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Die Mehrheiten werden immer knapper

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Der Ausgang der französischen Präsidentenwahlen lenkt wieder einmal den Blick auf gesellschaftspolitische Entwicklungstendenzen im demokratischen Europa, denn trotz des Sieges des Kandidaten der Rechten ist das Stimmenpotential der französischen Linken ein Faktum, mit dem man künftig mehr als bisher wird rechnen müssen. Wenn die Stimmendifferenz zwischen zwei Kandidaten nicht einmal ein ganzes Prozent ausmacht, liegt de* Schluß nahe, daß es sich um ein beinahe zufälliges Ergebnis handelt, das ebenso von der Mehrheit der Stimmen für den siegreichen Kandidaten wie von dem unwägbaren Zufall einer größeren oder kleineren Stimmenthaltung der nicht an der Wahlurne erschienenen Stimmberechtigten abhängt.

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Der Ausgang der französischen Präsidentenwahlen lenkt wieder einmal den Blick auf gesellschaftspolitische Entwicklungstendenzen im demokratischen Europa, denn trotz des Sieges des Kandidaten der Rechten ist das Stimmenpotential der französischen Linken ein Faktum, mit dem man künftig mehr als bisher wird rechnen müssen. Wenn die Stimmendifferenz zwischen zwei Kandidaten nicht einmal ein ganzes Prozent ausmacht, liegt de* Schluß nahe, daß es sich um ein beinahe zufälliges Ergebnis handelt, das ebenso von der Mehrheit der Stimmen für den siegreichen Kandidaten wie von dem unwägbaren Zufall einer größeren oder kleineren Stimmenthaltung der nicht an der Wahlurne erschienenen Stimmberechtigten abhängt.

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Gewiß wird die französische Politik in den nächsten Jahren, ganz allgemein gesprochen, von der konservativen Mehrheit geführt werden, ebenso gewiß aber wird der neue französische Staatspräsident auf die Stärke der linken Opposition mehr Rücksicht nehmen müssen als das bisher der Fall gewesen ist. Dieses Faktum wird umso schwerer wiegen, als Giscard d'Estaing zwar ein hervorragender, konservativer Politiker ist, aber nicht mehr den großen persönlichen Einfluß von de Gaulle und seinem Nachfolger Pompidou ausüben wird. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich das Phänomen de Gaulle doch auf Kräfte stützen konnte, die aus der Resistance kamen und die er an Pompidou weitergegeben hat, über die aber Giscard d'Estaing, wenn schon aus keinem anderen Grund, so aus dem des Zeitablaufes, nicht mehr verfügt. Man erinnert sich bei der Betrachtung des politischen Geschehens der letzten drei Jahrzehnte unwillkürlich an ein Phänomen, das sich wohl nur in Kriegs- und Nachkriegszeiten realisieren kann. De Gaulle war bekanntlich unmittelbar nach dem Krieg Präsident der französischen Republik und dies vor allem in seiner Eigenschaft als prominentester Heerführer der nicht von Deutschland besetzten Teile des damals noch existierenden französischen Imperiums; er mußte nach kurzer Zeit auf Grund demokratischer Wahlen seine Befugnisse wieder abgeben, um einige Jahre später als siegreicher Politiker wieder in den Elysee-Palast einzuziehen. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr auch Winston Churchill, der unmittelbar nach Beendigung des Krieges in Europa, aber noch vor der endgültigen Niederwerfung Japans, während der Potsdamer Konferenz im August 1945, abgewählt und schon in der nächsten Legislaturperiode wieder zurückgeholt wurde. Wenn sich auch die innerpolitischen Elemente dieser Machtwechsel kaum vergleichen lassen, so besteht doch eine große Ähnlichkeit im persönlichen Schicksal dieser beiden Staatsmänner. Beiden war es beschieden, in ihren Ländern den Grundstein für eine langjährige konservative Politik zu legen. Das Erbe, das Giscard d'Estaing aber nun anzutreten hat, verträgt keinen Ve. gleich mehr mit den früheren Ver-

hältnissen in der französischen Republik. Dies umsomehr, als nach dem Präsidentenwahlgang die Frage, wie die nächsten parlamentarischen Wahlen in Frankreich ausgehen werden, völlig offen ist. Gewiß gibt die französische Verfassung ihrem Staatsoberhaupt weiterreichende Vollmachten als sie irgendein europäisches Staatsoberhaupt besitzt, dennoch aber bedeuten so starke Oppositionen, wie die französische Linke sie nun darstellt, in demokratischen Ländern nicht zu übersehende Machtkomponenten.

