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„In originelleren Kategorien denken“

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Der Schauplatz der Handlung war einmalig. Von der Avenue de la Grand Armee trieb ein eisiger Sturm Nebelschwaden durch den Are de Triomphe auf die Champs Elysees. Unter dem gewaltigen Steinbau schlummert der unbekannte Soldat des ersten Weltkriegs, stehen Divisionen auf, welche in Verdun verbluteten, steigen Gedanken empor an die Opfer des zweiten Weltkriegs. Am 26. Jänner 1972 fand vor diesem Denkmal der französischen Gloire eine Zeremonie statt, die jedem, der die Symbole der Geschichte würdigt, unvergessen bleiben wird. Die republikanische Garde präsentierte in ihren farbenprächtigen Uniformen. Zum erstenmal nach dem Krieg erklang das Deutschlandlied an diesem Ort zusammen mit der Marseillaise.

Sie können in Ruhe der Ewigkeit entgegenblicken, die Robert Schu-mans, Adenauers und de Gasperis. Denn Mitte Jänner wurde in Brüssel ein Akt gesetzt, der im Ablauf der europäischen Geschichte einen Markstein bildet. Durch den Beitritt Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und Norwegens entstand ein Wirtschaftskörper, der vom Nordkap bis Sizilien die freien Völker unseres Kontinents umfaßt. Diese — wenn auch vorläufig prekäre — Union wurde nicht durch die Eroberungsmärsche der Imperatoren oder Diktatoren geschaffen, sondern durch den Willen demokratisch gewählter Staats- und Regierungschefs, gebilligt von Mehrheiten der Parlamente, gutgeheißen von politischen Parteien und Gewerkschaften. Mit anderen Worten: die lebendigen Kräfte der Völker haben sich zur Einheit der westlichen Kultur bekannt. Sie sind bereit, den amerikanischen, russischen und chinesischen Herausforderungen zu begegnen. Es ist nicht die Mystik der christlich-demokratischen Parteien nach dem Krieg, welche jetzt die europäische Integrierung befruchtet, und dynamisch vorwärtstreibt, es sind die politischen und wirtschaftlichen Erwägungen kühler Polit-Technokraten und Finanzexperten.

Trotzdem hat Europa einen neuen Anlauf gewagt. Jeder, der das große Abenteuer von der ersten Erklärung Robert Schumans bis zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes verfolgt hat, wird sich fragen, wie die Konturen dieses Großeuropas beschaffen sind. Solche Überlegungen wählen den Standort Paris, denn nach wie vor ist ja die V. Republik — ein Blick auf die Landkarte genügt — der zentrale Punkt der Zehnergemeinschaft. Nicht umsonst gingen von Paris nach dem zweiten Weltkrieg die ersten Impulse aus, nicht umsonst war es der Franzose Mon-net, der das Werk der europäischen Vereinigung konzipierte und inspirierte. Sehr zu unrecht hat man den größten französischen Staatsmann des 20. Jahrhunderts, General de Gaulle, als einen entscheidenden Gegner der europäischen Integrierung bezeichnet. Der Gründer des Regimes hat gemeinsam mit Bundeskanzler Adenauer die endgültige Versöhnung zwischen den beiden Teilen des karolingischen Reiches realisiert.

Die französischen Politiker sind sich durchaus bewußt, daß dieses gaullistische Erbe zur Gänze erhalten werden muß. Wohl trübten sich die deutsch-französischen Beziehungen 1971 infolge der Währungskrise und der oft undiplomatischen Haltung des Finanz- und Wirtschaftsministers Schiller. Mit Ausnahme der Kommunisten sind alle politisch denkenden Bürger des Landes von der unbedingten Notwendigkeit enger deutsch-französischer Bindungen überzeugt. Frankreich wird nichts unternehmen, um der gegenwärtigen Bundesregierung in Bonn Schwierigkeiten zu bereiten oder um die Entspannungspolitik in Frage zu stellen. Dies will jedoch nicht heißen, daß Paris die Gefahren einer gewaltigen Machtzusammenballung im Osten ignoriert. Die neue Verteidigungspolitik der V. Republik läßt deutlich den Schluß zu, daß die französischen Staatsmänner und Militärs dem Ausbau einer gemeinsamen Defensive gegenüber dem Osten primäres Gewicht beimessen. Frankreich wird daher jede einseitige Reduzierung der westlichen Verteidigungskräfte in Europa ablehnen, wenn nicht ernsthafte Garantien von der Sowjetunion und v den Warschauer-Pakt-Mächten gegeben werden, um der europäischen Sicherheit

