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Ohne Treu und Glauben

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i.

1 „Diesmal geht es in angenehmer Stimmung in den Krieg.“ Das soll, dem Bericht eines der geistreichsten internationalen Reporter zufolge, in diesen Tagen ein „über dem Whiskyglas“ philosophierender amerikanischer Korrespondent an der Bar in Genf gesagt haben. „Wir werden weiter sondieren, wenn alles in Scherben fällt“, sollen zur gleichen Zeit andere Journalisten in makabrer Parodie vor sich hingesungen haben, als sie wieder einmal eines der vielen nichtssagenden Kommuniques am Ende der jeweils mit schwach glimmender Hoffnung erwarteten Sondergespräche im kleinen und kleinsten Kreis zur Kenntnis genommen hatten.

Über der Welt dieser Tage liegt ein diffuses Zwielicht, für das die uns bekannte Geschichte kaum ein vorangegangenes Beispiel kennt. Je mehr einer der großen internationalen Kommentatoren wirklich weiß, desto schweigsamer ist er geworden. Wer sich nach Reporterart auf das Verzeichnen der Tatsachen beschränkt, findet den berühmten „Schlußsatz“ nicht mehr, der dem Leser'die Konsequenz und „Moral von der Geschieht'“ ausdeuten soll. Niemand hat mehr den Mut, Zweckoptimismus zu verbreiten, aber niemand hat auch den Mut zum Gegenteil: offen und unbeschönigt zu sagen, daß die große Konferenz, die über Initiative der Vereinten Nationen in Genf zusammengetreten war, um über die Abrüstung zu befinden, praktisch gescheitert ist. Ja nicht nur die Konferenz im engeren Sinne ist rettungslos festgefahren. Auch die Versuche, die die angelsächsischen Außenminister und ihr sowjetischer Kollege anstellten, das Problem von einer seiner außerhalb des Beratungsthemas her liegenden Wurzeln — nämlich der Deutschland- und Berlin-Krise aus — zu lösen, sind fehlgeschlagen.

Das Wort von den „anderen Kanälen“, über die nun die Kontakte fortgesetzt werden sollen, ist zwar mehrdeutig, aber kaum hoffnungsreicher. Ist damit wieder die niedere Ebene der Berufsdiplomaten und Experten gemeint? Dann kann man sich kaum vorstellen, welche neuen Gesichtspunkte entwickelt werden könnten. Deutet sich hier etwa eine Hoffnung auf das Gipfelgespräch an? Dem stünden von vornherein sachliche Bedenken gegenüber: Frankreich würde wohl kaum teilnehmen, und die bekannte Differenz zwischen England und Amerika über die Zweckmäßigkeit einer solchen Konferenz ohne irgendeine vorher erarbeitete Verständi-

gungsbasis ist kaum geringer geworden.

Uns scheint die harte und in ihrer logischen Unerbittlichkeit am Ende doch heilsame Lehre des Genfer Gesprächs in einer Erkenntnis zu liegen, die nun kaum noch angezweifelt werden kann: Ob nun die Experten über die Möglichkeiten einer Atomversuchskontrolle verhandelten, ob die Deutschlandsachverständigen Kohler und Semjonow Details der Zufahrtswege nach West-Berlin erörterten, ob die Außenminister Rusk und Gromyko miteinander mehrstündige Gespräche führten oder ob es morgen zu einer Wiederholung des Wiener Treffens zwischen Kennedy und Chruschtschow kommt; jede dieser Begegnungen hat nur dann einen positiven Sinn, wenn an ihrem Ende wenigstens die Möglichkeit einer Vereinbarung steht, wenn schon nicht ein Vertrag, so doch wenigstens ein „agreement“ ausgehandelt werden kann, das zumindest einen Teil der Fragen regelt, ein Fadenende freilegt, von dem aus man den Knäuel aufzuspulen vermag. Und jede solche Vereinbarung hat etwas zur unabdingbaren Voraussetzung, was man nach altvaterisch klingender Juristenart „Treu und Glauben“ nennt. Dieser Grundsatz, diese Generalklausel, steht vor und hinter jedem gültigen Rechtsakt. Das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch nennt ihn in 242 ausdrücklich beim Namen. Unser (älteres) Österreichisches Gesetzbuch führt ihn nirgends wörtlich auf. Aber er versteht sich für jeden Richter als eine Verpflichtung, ein Auslegungsprinzip am Rande. Die 869 bis 880 a über „Wahre Einwilligung“ und über „Möglichkeit und Erlaubtheit“ sind von diesem „Treu-und-Glauben “-Prinzip geradezu durchweht und getragen. Gilt dies schon für das bürgerliche Recht, um wieviel mehr für das Völkerrecht, das ohne den Obersatz „Pacta sunt servanda“ vollends zusammenstürzen muß.

