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Brusseler Herausforderung

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Niemand wird bestreiten, daß sich die europäische Integrationspolitik seit Monaten in einer Krise, wohl der schwersten seit 1950, befindet. Waren die Ergebnisse der zweiten Gipfelkonferenz Oktober 1972 noch vielversprechend, endete die dritte Zusammenkunft der neun Staatsund Regierungschefs in Kopenhagen mit einem Mißerfolg, welcher der Öffentlichkeit kaum verborgen blieb. Frankreichs Aufgabe der fixen Währungsparität bedeutet einen Schlag gegen die bis 1980 geplante monetäre Union. Es war bisher den Partnern der EG nicht möglich, einen gemeinsamen Energieplan vorzulegen, und die westeuropäischen Staaten ziehen es vor, in bilateralen Gesprächen der drohenden Energiekrise Herr zu werden. Der von den Mitgliedern der Gemeinschaft heiß ersehnte Regionalfonds scheiterte am Widerstand Bonns. Der Agrarmarkt siecht dahin. Die Versammlungen der Landwirtschaftsminister verflachen in einem häßlichen Feilschen um Preise und Importe aus Drittländern.

Die für diese Politik durch Jahrzehnte verantwortlich zeichnenden politischen Kräfte des westlichen Europa haben die Spannungen weder aufgefangen noch neue konstruktive Konzepte entwickelt. Die liberalen Parteien sind zu schwach, um in dieser Hinsicht als Motor auftreten zu können. Sie sind sicherlich von gutem Willen erfüllt. Der internationale Kongreß in Paris 1972 bestätigte den Glauben der Liberalen an ein geeintes Europa. In Frankreich aufgespalten, in England in eine Oppositionsrolle gedrängt und in Belgien über eine schmale parlamentarische Basis verfügend, sind die Liberalen lediglich in der Bundesrepublik ein nicht zu unterschätzender Faktor der Koalition. Man wird Bundesaußenminister Scheel ein 'Reihe von Initiativen in der europäischen Integrationspolitik zubilligen. Die Christdemokraten haben ihre Stoßkraft der ersten Jahre nach dem Krieg ideologisch und organisatorisch allenthalben eingebüßt. In Frankreich löste sich das MRP in den sechziger Jahren auf. In der Bundesrepublik gelingt es der CDU erst jetzt wieder, Profil zu gewinnen. Nur in Italien hielt die christliche Demokratie annähernd ihre Position. Es wäre also denkbar, daß die humanistischen Sozialisten, die in Bonn eine beherrschende Stellung einnehmen und deren Chancen in Großbritannien als günstig bezeichnet werden, sozusagen die erste Geige in den Bestrebungen zur Einigung Europas spielen, doch ist die britische Arbeiterpartei in der Mehrheit europafeindlich. Sollte sie aus den nächsten Wahlen als Siegerin hervorgehen, so ist mit einem teilweisen oder ganzen Rückzug Englands aus der EG zu rechnen. Die SPD hat durch mehrere Jahre ihre beachtliche Energie in die Lösung der Probleme gelegt. Ohne Zweifel hat sie dabei den Blick nach dem Westen vernachlässigt. Die weltpolitische Situation zwingt darüber hinaus Bonn, eher die atlantische als die europäische Karte aufzuschlagen. Die französische gaullistische Bewegung UDR wieder stellt die nationalen Interessen der V. Republik in den Vordergrund der Diskussionen und ihrer pragmatischen Außenpolitik.

Bleiben also die Kommunisten. Der Einfluß dieser Parteien im westlichen Europa ist unterschiedlich. In den germanischen Ländern sind sie keine sichtbare politische Kraft. In England erhielten sie 1970 38.000 Stimmen. Die DKP meldet 40.000 Mitglieder und 0,3 Prozent der Stimmen bei den Wahlen von. 1972. Anders steht es um die in voller Öffentlichkeit auftretenden kommunistischen Bewegungen in den katholischer*. Staaten Frankreich und Italien 'Die KPI verfügt über 1,700.000 Mitglieder, erhielt bei den Wahlen 1972 27,2 Prozent der Stimmen. Die KPF kann da wohl nicht konkurrieren, ist aber mit 400.000 Anhängern und 21 Prozent der Wählerstimmen von 1973 die zweitstärkste Partei des Landes.