— dem Worte Sicherheit entsprechend — gerecht zu werden.

Paris will dem erweiterten Europa weltpolitische Aufgaben überantworten. Das bisherige Schweigen Europas in Südostasien, Afrika und Lateinamerika soll einer konstruktiven Politik der Vermittlung und des Friedens weichen. Europa, mit den Erfahrungen der Geschichte belastet, kann der chaotisch anmutenden Welt gewisse Dienste bieten. Darum werden in Paris alle Schritte begrüßt, die eine Annäherung an das China Maos bezwecken. Mit Aufmerksamkeit registriert man an der Seine die ermunternden Worte, die von Peking nach Brüssel dringen.

Das Ziel der Emanzipierung kleiner Nationen der Dritten Welt verfolgt das französische Staatsoberhaupt mit Energie und Opfermut. Der Reisetermin Pompidous für den Besuch der Staaten Niger und Tschad, zwei Tage nach Unterzeichnung der Brüsseler Verträge, mag zufällig gewählt sein. Wir glauben eher, einen historischen Hinweis zu entdecken. Schon der Vater Europas, Robert Schuman, hat eine enge Allianz zwischen einem geeinten Europa und den früheren afrikanischen Kolonialgebieten konzipiert. Mehrfach äußerte er seine Ängste, ein einiges Europa könnte aus wirtschaftlichen Gründen einen Neokolonialismus pflegen und die berechtigten Aspirationen der afrikanischen Völker mißachten. Sicherlich wurden die französischsprechenden Länder des schwarzen Erdteils dank der Konvention von Jaounde der EWG assoziiert. Selbst Frankreich und Deutschland konkurrenzierten einander bei der Entwicklungshilfe. Eines der wichtigsten Anliegen der jungen afrikanischen Staaten, nämlich die zentrale Ausbildung ihrer Eliten durch einen europäischen Gesamtplan, ist nie zustande gekommen. Nach Gesprächen mit schwarzen Intellektuellen, die an Pariser hohen Schulen studieren, geht hervor, wie sehr diese Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen politisch disponibel sind. Ihren Traditionen entsprechend, fühlen sie sich vom Marxismus selten und vom Maoismus kaum angesprochen. Wie klagte einer dieser Gesprächspartner? „Frankreich, England und die Bundesrepublik bieten uns gelegentlich Stipendien, kümmern sich aber nicht mehr um uns, wenn wir nach Paris, Brüssel oder London kommen.“

Das Großeuropa 1972 wird daher

— Staatspräsident Pompidou hat es mit Nachdruck ausgesprochen — eine gemeinschaftliche Entwicklungspolitik gegenüber den französisch- und englischsprechenden Staaten Afrikas entwickeln müssen.

Das Europa von Brüssel wird sich erinnern, daß es nicht nur an den Atlantik grenzt, sondern wichtige wirtschaftliche und kulturelle Interessen im Mittelmeerraum zu vertreten hat. Die französische Politik wurde in diesem Gebiet oft falsch, manchmal mißgünstig interpretiert. Europa muß wissen, wer die anderen Ufer dieses Meeres kontrolliert. Die erweiterte EWG sollte daher in originelleren Kategorien denken, lieb gewordene Vorstellungen über Bord werfen und eine spezielle Dynamik der internationalen Politik kreieren. Soweit es Staatschef Pompidou und sein Team betrifft, werden sie als Motor dieser skizzenhaft aufgezeichneten Entwicklung fungieren.

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