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Paris—Moskau und retour

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Es gab politische Beobachter, die schon seit Wochen bemüht waren, de Gaulles Moskaureise eine historische Bedeutung vorauszusagen. Er könnte — so meinten sie — dem eingefrorenen Dialog zwischen Ost und West neues Leben einhauchen und sich zum Mittler zwischen zwei Blöcken aufschwingen, deren politische, militärische und ideologische Polarität weitgehend das Denken und Fühlen der Sterblichen dieser Erde beherrscht.

Die Realisten dagegen machten sich keine allzugroßen Illusionen. Sie wußten, daß sich die Dinge nicht forcieren lassen, daß große Reden, Freundschaftsbekundungen, glanzvolle Empfänge und Fahnenmeere vor den Realisten nicht lange zu bestehen pflegen.

Welch eine Fülle politischer Spekulationen haben wir in diesen Wochen gehört! Alle Möglichkeiten schienen offen: ein neuer französisch-russischer Allianzvertrag, ein Freundschaftspakt, eine europäische Gipfelkonferenz unter Ausschluß der USA (wie es die Logik einer europäischen Konferenz gebot) und manches andere mehr. Man freute sich in Paris im stillen ülber Bonner Nervositätssymptome, und ein Teil der Presse verbarg nur schlecht eine mit Schadenfreude gemischte Genugtuung über Stimmen des Mißtrauens aus den Vereinigten Staaten, England und Italien.

Wir erfuhren bereits am Vorabend des Fluges nach Moskau fast alle Einzelheiten des Programms — daß der Staatspräsident neben Moskau und Leningrad Nowosibirsk, Kiew, Wolgograd und das Raumforschungszentrum besuchen und dabei 10.000 Kilometer zurücklegen werde.

Wem jedoch diese Aufzählung nicht genügte, um die Bedeutung des Staatsbesuches (der natürlich alle bisherigen Moskaureisen gekrönter und ungekrönter Häupter in den Schatten stellte) in ihrem vollen Umfang zu erkennen, dem wurde in Erinnerung gerufen, daß de Gaulles Erscheinen an der Moskwa die Krönung einer französischen Tradition darstelle: Selbst in Rußlands großer Vergangenheit hat kein englischer Souverän oder amerikanischer Präsident den Weg nach St. Petersburg gefunden — doch mehrere französische Präsidenten kamen als Freunde in dieses Land.

Nun, eine bevorzugte Stellung Frankreichs in der Sowjetunion ist eine Legende. Das „Rayonnement français“, die Ausstrahlung Frankreichs, war zur Zarenzeit fraglos ein wesentlicher Faktor an den Ufern der Newa und der Moskwa — zumindest in der Oberschicht.

Heute spielt die französische Geistigkeit schon wegen ihrer dndivi-

dualistischen Prägung keine sehr einflußreiche Rolle im kulturellen Leben der Sowjetunion. Man kann höchstens sagen, daß die gebildeten Schichten des kommunistischen Rußland Frankreich zu einem der vielen Objekte ihrer Neugier erhoben haben, die ausnahmslos der gesamten westlichen Hemisphäre gilt. Doch versäumten sowjetische Kulturexperten bisher keine Gelegenheit, um Manifestationen des kulturellen Avantgardismus Frankreichs — vornehmlich im Bereich der abstrakten Kunst — eindeutig abzulehnen und zu verurteilen.

Aber auch jenseits des kulturellen Bereichs kann man von einer „privilegierten Stellung Frankreichs“ in der UdSSR kaum sprechen, woran auch eine vorübergehende Aufwertung mit Rücksicht auf den Besuch des Generals und die Spekulationen, die man mit seinem Moskauer Gastspiel verband, auf die Dauer kaum etwas ändern dürfte. De Gaulle gilt seit jeher als ein Exponent kapitalistischer Interessen und überdies als eine Persönlichkeit, deren Ehrgeiz in keinem Verhältnis zur Machtstellung seines Landes steht. Daran hat sich seit der Jalta-Konferenz — als die Sowjets mit den Angelsachsen die Ansicht teilten, daß Frankreich keine GroßmaditsteHiung gebühre, um es an der Beratung über die künftige Weltorganisation zu beteiligen — nichts geändert. Zur Zeit der folkloristischjen Sprachsymbolik Chruschtschows hielt man es in Moskau gar für angebracht, Frankreich mit einem Hündchen zu vergleichen, das unter dem sicheren Zaun hervorkläffe und sofort zurückweiche, sobald der Vorübergehende eine bedrohliche Haltung einnehme. Es wäre vermessen anzunehmen, daß im Auf und Ab in der Geschichte französisch-sowjetischer Beziehungen das Urteil Moskaus über Frankreich und seinen Staatschef eine grundlegende Wandlung erfahren habe — etwa durch peue Erkenntnisse der Regierungsequipe, die die Etappen Stalins und Chruschtschow ablöste. Wenn der Kreml trotzdem dem General, der seinen — trotz der Brüskierung von Jalta — als Triurnphzug getarnten Canossagang in die Sowjetunion antrat, einen königlichen Empfang bereitet hat, so ist das keineswegs als eine Abkehr von seinem realistischen Denken anzusehen. Im Gegenteil, das dialektische Denken des Kommunismus ermöglichst es ihm jederzeit, eine Fiktion zur Realität zu machen, um höchst eigensüchtigen politischen Zielen zu dienen. Die Tatsache, daß sich die Interessen des Generals in mancher Hinsicht mit denen der Herren im Kreml decken, läßt den fiktiven Charakter gewisser hintergründiger Überlegungen, über den propagandistischen Aufwand um diese Staatsvisite hinaus, in den Hintergrund treten.

