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Die Wiederherstellung der Neutralität

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In den Berichten über die jüngsten Verhandlungen im Sicherheitsräte werden die sechs Mitglieder dieses Exekutivorgans der Vereinten Nationen, die zum Unterschied von den fünf ständigen Mitgliedern Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion, Vereinigte Staaten und China nur für die Dauer von zwei Jahren gewählt sind, die „Neutralen” genannt. Ihre Haltung ist bezeichnend für jenen Teil der Welt, der sich den amerikanisch-russischen Reibungen fernzuhalten wünscht und, soweit er sich im Sicherheitsrat geltend zu machen vermag, für eine Ausgleichung dieses Gegensatzes im Verhandlungswege eintritt. Der von dem Vertreter Mexikos eingebrachten Motion, die eine eindringliche Mahnung an die Großmächte enthielt, ihre Differenzen in friedlicher Weise zu ordnen, und die einstimmig unter lebhaftem Beifall angenommen wurde, folgte der gemeinsame Schritt des Generalsekretärs Trygve Lie und des Vorsitzenden der Generalversammlung der Vereinten Nationen, des australischen Außenministers Dr. Evatt, zur Herbeiführung einer persönlichen Aussprache zwischen den Regierungschefs Großbritanniens, der Sowjetunion, Frankreichs und der Vereinigten Staaten.

Zu diesem Akte, für den sich eine ausdrückliche Unterlage in der Charta allerdings nicht vorfindet, hätten sich zwei Staatsmänner von dem Range der Genannten sicherlich nicht entschlossen, wenn sie nicht dazu von ihrem hohen Verantwortungsgefühle und von der Überzeugung gedrängt worden wären, daß ihnen der Geist der Charta angesichts der internationalen Situation einen solchen Schritt zur Pflicht machte. Hier steht die Welt der Entscheidung nahe, ob die Vereinten Nationen als eine ideologische Konstruktion oder als ein Instrument der praktischen Politik anzusehen sind. Als Warnung mag dabei dienen, daß der vormalige Völkerbund an der niemals überwundenen Spannung zwischen Großmachtpolitik und Satzung zugrunde gegangen ist.

Nirgends und am wenigsten in diesem Teile Europas vermag sich die öffentliche Meinung ein in jeder Hinsicht hinreichendes und zutreffendes Bild der unterschiedlichen Kräfte zu machen, die hinter den Entschlüssen der großen Regierungen wirksam sind und in einem bestimmten Augenblicke den Ausschlag geben. Es mag sein, daß die so stark hervortretende Neutralitätspolitik des Sicherheitsrates in einem unmeßbaren Verhältnis zu der Realität des amerikanischrussischen Gegensatzes steht. Jedenfalls kommt aber neben dieser Realität einer anderen Realität das gleiche Gewicht zu: es ist der Friedenswille eines namhaften Teils der westlichen Welt, wie er in der Haltung der Neutralen des Sicherheitsrates zum Berliner Streitfälle, in der mexikanischen Resolution, in dem Schreiben Trygve Lies und Dr. Evatts und in dem neuen Schritt des Außenministers Brasiliens, Dr. Bratnuglia, in unverkennbarer Weise zum Ausdruck gekommen ist.

Zwischen diesen beiden Realitäten gibt es nur eine Brücke: die Neutralität. Sie hat früher im Völkerrecht und in allen Kriegen des 19. Jahrhunderts eine bedeutsame Rolle zum Heile der Völker gespielt als VorausSetzung für die Lokalisierung der Feindseligkeiten. Wäre es denn heute nicht hoch an der Zeit, sich mit dem Gedanken einer solchen Lokalisierung für jenen unglückseligen Fall, der gar nicht angenommen sei ,doch von dem viel zuviel gesprochen wird, intensiver zu beschäftigen als mit der möglichst weiten Ausdehnung der Kriegshandlungen? — Das Neutralitätsrecht, ehedem Schutzwehr für friedlich gesinnte Staaten gegen die Gefahr, in einen Krieg wider eigene Absicht verwickelt zu werden, wird heute, in dieser zur Totalität auf allen Gebieten neigenden Zeit, von der Idee einer allgemeinen Solidarität zur Verhinderung oder zur Bestrafung eines Friedensbruches überschattet. Aber die Entwicklung, die zum letzten Kriege geführt hat, bewies, daß diese Theorie des „ungeteilten Friedens” zugleich den ungeteilten Krieg bedeutet. Es ist daher verständlich, daß sich heute eine rückläufige Bewegung zugunsten des individuellen Neutralitätsrechts anbahnt. Die Länder, die zwischen dem Ostblock und der sich herausbildenden atlantischen Interessengemeinschaft liegen, sind gewiß an einer Wiederherstellung des Neutralitätsbegriffs in besonderem Maße interessiert.