Das lenkt den Blick auch auf die anderen europäischen Demokratien, wobei — von Italien abgesehen — die Linke aus starken sozialistischen und gänzlich unbedeutenden kommunistischen Parteien und die Rechte aus mehreren konservativliberalen Parteien zusammengesetzt sind. Da ist zunächst die deutsche Bundesrepublik mit ihrer vorläufig noch bestehenden sozialistisch-liberalen Parlamentsmehrheit, die allerdings — berücksichtigt man die einzelnen Landtagswahlen — mit großer Wahrscheinlichkeit im nächsten Jahr von einer christlich-demokratischen abgelöst werden wird. Das Schicksal der deutschen Sozialdemokraten könnte als typisch für die

Entwicklung des europäischen Sozialismus angesehen werden, zeigt es doch deutlich, daß der Weg zur demokratischen Macht für eine sozialistische Partei weitgehend von den Führungsqualitäten einzelner Persönlichkeiten abhängig ist. Brandt war eine solche Persönlichkeit, von der sich eine relative Mehrheit der deutschen Wähler eine sinnvolle Weiterführung jener Politik versprach, die seinerzeit der große Konrad Adenauer einleitete, der den Deutschen nach einer Periode des Hasses und der Verachtung wieder

den Weg zur anerkannten Nation ebnete, ein Weg, den seine beiden Nachfolger mit Erfolg fortsetzen konnten. Die Enttäuschung, die die Ära Brandt den Deutschen bereitete, konnte aber nicht ausbleiben.

Zwei Gründe sind dafür maßgebend. Einmal die mangelnde Fähigkeit, das von Professor Erhard in seiner Eigenschaft als Wirtschafts-minister begründete „Wirtschaftswunder“ erfolgreich weiter zu führen, zum andern aber die totale Fehleinschätzung einer möglichen deutschen Ostpolitik. Vor allem dieser verweigert der deutsche Wähler offensichtlich seine Gefolgschaft, was nicht weiter verwundern darf, wenn man das Ergebnis dieser Ostpolitik genauer betrachtet. Die Fehleinschätzung ostpolitischer Möglichkeiten lag in der falschen Beurteilung der politischen Tendenzen des Kreml durch den deutschen Bundeskanzler. Die Sowjetunion hatte ein von ihrem Standpunkt aus begreifliches Interesse, den 1945 errungenen Sieg politisch zu stabilisieren. Da es sich hie-bei um die Anerkennung militärisch errungener Erfolge handelte, war man auf sowjetischer Seite nicht bereit, für das, was man de facto schon hatte, nun auch de jure etwas zu bezahlen. Die Anerkennung der Teilung

Deutschlands und das sowjetischen Einflußbereiches in Osteuropa wurde ohne Gegenleistung gewährt. Die östlichen Konzessionen sind so geringfügig und außerdem durch ihre vage Formulierung den verschiedensten Interpretationsmöglichkeiten unterworfen, daß man von einer Gegenleistung beim besten Willen nicht sprechen kann. Das aber war der Irrtum des deutschen Bundeskanzlers, für den er nun bezahlen mußte.