Sowohl der Kreml ‘als auch Frankreichs Staatspräsident haben das erklärte Ziel, die angelsächsische Hegemonie weitgehend aus dem europäischen Raum zu eliminieren. Beide halten an der Oder-Neiße-Linie als endgültige Ostgrenze Deutschlands fest, und schließlich sind sich Moskau und Paris darüber einig, daß der Bundesrepublik Deutschland weder auf direktem noch indirektem Wege der Zugang zu nuklearen Waffen gewährt werden soll. In dieser Hinsicht hat sich die beiderseitige Zielsetzung seit dem letzten Besuch des Generals in Moskau im Jahre 1944 nicht geändert.

Eine andere Frage ist es, ob de Gaulle entgegen seiner früheren Überzeugung die Wiedervereinigung deT beiden Teile Deutschlands will. Darüber sind in Pariser politischen Kreisen die Ansichten geteilt. Im allgemeinen herrscht die Meinung vor, daß sich das Konzept des Staatspräsidenten hinsichtlich der militärischen Entmachtung des östlichen Nachbarn nicht geändert habe, woran auch ein etwaiges Plädoyer für die deutsche Einheit kaum etwas ändern würde. Wer kein allzu kurzes Gedächtnis hat, wird sich daran erinnern, daß der Staatspräsident eine entsprechende Frage Pierre Pflirrllins dahin beantwortete, er predige schon seit tausend Jahren, daß die Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht im Interesse Frankreichs stehe.

In der Anfangsphase des Moskauaufenthaltes de Gaulles ist in amtlichen und halbamtlichen Verlautbarungen die Konkretisierung dieser Problematik bewußt vermieden worden. Die Kreml-Herren hielten es auch für geschickt, die üblichen Angriffe gegen die „amerikanischen Aggressoren“ und die „deutschen Revanchisten“ aus ihrem Wortschatz zu eliminieren, um den Begrüßungsansprachen für den französischen Gast jede demagogische Note zu nehmen. Man wollte ihm, seinem Hauptanliegen entsprechend, Gelegenheit geben, in der Weltöffentlichkeit zu glänzen, und seine stolze Feststellung, das Universum kenne die Bedeutung seines Besuchs, nicht durch die Auslösung bitterer Kommentare entwerten. Ja, es war offensichtlich, daß Moskau im politischen Bereich dem Gast die Initiative überlassen wollte, wenn er — das „Europe européenne“ beschwörend — dem Wunsch Ausdruck gab, daß die beiden Länder ihre Aktionen konzertierten, um zur Einheit und Sicherheit des Kontinents und zum Gleichgewicht der gesamten Welt beizutragen. Die hohen sowjetischen Staatsbeamten lächelten nicht mehr über Frankreichs Anliegen eines blühenden europäischen Gebildes, das „vom Atlantik bis zum Ural“ reichen soll, wenn sie sich auch fraglos dessen bewußt wurden, daß hier vor allem ein Mann in seinem eigenen Namen sprach, dessen persönlicher Erscheinung sein Land in erster Linie als Fassade diente.

Dies bedeutet natürlich nicht, daß sich General de Gaulle mit einem demonstrativen Eklat bescheiden möchte. Seine Reise nach Moskau war sehr sorgfältig durch eine ganze Serie von Reisen seiner Regierungsmitglieder vorbereitet worden. Dazu gehört vor allem der Flug André Malraux’ nach Peking und die kürz- lichen Kontakte Couve de Murvilles in den Hauptstädten der osteuropäischen Satellitenstaaten. Schon Wochen und Monate vor der Staatsvisite sollte die Welt die historischuniversale Bedeutung der französisch-russischen Gespräche erfahren. Die Sowjetunion aber wurde indirekt beschworen, durch ihre Haltung die Kommentatoren der westlichen Presse Lügen zu strafen, daß — wie es der ehemalige Berater des amerikanischen Präsidenten, McGeorge Bundy, in diesen Tagen mit gewollter Schärfe formulierte — Frankreichs Außenpolitik trotz aller negativen Aspekte letztlich für die westliche Welt „erträglich“ sei, da sie in Ermangelung entsprechender Mittel inoffensiv bleiben müsse, und daß das Land nicht in der Lage sei, außer sich selbst jemandem Schaden zuzufügen. De Gaulle will in der Tat Geschichte machen, er will die ost- westliche Polarität überwinden und dank seiner Mitgliedschaft in der NATO, in der er der Wortführer der Annäherungspolitik ist, seine Trumpfkarte ausspielen, die ihm nach seiner Überzeugung die Möglichkeit gibt, Gehör in beiden Lagern zu finden; als Chef des „einzig unabhängigen Landes Europas“ fühlt er sich auch als Spiritus rector eines neuen europäischen Weltpartners.