Die Genfer Konferenz hat in ihrem vor aller Augen sichtbar gewordenen Fiasko die eigentliche Weltkrise enthüllt, die allen anderen Gegensätzen militärischer, nationaler, geopoliti-scher, kultureller oder sonstiger Art zugrunde liegt: Die Krise des Rechtes. Der nicht eben rhetorisch temperamentvolle amerikanische Außenminister schrie es fast verzweifelt in den Sitzungssaal: „Ihr Sowjets könnt von uns nicht verlangen, daß wir mit euch ein Abkommen in bloßem gutem Glauben schließen.“ Und eisig wiederholten es Gromyko, Sorin, Tsarapkin immer aufs neue: „Ihr im Westen wollt Kontrollen auf unserem Boden. Kontrollen sind aber nur Vorwände für Spionage.“ Die Dinge in der Deutschlandfrage liegen ähnlich: Für den Westen ist jede Freistadtregelung für West-Berlin, die die Sowjets vorschlagen, nur eine Vorstufe für die Bolschewisierung der westlichen Sektoren. Für die Sowjets heißt Zugangsfreiheit und Besatzungsstatut Organisation von Sabotage, Brandstiftung und Kriegshetze.

Gewiß bedeutet ein Vertragsabschluß nicht Verbrüderung oder Aufhören des eben einmal unvermeidlichen vorsichtigen und gesunden Mißtrauens. Gewiß ist das Bestreben jedes Partners, einen Vertrag in einem für ihn selbst günstigsten Sinn auszulegen, ja sogar bei einer günstigen Veränderung der Gesamtlage eine wesentliche

Verbesserung der Bedingungen anzustreben, durfhaus legitim. Aber zwei Partner, die einander von vornherein und grundsätzlich verdächtigen, jedes Abkommen nur als Vorwand für seinen Bruch anzusehen, können keinen Vertrag miteinander schließen, Es ist menschenunmöglich, ihn mit einer unendlichen Zahl von Klauseln für die unendliche Reihe der Möglichkeiten einer von vornherein als Hauptzweck angestrebten Verletzung zu spicken.

Ost und West, präziser gesagt: die beiden derzeitigen Vormächte USA und die Sowjetunion, sind zur Stunde auf keiner Ebene fähig, einen auch nur ein integrierendes Teilgebiet betreffenden Vertrag zu schließen, weil das dazu notwendige Treu-und-Glauben-Verhältnis zur Zeit nicht existiert.

II.

Das Neue und noch nie Dagewesene liegt aber nun darin, daß es auf der Basis dieser endlich einmal schonungslos und vor aller Welt zugegebenen grundsätzlichen und sachlichen Uneinigkeit doch eine Übereinstimmung, die Basis für ein wenige Stunden vor dem Abflug des amerikanischen Außenministers veröffentlichtes gemeinsames Kommunique von Rusk und Gromyko, gegeben hat. Hinter meiner wortkargen Formulierung werden drei Elemente erkennbar:

Zum ersten: Es soll-wegen der Berlin-Frage unter keinen Umständen einen Krieg geben. Man ist sich wohl endgültig klar darüber geworden, daß es trotz aller ausgeklügelten Spekulationen über „begrenzte Konflikte“ früher oder später bei einem bewaffneten Zusammenstoß der Weltmächte oder ihrer direkten Verbündeten auf europäischem Boden zum allgemeinen Kerhwaffenkrieg kommen muß. Jenseits aller moralischen und juristischen Bindungen haben nun beide Staaten einander attestiert, daß sie diesen Krieg aus elementarem Selbsterhaltungsinteresse unter keinen Umständen wünschen und daß er unter allen Umständen als eine diskutable Alternative ausscheidet. Das ist eine Erklärung, die ■ eine wertlose Phrase wäre, wenn sie -e i n e r der Streitenden für sich allein abgegeben hätte. Denn was sollte er anderes proklamieren? Hier aber trägt sie zwei gewich-

tig Unterschriften. Sie ist kein Vertrag, weil keiner dem anderen etwas

gibt und dafür etwas erhält. Sie ist eine Deklaration, in der jeder seinen eigenen Vorteil, in diesem Fall sein eigenes Lebenwollen, als ein oberstes Prinzip verkündet. Und als solche ist sie selbst ohne „Treu und Glauben“ zunächst einmal glaubwürdig. Denn niemand ist gehalten, beim Partner Selbstmordabsichten vorauszusetzen.