Als nach Beendigung des Krieges und nach dem Auftauchen der ersten Differenzen zwischen Moskau und den Westmächten die politische Führung Rußlands das Bedürfnis nach einem Sicherheitsgürtel gegen Westen empfand und auf der anderen Seite in England mit dem Übergang der Regierung an die Arbeiterpartei die Möglichkeit einer Option zwischen einer Verständigung mit Rußland und einer solchen mit den Vereinigten Staaten gegeben war, legten die Verhältnisse den Gedanken nahe, eine breite neutrale Zone von Skandinavien über Deutschland und Österreich bis nach Italien, Griechenland und der Türkei zu schaffen. Damals, Ende 1945, das ganze Jahr 1946 und bis in das Jahr 1947, wären die skandinavischen Länder, Deutschland, die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Italien, Griechenland und die Türkei ohne Zweifel insgesamt bereit gewesen, die Verpflichtung dauernder Neutralität zu übernehmen. Eine solche Bereitschaft wurde in Reden skandinavischer Minister offen ausgesprochen; das deutsche Volk hätte nach den furchtbaren Heimsuchungen durch zwei unglückliche Kriege mit dem Gefühl der Erlösung diesen Preis für die Bewahrung seiner Einheit und die Sicherung friedlicher Sammlung gezahlt; in den kleineren Staaten des Donau-Moldau- Beckens, deren Unabhängigkeit sich in den vorangegangenen Jahren der Gewalt so labil erwiesen hatte, hätte die primitivste Vernunft bereitwillig nach einem international garantierten Statut greifen müssen, das dem der Schweiz nachgebildet gewesen wäre; und welche Motive hätten im Augenblicke, da sich die Gefahren eines künftigen Machtkampfes um das Mittelmeer am politischen Horizont abzuzeichnen begannen, die Regierungen Italiens, Griechenlands und der Türkei veranlassen sollen, sich gegen eine Neutralisierung zu sträuben? Für Italien und Griechenland wäre auch noch das Argument in die Waagschale zu werfen gewesen, daß die unschätzbaren Denkmale einer großen Vergangenheit, die während des letzten Krieges nur mit knapper Not der Zerstörung entgangen waren, in Hinkunft vor einer solchen Bedrohung bewahrt werden müßten.

Aber in dem von Molotow geleiteten Moskauer Außenkommissariate wollte man die große Chance einer Neutralisierung Mitteleuropas nicht erkennen, eines Gedankens, der gegen Ende des Krieges von einzelnen prominenten amerikanischen Publizisten erörtert worden war. Die russische Politik glaubte die im Krieg gewonnene gewaltige Stellung in Europa durch die Erzwingung kommunistischer Systeme in einer Anzahl der Sowjetunion westlich vorgelagerter Länder besser sichern zu können als durch die dauernde Befriedung ganz Mitteleuropas von Norden zum Süden und dessen Ausschaltung aus der großen Politik. So blieb hier alles in Schwebe, der Neutralitätsgedanke, in dem die einfachste Lösung so vieler bei Kriegsende im Keim vorhandener Gegensätze lag, wurde untergraben, eine Atmosphäre des Argwohns wurde geradezu künstlich und gegen ursprüngliche Neigungen großgezogen, dem unglückseligen Begriff des Eisernen Vorhangs zur Entstehung verholfen und eine Reihe von Regierungen, die nichts eifriger anstrebten als eine neutrale Linie, mit allen Mitteln in eine Abwehrposition gedrängt, welche jetzt von Moskau zu Unrecht als aggressiv angeklagt wird. Auf der einen Seite hat die wirtschaftliche Notlage die west- und mitteleuropäischen Länder veranlaßt, sich dem Marshall-Plan anzuschließen, auf der andern Seite erzeugte der politische Druck aus dem Osten selbst in Staaten, die sich bis in die jüngste Zeit zur strikten Neutralitätspolitik entschlossen zeigten, wie den skandinavischen, ein Bedürfnis nach Anlehnung an jene Mächte, von denen sie eine Einmischung in ihre inneren Verhältnisse nicht zu gewärtigen haben, sowie ein erhöhtes Interesse für die eigene militärische Verteidigung.

Beides aber — Teilnahme am Marshall- Plan und Vorsorge zur Abwehr eines Angriffs — präjudizieren in keiner Weise der weitern Verfolgung einer neutralen Politik. Ja, man kann im Gegenteil sagen, daß die wirtschaftliche Standfestigkeit und ein hinlängliches militärisches Defensivpotential unentbehrliche Voraussetzungen einer wirkungsvollen Neutralitätspolitik sind. Der Bundesrat der Schweiz, die, wie man weiß, verpflichtet ist, eine zur Verteidigung ihrer Neutralität hinreichende Wehrmacht ständig aufrechtzuerhalten, begründete im vergangenen Sommer den Beitritt zum Marshall- Plan mit einer Botschaft, in der es unter anderem hieß:

„Die wirtschaftliche Zusammenarbeit regionalen . Charakters ist selbst durch die Satzungen der Vereinten Nationen zugelassen. Si hat nicht das geringste zu tun mit der Bildung eines politischen Blocks, der gegen einen anderen Staat oder eine Swatengruppe gerichtet wäre. Sie kann nicht einmal als Verteidigungsbündnis betrachtet werden.”