Man würde die Dinge etwas simplifizieren, würde man in der Initia-

tive dies Präsidenten der französischen Republik lediglich ein Mittel sehen, um die Amerikaner zu ärgern. Er weiß natürlich, daß eine Eliminierung der USA aus Europa nicht allein den Widerstand Westeuropas auf den Plan rufen würde, sondern auch in Osteuropa Spannungen und Konflikte auslösen müßte. Während Rumänien im progressiven Abbau der NATO und des Warschauer Pakts den besten Weg erblickt, um zu einer ost-westlichen Entspannung zu kommen, wünscht Polen eine Verständigung zwischen den beiden Institutionen, da eine militärische Allianz seine neuen Grenzen garantieren würde. In Paris erinnert man an eine kürzlich Äußerung Adam Rapackis, daß Polen über den Weg europäischer Verhandlungen zu einem Akkord mit den USA gelangen möchte.

Fraglos im Bewußtsein dieser „objektiven Gewalten“ hat de Gaulle es in Moskau für zweckvoll gehalten, auf die positive Befrdedigungs- aktivität der Vereinigten Staaten hiinzuweisen. Anderseits fürchtet der französische Staatschef nichts so sehr wie eine Konsolidierung des amerikanisch-sowjetischen Kondominiums in der Welt, das ein „neues Jalta“ sanktionieren könnte. Doch welche Macht ist ihm gegeben, einer derartigen Entwicklung entgegenzutreten, die durch den Antagonismus zwischen Moskau und Peking eine ständige Förderung erfährt?

Die Verfechter der gaullistischen Außenpolitik in Frankreich versuchen in ihren Kommentaren dem französischen Volk klarzumachen, daß der Staatspräsident den Dialog mit einem gewandelten Rußland eingeleitet hat. An Stelle der ewigen Neinsager und Prahler vom Schlage Chruscbfcschews stünden nunmehr nüchterne Bürokraten an der Spitze des Staates. Zwar seien die Führungsposten noch von Epigonen des Stalinismus besetzt, aber schon sei der Druck neuer Männer spürbar, die der Wissenschaft, Forschung, Technik und Wirtschaft entstammten. Das Laboratorium sei dabei, die Politik und die Ideologie zu verdrängen. Die gesamte Orientierung des Landes sei auf eine friedliche Koexistenz und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Kapitalismus abgestellt. Die Führungsschichten strebten mehr und mehr nach einem westlichen Lebensstandard und soziale Forderungen könnten nicht mehr durch Terror zurückgehalten werden.

Die Sowjetunion ersehne eine langfristige internationale Regelung, die ihr ermögliche, im Rüstungswettlauf endlich Atem zu schöpfen. Moskau überlege, wie es seinen Markt nach Westeuropa öffnen könne, ohne daß der außerordentlich hohe Bedarf an Konsum- und Ausrüstungsgütem die potentielle militärische Gefahr Deutschlands vergrößere und ohne daß das Unabhängigkeitsstreben Osteuropas noch verstärkt werde.

Doch der „Mann auf der Straße“ ist geteilter Meinung: Während ein Teil der Bevölkerung mit selbstzufriedener Genugtuung das Wandeln des französischen Staatschefs auf historischen Pfaden verfolgt und in der Vision einer europäischen Achse Moskau-Paris eine bedeutsame nationale Aufwertung erblickt, betrachtet ein anderer mit Skepsis einen Weg der nach seiner Überzeugung im besten Falle in einer ähnlichen Sackgasse enden wird wie frühere gaullistische Wunschbilder eines westlichen Dreierdirektoriums, einer europäischen Achse Paris- Bonn und der Stellung Frankreichs an der Spitze einer „Dritten Kraft“ von Entwicklungsländern, die nach dem zweiten Weltkrieg der amerikanischen Vormundschaft müde wurden.

Ihre Kritik richtet sich nicht gegen den Mut einer im Prinzip als begrüßenswert anerkannten Initiative, sondern gegen die mit ihr verbundenen illusorischen persönlichen Spekulationen.

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