Zum zweiten: Der Kreis der Atom mächte soll nicht erweitert werden. Das ist ein Beschluß von noch kaum absehbarer Bedeutung. Die etwas vereinfachte These, daß dies für die Sowjets eine Distanzierung von Peking, für die Amerikaner aber eine Distanzierung von Bonn oder gar von der Bundesgenossenschaft der NATO bedeutet, ist nicht ganz richtig. Die Größen sind miteinander nicht vergleichbar, ebensowenig die Art der geschriebenen oder ungeschriebenen Bindungen. Aber unverkennbar ist bei dieser Deklaration der Versuch, zur Ausgangslage des Jahres 1945 zurückzukehren, zurn^ Dreierdirektorium von Jalta und Potsdam, das es unternahm, der Welt eine dauerhafte Friedensordnung zu geben, die durch eine Verteilung der totalen Macht garantiert werden sollte.

Die damaligen Hoffnungen, daß sich aus der realen Gegebenheit der „Begegnung an der Elbe“ eine vertragliche Weltordnung — symbolisiert im Sicherheitsrat der UNO — entwickeln sollte, sind allesamt gescheitert. Wie ausdrücklich festgestellt werden muß: durch überwiegende Schuld der Sowjetunion gescheitert, die mit der gewaltsamen Beseitigung der demokratischen Regierung in Prag, 1948, und mit der Duldung des nordkoreanischen Überfalls auf Südkorea, 1950, diese -Ordnung zerstörte. (Damals lebte und regierte allerdings Stalin.) Daß sich auch der Westen in diesem seither herrschenden kalten Krieg nicht nur als Unschuldslamm bewährte, ist allerdings geschichtsnotorisch. An einen wirklichen Friedensschluß im kalten Krieg ist nun heute und morgen nicht zu denken. Was mit dieser Abmachung angestrebt wird, ist nichts anderes als eine Erstarrung der Fronten, ein Versuch, zur machtpolitischen Realität, nicht zum „Geist“ von 1945 zurück-

zukehren. Daß die Welt seither nicht stehengeblieben ist, weiß man in Moskau wie in Washington. Aber man dürfte — ausgesprochen oder unausgesprochen — in der Erkenntnis über einstimmen, daß es gegenüber den neuaufgebrochenen Kräften der Revision so etwas wie eine Interessensolidarität geben könnte. Wieder nicht von der Liebe oder Gleichgesinntheit, sondern vom elementaren Überlebens-wunsch diktiert.

Zum dritten heißt es schließlich: Es soll weiterverhande1t werden. Niemand kann sagen, auf welchen Bahnen und in welcher Richtung. Diametral stehen einander die Meinungen gegenüber. Abrüstungskontrolle im eigenen Land, Anerkennung oder Nichtanerkennung des Ulbricht-Regimes, das sind Positionen, zwischen denen keine „Mitte“ denkbar ist. Zu diesen Lösungen wäre das Minimum von „Treu und Glauben' nötig, von dem wir eingangs sprachen. Jenes Minimum, das Molotow und Dulles 1955 aufbrachten, als sie dem österreichischen Staatsvertrag zustimmten, der für die Weltmächte das bisher letzte „Do ut des“ darstellte. Hier wird weder heute noch morgen ein Ergebnis zu erwarten sein. Wichtig ist es aber, daß der Zustand als ein abzuändernder anerkannt wird und daß beide Seiten darin übereinstimmen, ihn abändern zu wollen.

Nichts wäre gefährlicher, als die Illusion, daß man die Dinge, samt neuen atmosphärischen Atomversuchen, Berliner Mauer und anderem, einfach so lassen könne, weil sie sich mit der Zeit von selbst erledigen könnten. Die Basis von „Treu und Glauben“ wird hier eines Tages doch gefunden werden müssen, nicht als eine Offenbarung oder Bekehrung, sondern als Endergebnis • einer langen Reihe unscheinbarer kleiner Abmachungen, die in einen sinnvollen Zusammenhang kommen, wenn man sie auf den logischen Obersatz „Um keinen Preis den Krieg“ beziehen kann.

Der augenblicklich erreichte Zustand liegt genau in der Mitte zwischen dem heißen Krieg und dem echten, vertraglich gesicherten Frieden. Wir möchten ihn den „kalten Landfrieden“ nennen.

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