Ende Jänner versammelten sich die Repräsentanten von 21 kommunistischen Parteien Westeuropas in Brüssel. Zeichen der Zeit: der Generalsekretär der KPI wurde über Veranlassung des Kammissionsmit-gliedes Spinelle offiziell in den Büros der Europäischen Gemeinschaft empfangen. Mit Recht feiern die einen diese Regionalkonferenz als eine der bedeutendsten Etappen in der Entwicklung des Kommunismus, während die andern sie mit größerer oder geringerer Skepsis bewerten. Neben den Weltkonzilen der kommunistischen Bewegung in Moskau — das letzte fand 1969 statt, ein anderes wird gegenwärtig vorbereitet — kommen begrenzte Ländertreffen immer häufiger in Mode. Die Tagesordnungen solcher Zusammenkünfte waren bisher beschränkt. So wurde, die Invasion in Kambodscha studiert oder der Einfluß der multinationalen Gesellschaften verurteilt. In Brüssel dagegen stellte man erstmals ein allgemeines Programm auf, das die Positionen der westeuropäischen kommunistischen Parteien gegenüber der europäischen Integration definiert. Man darf bei der Beobachtung dieses bemerkenswerten Vorganges keineswegs in den Fehler verfallen, die kommunistischen Parteien als einen monolithischen Block zu deuten, der fügsam sämtlichen Direktiven einer Zentrale nachkommt. Der Polyzentrismus dieser atheistischen „Kirche“ der Gegenwart hat gefährliche Schismen erzeugt. Der Kommunismus, zwischen Moskau und Peking gespalten, ist, der Vergleich sei gewagt, in einen katholischen und protestantischen Teil aufgefächert. Zwischen den verschiedenen Schwesterparteien existieren beachtliche Differenzen. Die Italiener sind seit dem politischen Testament Togliattis in keiner Weise bereit, die bis zum Jahre 1943 bestätigte Unfehlbarkeit der KPdSU zu respektieren. Der eigenwillige Kurs der illegalen spanischen Partei ist ebenfalls bekannt. Bei zahlreichen Anlässen konnte man die Unterschiede der Auffassung zwischen KPF und KPI aus den Erklärungen und den Kommuniques der beiden Parteien herauslesen. Ob es sich um die Verurteilung des Eingreifens der Warschauer-Pakt-Mächte in der Tschechoslowakei oder um die Definierung des Phänomens Solsche-nizyn handelt — die Wege der Italiener und Franzosen waren jedesmal verschieden. Die KPF beansprucht für sich, als Wächter der nationalen Interessen aufzutreten. Bekanntlich hat sie sich in außenpolitischen Analysen oft mit den Gaullisten getroffen. Die kommunistischen Franzosen haben nicht aufgegeben, den Schuman-Plan, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und alle übrigen Institutionen anzugreifen, die supranationalen Charakter tragen. Die Italiener zeigten sich da weitsichtiger. Wer die in französischer Sprache erschienene Publikation der KPI „Les Commu-nistes Italiens“ aufmerksam studiert, wird in den Artikeln oft Töne finden, die aus der Feder überzeugter Europäer au stammen scheinen. Sie waren es auch, die ihre Gewerkschaft vorschickten, um erste, aber ernste Kontakte mit den Brüsseler Behörden der EG aufzunehmen. Die KPF verharrte bis zum Abschluß des gemeinsamen Programms mit den Sozialisten bezüglich der europäischen Fragen in einer negativen Haltung. Bei den Diskussionen zur Abfassung dieses Dokumentes mußte Generalsekretär Marohais den sozialistischen Partnern gewisse Konzessionen machen. Denn das europäische Erbe der einstigen SFIO ist von der sozialistischen Partei Mitterrands aufgenommen und akzeptiert worden. Freilich zeichnen sich die Punkte des gemeinsamen Programms bezüglich der Außenpolitik nicht gerade durch bemerkenswerte Klarheit aus.

Die Brüsseler Konferenz der kommunistischen Parteien führte zu Auseinandersetzungen und langatmigen Kompromissen. Die Enddeklaration reflektiert diese Gegensätze, aber der Schritt in Richtung Europa kann auch von den Gegnern nicht abgestritten werden. Die Italiener und Franzosen, welche ja im Europäischen Parlament mit einer extrem linken dänischen Splittergruppe eine eigene Fraktion bilden, sind sich zusehends nähergekommen. Wohl wird dem kapitalistischen Europa der Kampf angesagt, aber die bestehenden Institutionen werden in ihrer Funktion nicht bestritten. Bemerkenswert erscheint es den Kommentatoren, daß die Brüsseler Deklaration in keinem einzigen Satz den Marxismus-Leninismus zitiert. Da eine weite Allianz mit den europäisehen Mittelklassen und den „progressiven“ christlichen Kräften angestrebt wird, verzichteten die kommunistischen Spitzenfunktionäre auf ideologische Akzentuierungen. Vor der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wird traditionsgemäß der Hut gezogen, trotzdem aber die Eigenheit jeder nationalen Partei unterstrichen.

KPI wie KPF fühlen sich heute im Vorhof der staatlichen Macht. Beide Parteien haben den Mißerfolg des Marxismus in Chile untersucht und kommen zum Schluß, daß in einem katholischen Land ein definitiver Wahlsieg und die Errichtung eines Volksfrontragimes von der nicht nur passiven Zustimmung weiter Kreise der Christen abhängig ist. Schon Maurice Thorez hatte in den dreißiger Jahren den christlichen Arbeitern die Hand entgegengestreckt, das Mißtrauen gegenüber den Kommunisten war jedoch damals zu groß, als daß eine, solche Union möglich gewesen wäre. Heute sind an Frankreich die Voraussetzungen anders als zur Zeit der Volksfront von 1936. Die Abwehrstellung der katholischen Laienorganisationen gegenüber den Sirenentönen Georges Marchais“ ist aufgelockert. Da in der V. Republik einige Prozent genügen würden, um eine linke Mehrheit zu schaffen, steht in vier Jahren eine Entscheidung bevor, die alle Grundlagen der europäischen Politik in Frage stellen könnte. Noch lebt im Unterbewußtsein vieler französischer Kleinbürger die bange Frage: wieweit meinen sie es ehrlich, wird eine Linksregierung die individuellen Freiheiten respektieren, die Freiheit der Forschung und des künstlerischen Schaffens anerkennen und vom politischen Pluralismus nicht abgehen?

Die Konferenz von Brüssel hat keine Kommunistische Internationale Westeuropas geschaffen. Das Zusammenrücken dieser Parteien und ein bei allen Beteuerungen offensichtlich gewordener Wille zur Unabhängigkeit von Moskau zeigen an, daß eine Basis für eine europäische und internationale Strategie von den 21 kommunistischen Parteien Westeuropas formuliert wurde. Verstehen die Christlichen Demokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, daß sie dieser Herausforderung standhalten müssen und nicht mehr in Lethargie verharren dürfen, weil sonst die Verträge von Rom plötzlich einen ganz anderen Inhalt gewinnen würden?

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