen vom 6. März folgen nicht mehr diesem Schema, weil die Reaktionen auf die Koalitionskrise in den einzelnen Ländern einen sehr verschiedenen Charakter tragen.

Der neue Umengang unterscheidet sich nämlich von den üblichen Parlamentswahlen durch zahlreiche unbekannte Faktoren. Seit dem kritischen 9. Oktober 1949 interessierten während den vergangenen 16 Jahren eigentlich nur die Wahlbeteiligung und die Stimmenanzahl der oppositionellen Freiheitlichen Partei, weil das Übergewicht der Volkspartei niemals in Zweifel gezogen wurde und die Splitterparteien niemals eine echte Chance besessen hatten. Anfang März sind jedoch andere Kräfte und Einflüsse wirksam:

• der Wahltermin,

• das Votum der äußersten Linken zugunsten der Sozialisten,

• die Kampagne des ehemaligen Innenministers Olah und

• die Verärgerung aller Wähler wegen der ewigen Koalitionskrisen mit ihren unvermeidlichen Folgen, der Stockung der Regierungsarbeiten und der teilweisen Lahmlegung des Parlaments.

In der Ersten Republik herrschte die Überzeugung, Frühjahrswahlen— die damals stets unter dem Druck einer hohen Winterarbeitslosigkeit standen — begünstigen die Sozialisten, dagegen Herbstwahlen die bürgerlichen Parteien. Diese Erfahrung gilt nicht mehr für die Zweite Republik, obwohl die erste Märzwoche für viele Alpentäler und alle Gebirgsbauem noch immer einen sehr schlechten Termin darstellt. Anderseits ist der Entschluß der Kommunisten, nur in einem einzigen Wiener Wahlkreis zu kandidieren, dafür aber ihren Anhängern in allen anderen Bezirken ein Votum für die Sozialisten zu empfehlen, ein echtes Danaergeschenk, dessen letzte Folgen niemand voraussehen kann. Zu nächst einmal bot dieser Schritt dem neuen Parteigründer Franz Olah, der einige sichere Gruppen des früheren Rechtsflügels der Sozialisten in Wien und Niederösterreich, in Tirol und Vorarlberg in seine Rechnung einstellen darf, eine willkommene Wahlparole. Es fehlt nicht an Stimmen, wonach die feindlichen Tendenzen an beiden Flügeln der Sozialistischen Partei sich gegenseitig paralysieren dürften. Die Verärgerung weiter Wählermassen über die Koalitionskrisen wiederum müßte sich in einer stärkeren Wahlenthaltung manifestieren, aber dieses Unbehagen kann im letzten Augenblick auch in das Gegenteil umschlage- weil jedermann weiß, daß der Aufstieg der Sozialisten zur stärksten Partei des Landes mit einem Schlag alle drei maßgebenden Zentren des Staates — Bundespräsident, Bundeskanzler und Präsident des Nationalrats — der linken Koalitionspartei ausliefem würde. Eine „Denkzettelwahl“, bisher nur bei einigen Landtagen erprobt, verwandelt sich auf Bundesebene mit Leichtigkeit in eine „Justamentwahl“.