Es gibt Stimmen, die behaupten, daß die Affäre Guillaume. in der

Brandt Verantwortungen übernommen hat, die ihm gar nicht — jedenfalls nicht in erster Linie — zukommen, für ihn eine geradezu willkommene Gelegenheit gewesen sei, sich auf diesem Weg einer Verantwortung vu entziehen, die ihm spätestens im nächsten Jahr bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag angelastet worden wäre. Ob und inwieweit es seinem Nachfolger bis zu diesem Wahltermin möglich sein wird, den großen Vertrauensverlust der SPD wieder aufzuholen, bleibt abzuwarten. Wie immer aber auch diese Dinge sich entwickeln werden, es ist jedenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß auch eine wieder in die Minderheit gedrängte SPD nach wie vor ein Machtfaktor in der Deutschen Bundesrepublik bleiben wird, wobei die Frage noch gänzlich offen ist, ob es in der Zwischenzeit nicht doch zu einer Abspaltung der linken Kräfte der SPD kommen wird und damit einer neuen deutschen kommunistischen Partei — unter welchem Namen immer — die Türen in den Deutschen Bundestag geöffnet werden müssen.

Anders im Detail, aber ähnlich im Effekt entwickeln sich die Dinge in Italien. Trotz der Vielzahl der italienischen Parteien darf auch dort die

Entwicklung zu einer starken Polarisierung der innerpolitischen Kräfte nicht übersehen werden. Die starke kommunistische Partei Italiens — die stärkste in den europäischen Demokratien — hat dort, nicht zuletzt wegen der in zwei Parteien gespaltenen sozialdemokratischen und sozialistischen Linken, große Anziehungskraft, die auch noch dadurch gefördert wird, daß die KPI im Gegensatz zu ihren Bruderparteien außerhalb des Ostblocks eigenständige, nationale Züge aufweist. Die Niederlage, die die Democristiani bei der Volksabstimmung über die Ehescheidung erlitten haben, hat nicht nur das Ansehen dieser Partei getroffen, sondern auch die Aktivität der Linken merklich gestärkt. Daß von der weiteren innerpolitischen Entwicklung in Italien die gesamte westeuropäische Politik beeinflußt werden kann, liegt auf der Hand. Man denke nur an die linke Gegnerschaft den Europäischen Gemeinschaften gegenüber, deren interne politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten sowieso aus vielen anderen Gründen immer mehr zunehmen.

Ein Blick in die skandinavischen Länder zeigt wieder eine andere Entwicklung. Dort waren — vor allem in Schweden — langjährige sozialistische Regierungen etabliert, die sich auf sozialistische Parlamentsmehrheiten stützen konnten. In den letzten Jahren haben die sozialistischen Parteien ihre Mehrheiten verloren, führen aber trotzdem, wie gegenwärtig in Schweden und Dänemark, die Regierungsgeschäfte als Minderheitsregierung weiter. Wie lange diese Positionen haltbar sind, läßt sich nicht abschätzen, doch ist in solchen Fällen natürlich die Wahrscheinlichkeit vorzeitiger Neuwahlen gegeben. In den drei Benelux-Staaten finden in letzter Zeit häufig Regierungswechsel statt. In Großbritannien wurde die konservative Regierung durch einen knappen Wahlsieg der Labour-Party wieder abgelöst.

Es wäre schwierig, wollte man versuchen, diese unterschiedlichen politischen Bewegungen in den europäischen Staaten auf einen Nenner zu bringen. Zwei Dinge lassen sich jedoch feststellen: Im Fall von Minderheitsregierungen sind es überwiegendsozialistische und nicht konservative und die jeweiligen parlamentarischen Mehrheiten sind äußerst knapp. Die Polarisierung zwischen Links und Rechts nimmt also zu. Ob sich in Zukunft große Koalitionen daraus entwickeln werden oder ob es zu einem häufigen Wechsel in den Regierungen zwischen Rechts und Links kommen wird, läßt sich nicht voraussagen. Das dürfte weitgehend von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abhängig sein. Die in allen Staaten immer spürbarer werdenden Folgen der Inflation lassen möglicherweise den Schluß zu, daß die immer dringender werdende Notwendigkeit, die Inflation in den Griff zu bekommen, große Koalitionen nötig macht. Daß die wirtschaftliche Entwicklung immer stärkeren Einfluß auf die innerpolitische Gestaltung der Demokratien nehmen wird, steht außer jedem Zweifel.

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