Dieser Standpunkt gilt für jeden andern europäischen Staat, der zwar an den ohne politische Bedingungen gewährten Vorteilen des Marshall-Planes teilnimmt und die zur Aufrechterhaltung seiner politischen Selbständigkeit notwendigen Vorkehrungen nicht vernachlässigt, aber fest entschlossen ist, gegenüber einem allfälligen Konflikt zwischen den Weltmächten eine neutrale Haltung bis zum Äußersten beizubehalten.

Es entsteht nun allerdings die Frage, wieweit die Neutralität eines europäischen Staates im Ernstfälle durch eine völkerrechtliche Garantie als gesichert angesehen werden könne. Das hängt wieder von dem Umfang der praktischen Geltung des Völkerrechts überhaupt ab. Allzu optimistische Anschauungen werden in dieser Hinsicht vielleicht nicht am Platze sein. Aber ebenso wäre es verfehlt, von einem hoffnungslosen Zerfall des Völkerrechts zu sprechen. Außerhalb des übereinstimmenden guten Willens der jeweils maßgebenden Großmächte kann dem Völkerrecht gewiß keine absolute Geltung beigemessen werden. Nichtsdestoweniger wurden selbst im letzten Kriege, an dem Regierungen beteiligt waren, die wenig Neigung hatten, sich an völkerrechtliche Grundsätze zu halten, wenn diese ihren Kriegszielen im Wege standen, die hauptsächlichsten Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung (die von der Sowjetunion offiziell nicht anerkannt ist), praktisch von allen Seiten gewahrt, ebenso die völkerrechtlichen Gepflogenheiten bei Austausch von Diplomaten und die Achtung vor dem Zeichen des Roten Kreuzes. Die Schweizer Neutralität wurde nicht angetastet; Schweden, die Türkei und Spanien konnten ebenfalls neutral bleiben. Diese Erfahrungen in einem Kriege, der an Unerbittlichkeit wohl alle Kriege der letzten Jahrhunderte überboten hat, gestatten eine günstige Beurteilung einer weiteren Entwicklung des Neutralitätsgedankens, wie düster auch sonst die Voraussagen einer künftigen Kriegführung sein mögen. Es ist hiefür nur notwendig, daß er sowohl von den Regierungen und Parlamenten wie auch von den Rechtsfakultäten der daran interessierten Staaten nachdrücklich gefördert werde, und zwar in offenem Gegensatz zu der These des „ungeteilten Friedens” und der „ungeteilten Sicherheit”.

Dem steht nun allerdings das Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen im Wege. Der Artikel 43 enthält die Verpflichtung aller Mitglieder dieser Organisation zur Teilnahme an Sanktionen, die der Sicherheitsrat bei einer Bedrohung des Friedens beschließt. Nach dem Beispiel der Schweiz, die mit Berufung auf ihr Neutralitätsstatut eine solche Verpflichtung abgelehnt hat, darf wohl angenommen werden, daß die Zuerkennung dauernder Neutralität auch im Falle eines andern Staates mit der Mitgliedschaft zu den Vereinten Nationen in Einklang gebracht werden kann. Es bedarf wohl nicht erst einer Erläuterung, daß ein neutraler Pufferstaat durch strenge Wahrung und Verteidigung seiner Neutralität dem Frieden bessere Dienste zu leisten geeignet sein wird als dadurch, daß er bei Auftauchen einer Kriegsgefahr sich an Sanktionen beteiligt, deren Wirksamkeit überdies zweifelhaft sein kann. Der Artikel 50 der Charta sagt übrigens:

„Wenn der Sicherheitsrat gegen irgendeinen Staat vorbeugende oder Strafmaßnahmen ergreift, bat jeder andere Staat… der sich infolge Auswirkung der ergriffenen Maßnahmen vor besondere wirtschaftliche Probleme gestellt sieht, das Recht, den Sicherheitsrat hinsichtlich einer Lösung solcher Probleme zu befragen.” Danach müßte man eigentlich schließen, daß politische Bedenken noch viel eher einen zur Teilnahme an Sanktionen aufgeforder- ten Staat berechtigen sollten, gegen einen solchen Auftrag an die bessere Einsicht des Sicherheitsrates zu appellieren. Eine ausdrückliche Ausnahme von den Bestimmungen des Kapitels VII für Staaten mit einem international garantierten Neutralitätsstatut ist in der Charta der Vereinten Nationen bisher nicht enthalten. Eine solche würde natürlidi der Neubelebung des Neutralitätsgedankens zustatten kommen

Schließlich läge die Ausbildung des Neutralitätsrechts, soweit sie zunächst kleinere Staaten beträfe, auch in der Linie jener Beschlüsse der XVII. Konferenz des Internationalen Roten Kreuzes, die einem bessern Schutz der Zivilbevölkerung in einem künftigen Krieg und der Einrichtung von Sicherheitszonen und Lazarettstädten gelten. Wenn man sich schon mit dem Gedanken zu befassen beginnt, in kriegführenden Staaten neutrale Zufluchtsstätten zu schaffen, was steht dann noch im Wege, endlich an das Problem einer dauernden Neutralisierung gewisser kleinerer, durch einen Krieg besonders bedrohter Staaten heranzutreten?

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