Jede Analyse endet daher immer wieder mit der Erkenntnis, daß das Kräfteverhältnis zwischen Volkspartei und Sozialisten, ausgedrückt in Stimmen und Mandaten, letzten Endes doch weitgehend von der oppositionellen Freiheitlichen Partei abhängt, die einige Mandate und etliche Zehntausende Stimmen einmal gewinnt, dann wieder verliert, wodurch die interne Relation der Koalition jeweils eine leichte Korrektur erfährt. Die deutschnationale Opposition ist viel zu schwach, um im Parlament eine ernste Rolle zu spielen, wie es ihre Theorien verkünden, aber anderseits bei den Wahlen doch stark genug, um den großen Parteien in einigen Gemeinden und Bezirken empfindlich Abbruch zu tun. Eine Folge dieser Konstellation ist das ewige Werben um die Stimmen der einstigen Nationalsozialisten, eine Leidenschaft, der beide Regierungsparteien frönen, weil sie in diesem Block der Nega- tivisten eine Reserve vermuten, die ihre eigenen Reihen verstärken könnte. Nur unterläuft immer wieder der gleiche Fehler. „Nationale Wähler“ bekennen sich nicht einfach zu einer der beiden Regierungsparteien, sondern die Überläufer teilen sich regelmäßig in drei Gruppen gleicher Stärke, die der Volkspartei, den Sozialisten und den Nicht- wählem zufallen. Ursprünglich sprach man von Randschichten mit wechselnder Stimmenabgabe. Später hörte man die Parole „Lieber Rot als Schwarz!“, obwohl diese Vereinfachung der Farbenskala in der Zweiten Republik niemals stimmte. Gewiß haben der Aufstieg des Wirtschaftslebens die bürgerlichen Aussichten verbessert und der weltweite Kurs des Vatikan die Reste einer „Los-von-Rom-Bewegung“ hinweggefegt, aber einem ehemaligen Nationalsozialisten fällt eben der Übergang ins sozialistische Lager viel leichter als das Bekenntnis zu einer bürgerlichen oder bäuerlichen Partei, wobei in Österreich erschwerend ins Gewicht fällt, daß die Zugehörigkeit zu einer Partei ihre Wurzeln eigentlich in den Familien hat.

Dieser Wettlauf um die Gunst der Nationalen brachte dem Staat schon manche Nachteile und Schwierigkeiten, weil die Regierungsparteien einige Thesen der Opposition übernahmen und außerdem jeden Widerspruch gegen falsche Dogmen unterließen. Die deutschnationale Bewegung, möge sie im Gewand der Alldeutschen oder Großdeutschen, der Nationalsozialisten oder gar der Irredentisten aufgetreten sein, hat immer staatsphilosophische Ideen entwickelt, unter dem Hitler-Regime sogar bis zur täglich diktierten Sprachregelung. Begriffe werden leichter übernommen als Ideen. So sprach vor zehn Jahren jedermann von der Souveränität und Unabhängigkeit, einige Zeit später aber oft nur noch von der Selbständigkeit, bis die Öffentlichkeit, ohne es selbst zu bemerken, eines Tages bei der „Eigenstaatlichkeit“ (nach dem Vorbild Bayerns?) angelangt war, ein Kuckucksei, das die Opposition einfach im Nest der Koalition abgelegt hatte. Auch die immerwährende Neutralität erfährt mitunter Interpretationen, die sich schon recht weit von der ersten Auffassung der Neutralitätsakte entfernen. Man lebt anscheinend in einer Periode der geistigen Infiltration.

Verantwortungsbewußte Politiker der beiden Koalitionsparteien sind sich jedoch einig, daß Österreich, im Norden, Osten und Süden von drei Volksdemokratien umgeben, die Zusammenarbeit der beiden Regierungsparteien auch in Zukunft unbedingt benötigt. Und für die innere Politik ist der alte Ausspruch des großen Parteiführers Julius Raab noch immer in Kraft: „Mir sind die Sozialisten in der Regierung lieber als auf der Straße.“ Experimente kann sich überhaupt niemand leisten, ohne Kettenreaktionen zu riskieren, von denen niemand weiß, wo sie zuletzt enden.

Nachdem der Wahlkampf zwangsläufig am Konferenztisch der Koalition enden muß, entsteht die Frage nach den neuen Methoden, mit deren Hilfe die augenblickliche Stagnation überwunden werden kann. Zunächst werden langwierige Verhandlungen fällig, weil etwaige Verschiebungen der Mandatszahlen, wie es üblich ist, einige Korrekturen in der Zuständigkeit einzelner Ressorts zur Folge haben könnten. Bei den Koalitionsverhandlungen der vergangenen zwei Jahrzehnte befand sich die verstaatlichte Industrie oft im Mittelpunkt, zuletzt die „Federführung der Handelspolitik“, auf das engste verbunden mit der sogenannten Integration: EFTA oder EWG?

Jedenfalls bestehen kaum Zweifel, daß eine Erneuerung der Koalition nicht nur der politischen Realität, sondern auch dem Willen weiter Bevölkerungsschichten entspricht, die keinen Linkskurs und keinen Rechtskurs wünschen, sondern einen Kurs der Mitte.

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